Wir sind Horatio

von Sascha Westphal

Krefeld, 7. Dezember 2018. "DIE LEICH IST EINES GROSSEN / GEBERS VON ALMOSEN". Erst die Pause zwischen ihnen, möglichst lang, eröffnet diesen beiden Versen aus dem ersten Bild von Heiner Müllers "Die Hamletmaschine“ den Horizont, den sie in äußerster Verknappung umreißen. Der Tote war ein Großer und damit zwangsläufig einer, der denen, die zu ihm aufgeschaut haben, nichts als Almosen gegeben hat. Doch mehr wollen diese am Ende gar nicht. Ihnen reicht es eigentlich schon, aus der Ferne am Leben eines Großen teilzuhaben, auch wenn er für sie auf immer unerreichbar sein wird. Genau das macht sich die Witwe des Großen, die Königin Gertrud, in Nava Zukermans Inszenierung zunutze. Das Saallicht ist noch an, die gedämpften Gespräche der Zuschauerinnen und Zuschauer noch nicht verstummt, da wendet sich die von Crescentia Dünßer verkörperte Königin an das Publikum. Sie verteilt Rotwein und spricht alle als ihre Gäste an. Eine Große gibt sich jovial und volksnah, gewährt einen Blick hinter die Kulissen ihrer Macht, die sie so festigt. Wer aufschaut, wird nicht Hand anlegen. So bleibt alles, wie es ist.

Erstaunlich zugänglich

2016 hat die israelische Theatermacherin Nava Zukerman am von ihr geleiteten Tmu-Na Theater in Tel Aviv Heiner Müllers Sekundärstück inszeniert und es dabei um Auszüge aus Shakespeares "Hamlet" und eigene Texte, die in der Arbeit mit ihrem Ensemble entstanden sind, erweitert. Müllers Prinzip der Aneignung und Überschreibung hat sie verdoppelt. Mit der erneuten Inszenierung der "Hamletmaschine" am Gemeinschaftstheater Krefeld-Mönchengladbach dreht sie diese Schraube noch einmal weiter. Auf der Basis ihrer Tel Aviver Stückfassung hat Nava Zukerman zusammen mit den deutschen Schauspielerinnen und Schauspielern eine Überschreibung der Überschreibung der Überschreibung geschaffen. Das klingt abstrakt, vielleicht sogar ein wenig verkopft, und erweist sich doch als erstaunlich zugänglich. Heiner Müllers in seiner Dichte und seinem Anspielungsreichtum schier unerschöpfliches Stück kommt einem im Zusammenspiel mit den Original-Passagen aus Shakespeares Tragödie und den auf unsere Alltagswelt verweisenden neuen Texten ganz nah.

Hamletmaschine 1 560 MatthiasStutte uBitte lächeln! © Matthias Stutte

Während Müller vor allem von sich und von der Rolle der Künstler wie der Intellektuellen in den repressiven Systemen des real existierenden Sozialismus’ sprach, redet Zukermans fünfköpfiges Ensemble ganz direkt mit den Zuschauern. Die einen, Crescentia Dünßers Gertrud und Michael Ophelders’ Claudius, wollen sie manipulieren. Sie verteilen Wein und Händedrücke, Brot und Tee, Bonbons und schließlich noch ein vegetarisches Reisgericht, um eine Illusion zu erschaffen. Die "Geber von Almosen" in Aktion. Währenddessen erinnern einen ihre Gegenspieler, Bruno Winzens wankelmütiger Hamlet, der ständig in Bewegung ist und doch nirgendwo ankommt, und Jannike Schuberts sich fortwährend verweigernde Ophelia, an die Unnahbarkeit der Großen. Ihre Dramen sind der Stoff, der begierig von der Gesellschaft aufgesaugt wird. Sie bieten sich dem Mitleid dar und bringen so ihre Almosen unter das Volk.

Vor diesem Hintergrund wird Horatio, der in der "Hamletmaschine" stumm bleibt, also nicht einmal auftreten muss, zum eigentlichen Zentrum der Inszenierung. Paul Steinbach antwortet auf Hamlets Frage "Willst du den Polonius spielen?" und behauptet so den Platz in Hamlets Trauerspiel, den der ihm in Müllers Stück abspricht. Steinbach spielt Horatio, der gerne Hamlet wäre und doch weiß, dass er immer Horatio bleiben wird, als Stellvertreter des Publikums. Er ist Empfänger von Almosen und Außenseiter, Aufklärer und Sand im Getriebe der Macht. Einmal erinnert er die Zuschauerinnen und Zuschauer explizit daran, dass seine Rolle auch ihre ist. Und wie er müssen auch sie sich nicht mit ihr zufrieden geben.

