Stationengehumpel

von Gerhard Preußer

Castrop-Rauxel, 8. Dezember 2018. Mit Wanderberichten ist es wie mit Kochshows: Wer nicht kocht, sieht Kochshows. Wer nicht wandert, liest Wanderbücher oder lauscht Wanderhörbüchern beim Autofahren oder noch besser: sieht Wanderfilme im Kino, am besten: sieht die Bühnenversion des Wanderfilms des Wanderbuchs von einem, der gewandert ist. Das Theater steht am Ende der Verwertungskette der Unterhaltungsindustrie. Und den letzten beißen die Hunde.

Und da sind wir nun angekommen. Siebzehn Jahre nach der Wanderung eines Komikers auf dem Jakobsweg von Saint Jean-Pied-de-Port nach Santiago de Compostela kommt Hape Kerkelings Tagebuch "Ich bin dann mal weg" nun auf die Bühne. Sogar zweifach und gleichzeitig: Das Westfälische Landestheater (WLT) in Castrop-Rauxel und das Hessische Landestheater Marburg haben gleichzeitig jeweils eigene Bühnenfassungen uraufgeführt.

Auch wenn nach der Veröffentlichung des Buches die Zahl der deutschen Pilger um ein paar Tausende gestiegen ist, ist das nichts im Verhältnis zu den über vier Millionen verkauften Exemplaren in 36 Auflagen. Wanderbücher werden gekauft, vielleicht gelesen, nur wenige machen sich dann wirklich auf den Weg. Kerkeling war einer davon. Er pilgerte nach einem physischen Zusammenbruch wegen der Wanderbücher von Shirley Maclane und Paolo Coelho, die ihre Erweckungserlebnisse auf dem "Camino" hatten. Also hat er auch ein Buch über seine Bekehrung durch ausdauernde Beinarbeit geschrieben. Der Jakobsweg ist eben kein Wanderweg, sondern eine Pilgerreise. Irgendeine Gotteserfahrung ("Buddhist mit christlichem Überbau" nennt Kerkeling sich selbst) soll dabei herauskommen.

Ich bin dann mal weg 1 560 VolkerBeushausen uOn the road. Vorn: Mike Kühne, Burghard Braun, hinten: Emil Schwarz, Guido Thurk
© Volker Beushausen

Der Erfolg des Buches ist auch ein Beleg für die Konjunktur einer individualisierten Spiritualität. Die Religion verschwindet nicht, ändert sich nur, sie wird subjektiviert. Dazu wählt man sich aus dem Repertoire der religiösen Praktiken der Jahrhunderte, das uns zur Verfügung steht, die individuell passende aus, z.B. das Pilgern. Kerkeling beklagt den Mangel an Initiationsritualen in unserer "entspiritualisierten westlichen Welt" und preist den Jakobsweg als Ersatz an. Solches Erleuchtungspotential kann eine Theateraufführung, der dritte oder vierte Aufguss einer ziemlich flüchtigen Substanz, nicht haben.

Absolution als Scherz

Die Bühnenfassung des WLT, die Monika Reithofer zusammen mit Regisseur Urs Alexander Schleiff erarbeitet hat, ist im Vergleich zur Verfilmung von 2015 mehr Stationendrama, genauer: ein Stationenhumpeln mit abklingender Spannungskurve. Das Ziel ist schließlich nicht das Ziel, sondern der Weg, oder besser: das Dann-Mal-Weg-Sein. Die in Santiago de Compostela verheißene Vergebung der Sünden ist nur ein Schmunzeln wert.

Es wird nicht versucht, zusätzliche Emotionswerte zu generieren, indem Motive ausgebaut werden wie in der Verfilmung die Geschichte der Frau, die den Jakobsweg wieder wandert, nachdem ihre Tochter im Jahr zuvor den Weg abbrechen musste und kurz darauf gestorben ist. Solche Melodramatisierung ist der WLT-Textfassung fremd. Sie stellt treu jede nennenswerte Situation des Berichtes nach. Wenn es wenigstens Bewegung auf der Bühne gäbe, aber oft gibt es nur monologisierendes Auf-der-Stelle-treten.

