Tanz die Depression

von Jan Fischer

Göttingen, 7. Dezember 2018. Ein paar Klaviertöne begleiten das Publikum, als es, über die kleine Bühne des Deutschen Theater Göttingen hinweg, seine Plätze einnimmt. Außer dem Klavier, an dem Christina Jung eine leicht lustlose und traurige Melodie spielt, ist die Bühne karg ausgestattet. Die Gerippe dreier großer Kästen aus Metall stehen noch da, ein paar Stühle, und darauf, apathisch wie vergessene Möbelstücke, der Rest des Ensembles: Sebastian Gisl, Benjamin Kempf, Rebecca Klingenberg und Mirjam Sommer.

1 Stunde 12 Minuten Klarheit

"Ich will nicht sterben" lautet der erste Satz der Inszenierung von "4.48 Psychose", das in Göttingen in der Übersetzung des Autors Durs Grünbein gezeigt wird, und das ist ein Satz, mit dem es dann auch losgeht mit den dunklen Gedanken. Denn wenn man über Sarah Kanes Stück sprechen möchte, lässt es sich kaum vermeiden, auch über den Suizid der Autorin zu sprechen. Die Uraufführung ihres Textes erlebte sie nicht mehr. Manche Interpreten sprechen sogar davon, dass "Psychose 4.48" weniger ein Stück sei denn ein "Abschiedsbrief". Auch formal ist es kein herkömmlicher Theatertext, sondern ein stream of consciousness – über die eine Stunde und zwölf Minuten mitten in der Nacht, zwischen 4:48 und sechs Uhr früh, in der es für die Erzählerin oder Autorin so etwas wie Klarheit gibt.

Psychose 2 560 IsabelWinarsch uMelodien für Melancholische: Mirjam Sommer, Sebastian Gisi, Benjamin Kempf © Isabel Winarsch 

Der Text kennt dabei keine festen Rollenzuweisungen oder überhaupt Rollen. Die drei Darstellerinnen und zwei Darsteller in Göttingen müssen mit diesem Brocken arbeiten. Über die Inszenierung ändern sich Sprechhaltungen, werden Sätze geschrien, geflüstert, chorisch gesprochen, übereinander gelagert. Oder auch von Liedern wie Lady Gagas "Born this way" oder "You‘re speaking my language" von Juliette & The Licks begleitet, das Mirjam Sommer über eine Aufzählung der Nebenwirkungen von Psychopharmaka krakeelt, während das Playback dazu läuft. Gleichzeitig verschwimmen die Identitäten der Darstellerinnen und Darsteller ineinander, einmal durch den Text, in dem sie sich ständig ergänzen oder stören, dann aber auch dadurch, dass sie sich ständig aus- und anziehen, mal in viel Kleidung performen, mal in wenig, sie tauschen und am Ende auch mal ganz nackt sind.

In der düsteren Mine funkeln schwarze Diamanten

Valentí Rocamora i Torà, von Haus aus Tänzer, legt mit "4.48 Psychose" seine erste Regiearbeit vor und macht dabei aus der Vorlage, die eigentlich auf Psychisches gemünzt ist, auch eine stark körperliche Inszenierung. Oder besser: Er versucht den Textbrocken damit aufzuhacken. Zwischen den Textpassagen gibt es immer wieder kleine Choreographien, Nähe- und Distanzspiele, die sich langsam in der Lautstärke und in ihrer Intensität bis zur Gewalt steigern, aber auch – zu "Born this way" – eine Choreographie, deren Beginn vereinzelt auf dem Boden stattfindet und die sich zu einer musikvideoreifen Tanznummer mausert, nur um dann wieder auseinander zu fallen.

