Ein suizidaler Ziegenhirt

von Steffen Becker

Memmingen, 7. Dezember 2018. Als "Ein ganzes Leben" für die Hauptfigur Andreas Egger bereits dem Ende entgegengeht, verdingt sich der Alpenbewohner als Fremdenführer. Das Geschäft läuft gut in den 50ern und 60ern des vergangenen Jahrhunderts. Schon damals suchen viele Menschen in den Bergen, was sie glauben, verloren zu haben: Ruhe, das einfache, vorhersehbare Leben. Andreas Egger hat ein solches Leben scheinbar geführt. Aus seinem Dorf ist er fast nie herausgekommen. Robert Seethalers Roman kommt im Stil denn auch so daher, als sei er an einem plätschernden Gebirgsbach geschrieben worden. Dass die Bühnenfassung im idyllischen Allgäu, am Landestheater Schwaben, uraufgeführt wird, ist da nur konsequent. Hier wird einem der Hauptdarsteller zum Schlussapplaus statt Blumen eine Fleischwurst zugeworfen (über die er sich freut). Alles sehr urig.

Regisseurin Jana Milena Polasek inszeniert das Stück allerdings ohne jeden Heimatkitsch. Die Bühne von Peter Schickart ist so karg wie die beschriebene Landschaft: Ein Bergpanorama in schwarz/weiß, auf dem eine Figur ausradiert zu sein scheint. Sinnbild dafür, dass Menschen niemals im Einklang mit der Natur leben. Sie sind Fremdkörper – immer in der Gefahr, abgestoßen zu werden: Egger verliert seine Liebe Marie bei einem Lawinenunglück. Andererseits vergewaltigen sie die Natur: Egger verdient sein Geld beim Bau einer gigantischen Seilbahn, die den Fortschritt ins Tal bringt. Zu einschneidenden Ereignissen (Autor Seethaler hat u.a. ein Faible für originelle Todesarten) wird das Bühnenpanorama auseinandergerissen, verdreht und beiseite geschoben.

EinGanzesLeben 2 560 Forster uPanorama einer Existenz. Claudia Frost, Sandro Šutalo, Klaus Philipp © Forster

Das Leben in den Bergen ist alles andere als geerdet und übersichtlich. Die Inszenierung unterstreicht dies, indem sie die Rollen teilweise rotieren lässt – begleitet von ständigen Kostümwechseln (quer durch die Stilepochen der Eggerschen Lebensjahrzehnte). Das funktioniert, weil die Bühnenfassung nur wenige Passagen in Dialog umwandelt. "Ein ganzes Leben" wird vorwiegend berichtet. Die Leistung der Inszenierung besteht darin, die Charaktere auch in den erzählenden Schauspielern lebendig wirken zu lassen. Sandro Šutalo und David Lau verkörpern vor allem die Hauptfigur Andreas Egger. Der Text zeichnet ihn als Mann, der vom Leben wenig erwartet und es geschehen lässt. Šutalo zeigt ihn sill und liebenswürdig – besonders überzeugend im Werben um seine Frau. Unsicher, aber beherzt. Als großes, staunendes Kind, ohne ins naheliegende Hinterwäldler-Klischee zu fallen. Lau ist eher für die wenigen rebellischen "Jetzt reicht's"-Momente zuständig – etwa wenn sich der frische Witwer für die Musterung zum Weltkrieg entkleidet (und von der Wehrmacht zunächst abgelehnt wird). Claudia Frost überzeugt als patente, warmherzige Ehefrau. Klaus Philipp kommt passend unsympathisch rüber in den Rollen als prügelnder Ziehvater Eggers und Prokurist des Unternehmens, das ihn als jungen Mann ausbeutet.

Erholung von der Gegenwart

Gemeinsam grooven sie sich durch ein Stück, das die großen Themen Liebe und Sterben, Einsamkeit und Freundschaft betont lakonisch abhandelt. In dem ein Ziegenhirt der Hauptfigur freudig vom Buckel in den Tod springt und – so nebenbei eingeflochten – Jahrzehnte später als erster Bote des Klimawandels aus dem Gletscher wieder auftaucht. Ein Heimatstück, das die Sehnsucht nach Atemholen und Langsamkeit im Stil bedient und im Inhalt als historische Fiktion entlarvt. Ein bitter-süßer Sundowner nach einem stressigen Tag der Postmoderne. Leicht im Abgang, aber mit ein paar Inhaltsstoffen, die sich auch am nächsten Tag im Kopf noch bemerkbar machen.

 

Ein ganzes Leben
nach dem Roman von Robert Seethaler
Uraufführung
Inszenierung: Jana Milena Polasek; Bühne und Kostüm: Peter Schickart; Dramaturgie: Thomas Gipfel.
Mit: Claudia Frost , David Lau, Klaus Philipp, Sandro Šutalo.
Premiere am 7. Dezember 2018.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.landestheater-schwaben.de

mehr nachtkritiken