Ich bin dann mal weg 3 560 VolkerBeushausen uAuf dem Weg zur Erleuchtung. Svenja Marija Topler und Mike Kühne © Volker Beushausen

Das WLT hat mit Mike Kühne einen Schauspieler, der dem jungen Kerkeling äußerlich durchaus nahekommt. Aber er bleibt immer treuherzig, zum Knuddeln, nie schrill und selten komisch. Die Behauptung "Mir ist Gott begegnet" hat in seinem Mund die gleiche Evidenz wie "Mir ist ein Schmetterling begegnet". Wenn Kerkeling Gott trifft, sehen wir nur schöne Bilder von einer spanischen Landschaft, die auch der Kerkeling-Darsteller verträumt anstarrt. Für etwas Leben sorgen Svenja Marija Topler als Anne und einige Clownsnummern im ersten Teil der Wanderschaft. Gelächter erntet das spießige Pilger-Ehepaar Schnabbel und Gerd (Vesta Buljevic und Burghard Braun), hier ins Schwäbische verfremdet, obwohl sie in Kerkelings Buch eigentlich aus dem Ruhrgebiet kommen, – man erkennt sich selbst. Brav wird jede Kerkelingsche Anekdote an die andere gereiht.

Pilgerreise durch Westfalen

Aber man muss ja loben. Man sieht die Aufführung eines Landestheaters, eines Theaters, das seine Inszenierungen auf vielen Spielstätten der Region zeigen muss. Eines der Theater, über die sich die Unternehmensberater und Theatergutachter immer so freuen, weil sie die besten Werte bei Mitarbeitereffizienz (Zuschauer pro Mitarbeiter), bei Ressourcenaufwand (Kosten pro Vorstellung), und Reichweite (Zuschauer pro Subventionsmillion) aufzuweisen haben. Das Ergebnis ist Stadthallentheater, kein Stadttheater.

Sieben halbtransparente Stellwände, eine grüne Kiste, das ist das transportable Bühnenbild (Ausstattung: Marlit Mosler). Großmutter Kerkeling, die ihrem Enkel in Spanien immer wieder erscheint und mit Lebensweisheiten ermahnt, erscheint als Videoprojektion. Das Spiel ist mit entsprechender Grobheit auf die mäßige Akustik und schlechte Sicht der Castrop-Rauxeler Stadthalle, in der das WLT seine Premieren feiert, abgestellt. Das wird sich auch im Kurhaus Hamm und in der Realschule Dorsten bewähren.

 

Ich bin dann mal weg
von Hape Kerkeling
Bühnenfassung von Monika Reithofer & Urs Alexander Schleiff
Inszenierung: Urs Alexander Schleiff, Ausstattung: Marlit Mos-ler, Dramaturgie: Christian Scholze, Videotechnik: Benjamin Chitralla.
Mit: Mike Kühne, Svenja Marija Topler, Xenia Wolfgramm, Guido Thurk, Burghard Braun, Emil Schwarz, Vesna Buljevic.
Premiere am 8. Dezember 2018
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.westfaelisches-landestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Humoristisch inszeniert und mit einigen typischen Ruhrpott-Schmunzlern versehen, nehmen sieben starke Darsteller das Publikum mit auf den Jakobsweg", schreibt Silja Fröhlich in den Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (11.12.2018). Der "echte Hape" stehe im Vordergrund. "Mit stichelndem Humor und Aufrichtigkeit erweckt Mike Kühne die Figur zum Leben, ohne sie zu kopieren." Die außergewöhnliche Darstellungsform des Stücks erlaube es den Zuschauern, in die Gedankenwelt des Mannes einzudringen, ohne die Geschichte aus den Augen zu verlieren. "Wer das Buch gelesen hat, wird einige Passagen schnell wiedererkennen. Besonders die prägenden Begegnungen, die in Hape Kerkelings Wandertagebuch erzählt werden, finden ihren Platz auf der Bühne." Fazit: Knackige Dialoge und Hapes innere Monologe erinnern den Zuschauen durch das ganze Stück hindurch daran, was es eigentlich ist: ein Tagebuch.

Kai-Uwe Brinkmann schreibt in den Ruhr-Nachrichten (11.12.2018): Vieles bleibe "Typenkomik, bemühter Sketch, krachledern, kindischer Slapstick". Die "rudimentäre Handlung" und das "Fehlen von Dramatik" ergäben kaum mehr als einen "flachen Schmunzel-Schwank".