Sarah Kanes Text wie auch die gelungene Übersetzung von Durs Grünbein entfalten dabei eine große Wucht – wie eine Fahrt auf einer Lore ohne Bremsen durch eine unbeleuchtete Mine, in der Sätze als schwarze Diamanten funkeln. "Ich weiß jetzt, es gibt noch etwas Schwärzeres als das Begehren" ist so einer, "Ich bin hier das Thema dieser wirren Fragmente" ein anderer. Sicherlich setzt der Text sich zu einem großen Teil mit Kanes depressiven Schüben auseinander. Gleichzeitig ist er auch ein oder vielleicht das beste Beispiel für das, was der britische Theaterkritiker Aleks Sierz als "In-Yer-Face-Theater" bezeichnet hat, also Stücke junger britischer Dramatiker, die auf Vulgarität und Schock setzen.

Psychose 1 560 IsabelWinarsch uIn-Their-Face: Christina Jung, Benjamin Kempf, Mirjam Sommer, Sebastian Gisi © Isabel Winarsch

Das Genre ist zwar mittlerweile etwas angestaubt, aber ohne Kanes Suizid wäre "4.48 Psychose" ein solches Stück gewesen – die schonungslose Analyse einer Depression. Ihn als Abschiedsbrief zu lesen, ist jedenfalls zu kurz gedacht, denn wie in allen Texten Kanes findet sich mitten in dem Elend auch immer wieder die Hoffnung, dass alles besser werden könnte. Mitten in der Brutalität war die Autorin Kane immer auch auf der Suche nach Schönheit.

Performerschweiß, aber keine Grenzüberschreitungen

Rocamora i Torà versucht, diesem Zwiespalt des Textes mit seinen Tanzpassagen und dem stark choreographierten Bühnengeschehen Herr zu werden. Das ist manchmal sehr erfolgreich, die "Born this way"-Choreographie beispielsweise baut eine schöne Fallhöhe auf zum Text. Ausufernde tänzerische Gymnastikübungen wie am Ende, die so lange dauern, bis die Performer nicht mehr können, wirken eher wie Effekthascherei. Manches, etwa das durchchoreographierte Sitzen und Drehen auf einer der Boxen am Anfang, fällt zum dunklen Glänzen des Textes qualitativ stark ab.

Gleichzeitig ist die Inszenierung sehr brav geraten. Es gibt ein bisschen Nacktheit, ein bisschen angedeuteten (und angezogenen) Sex, die Metallboxen knallen auch mal überraschend auf den Boden, aber im großen und ganzen gibt es mehr Performerschweiß als Überraschungen oder Grenzüberschreitungen. Die müssen selbstverständlich nicht sein, hätten sich bei dem Stoff aber durchaus angeboten.

Dennoch ist die Inszenierung eine gelungene, die sich dem Text respektvoll, aber nicht ängstlich nähert und gleichzeitig versucht, ihm etwas hinzuzufügen. Das gelingt nicht an allen Stellen – aber an den meisten.

 

4.48 Psychose
von Sarah Kane, übersetzt von Durs Grünbein
Regie: Valentí Rocamora i Torà, Dramaturgie: Sonja Bachmann, Bühne: Dirk Becker, Musik: Jan-S. Beyer
Mit: Sebastian Gisl, Christina Jung, Benjamin Kempf, Rebecca Klingenberg, Mirjam Sommer
Premiere am 7. Dezember 2018
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.dt-goettingen.de

 

Kritikenrundschau

Eindrucksvoll gelinge es Valentí Rocamora i Torà, "Kanes Emotionen begreifbar zu machen und ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen", schreibt Max Brasch im Göttinger Tageblatt (15.12.2018). Aus der Zuschauerperspektive fühle sich das Stück an "wie einen Eimer kaltes Wasser ins Gesicht", so Brasch. "Es ist unangenehm, laut und schrill und doch bringt die großartige Darstellung dem Zuschauer die Leiden der Patientin und damit die von Sarah Kane näher." Abgerundet werde "4.48 Psychose" von "kurzen hervorragenden Tanz- und Gesangseinlagen der Schauspieler".

 

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