Oben und unten

Die Welt, die Nava Zukerman beschreibt, besteht aus verschiedenen Systemen, die eins verbindet: Sie alle basieren auf der Trennung von Oben und Unten, Gebern und Empfängern, Handelnden und Zuschauenden. Und eben diese Trennungen stellen die Regisseurin und ihr Ensemble wieder und wieder in Frage. Deswegen beziehen sie das Publikum ständig mit ein. Zudem wechselt man viermal im Laufe des Abends seinen Platz. Der erste, dritte und fünfte Teil der Inszenierung finden im Saal der Fabrik Heeder statt, der zweite und vierte im Foyer. Jeder Ortswechsel legt die Machtverhältnisse im Theater offen. Das Publikum muss den Anweisungen folgen, oder es schließt sich selbst aus. Wenn man sich dessen bewusst wird, sieht man auch die anderen Abhängigkeiten klarer.

Schon Müller lenkt den Blick von Hamlet auf den Hamletdarsteller, der schließlich verkündet: "Ich spiele nicht mehr mit." Diesen Reflexionsprozess vervielfacht Nava Zukerman. Ihr gesamtes Ensemble ringt mit den Rollen, die der Einzelnen/dem Einzelnen zugeschrieben werden. Sie spielen eine Zeit lang mit, um dann doch auszusteigen. Nur Jannike Schubert wehrt sich von Anfang an gegen das Klischee Ophelia, das Shakespeare geschaffen und Müller aufgebrochen hat. Auf die Frage, ob sie Shakespeares oder Müllers Ophelia spielen will, antwortet sie mit einem Song. So wie sie Marianne Faithfulls "She" a cappella vorträgt, wird er zu einem Schrei der Anklage und des Protests. Niemand muss mitspielen. Es gibt andere Wege jenseits der vorgegebenen Worte und Rollen. Und die offenbaren sich in Nava Zukermans choreographischem Theater, das sich immer wieder dem Tanz annähert, in der Sprache der Körper, die ihre Eigenständigkeit behaupten und damit aus der "Hamletmaschine" ausbrechen.

 

 

Die Hamletmaschine
von Heiner Müller mit Texten aus Shakespeares "Hamlet" und von Nava Zukerman
aus dem Englischen übertragen und eingerichtet von Isabelle Küster, unter Verwendung der Übersetzung von A.W. Schlegel
Regie: Nava Zukerman; Bühne: Ariel Tal Arbiv (Idee), Lydia Merkel (Realisation); Kostüme: Liron Minkin (Idee), Lydia Merkel (Realisation); Komposition: Eyal Shecter; Musikalische Leitung + Live-Musik: Serge Corteyn; Dramaturgie: Martin Vöhringer.
Mit: Crescentia Dünßer, Michael Ophelders, Bruno Winzen, Jannike Schubert, Paul Steinbach.
Premiere am 7. Dezember 2018
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

http://theater-kr-mg.de

 

Kritikenrundschau

"Es ist ein komplexer Abend mit Eindrücken von allen Seiten. Er beginnt auf scheinbar vertrautem Terrain, familiär und mit viel Shakespeare. Doch wenn die Maschinerie des Abends auf Touren komm, gewinnt immer mehr 'Hamletmaschine' an Fahrt", schreibt Petra Diederichs in der Rheinischen Post (10.12.2018). "Die schier unendliche Gedankenfülle, die Zukerman aus ihrer 30-jährigen Beschäftigung mit Müllers Text angehäuft hat, prasselt ohne Pausen auf die Zuschauer Das ist fordernd, unbequem, viel. Manchmal zu viel." Der Abend müsse einem nicht behagen, aber er sei unbedingt sehenswert.

"Nava Zukermann hat genau inszeniert, sprachlich und körperlich. So gelingen den Schauspielern präzise die Tonlagenwechsel zwischen Rollen- und vermeintlich privaten Texten, und ihre körperliche Präsenz wirkt in vielen wie choreographiert wirkenden Passagen packend, oft auch bedrängend", schreibt Klaus Matthias Schmidt in der Westdeutschen Zeitung (9.12.2018). "Viel Applaus bei der Premiere für diesen eindringlichen Abend, Zuckermanns inspirierte und inspirierende Inszenierung ist für das Programm des Theaters Krefeld Mönchengladbach ein Glücksfall."

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