 

 

Kommentare  
Ich bin dann mal weg, Castrop-Rauxel: Provinzkunst?
Was für eine Arroganz! Unfassbar. Vielleicht ist die Aufführung schlecht - kann ja sein. Aber diesem Theater den Verrat an der reinen Kunst und Vorstellungen in Stadthallen vorzuwerfen, entspricht in etwa der Haltung der Bahn, die den Zugverkehr Richtung provinzdeppen eingestellt hat.
Das ist exemplarisch für eine Verachtung, die zumindest auf Nachtkritik keinen Raum haben sollte. Bisschen Demut wünscht man diesem Kritiker. Bitte mal „Rückkehr nach Reims“ lesen.
Ich bin dann mal weg, Castrop-Rauxel: Demut
Ich wollte darauf aufmerksam machen (zugegeben, mit einer Portion Zynismus), dass die prekäre finanzielle Situation der Landestheater wie des WLT zu entsprechend prekären ästhetischen Ergebnissen führt. Dass die Theater in der Provinz mit großer Aufopferungsbereitschaft eine wichtige Aufgabe erfüllen, weiß ich nur zu gut. Ich sehe fast nur Theateraufführungen in der „Provinz“, wenn man die ehemaligen Provinzen Rheinland und Westfalen so nennen kann. Thomas Schmidt hat in seinem Buch „Theater, Krise und Reform“ einige Vorschläge zur Aufwertung der Landestheater gemacht, denen ich mich anschließe. Die „Rückkehr nach Reims“ steht sowieso auf meiner Leseliste.
Dass die Spielweise der Inszenierung zu den Spielstätten passt, meine ich ernst. Aber das ist eine ganz andere Kategorie von Theater als das in den Städten mit eigenem Ensemble und gesonderten Theatergebäuden. Das meinte ich mit „Stadthallentheater“. Der Unterschied wird auch jedem Theaterbesucher aus Castrop-Rauxel auffallen, wenn er nach Dortmund oder Düsseldorf ins Theater geht. Was ich in den Pausengesprächen hörte, war, dass auch die örtlichen Besucher die Aufführung „etwas flach“ fanden.
Demut war schon immer meine private Lieblingstugend und auch als Kritiker diene ich gerne dem Theater. Vor jedem Theatermacher oder Schauspieler habe ich Achtung. Aber ich diene auch dem Theater als gesellschaftlichem System. Und da ist meine Aufgabe die Wertung.
Ich bin dann mal weg, Castrop-Rauxel: Vermischung
Hier vermischen sich meiner Ansicht nach zwei Argumentationsstränge. Die konkrete Inszenierung von „Ich bin dann mal weg“ habe ich nicht gesehen und kann und will mir daher auch keine Wertung erlauben. Dass es Aufgabe der Theaterkritik ist, zu werten (und das von mir aus auch manchmal in „zynischer“ Überspitzung) ist selbstverständlich und natürlich legitim.

Im vorliegenden Fall daraus allerdings abzuleiten, dass prekäre finanzielle Situationen automatisch zu „prekären ästhetischen Ergebnissen“ führen, scheint mir aber in dieser Absolutheit eine unzulässig verkürzte Schlussfolgerung zu sein.

Richtig ist, dass die oftmals schwierige und unzulängliche bühnentechnische Ausstattung der sehr unterschiedlichen landestheatertypischen Spielstätten (hier ist von der Schulaula bis zur Vollbühne tatsächlich alles dabei) die Landestheaterproduktionen häufig vor große Herausforderungen bzgl. Bühnenbild, technischer Spezialeffekte etc. stellen. So kann man beispielsweise in der Regel nicht mit Bühnenzügen arbeiten, auch die Bühnenmaße stellen oft eine Einschränkung dar, die vorhandenen Beleuchtungsmöglichkeiten sind überschaubar und in seltenen Fällen darf auf der Bühne zum Beispiel kein offenes Feuer genutzt werden.

All das (plus die prekäre finanzielle Situation) führt in der Tat dazu, dass die Ausstattung von Landestheaterproduktionen oft nicht mit den Ausstattungsmöglichkeiten großer A-Häuser mithalten kann. Diese Kluft gibt es natürlich auch zwischen kleinen und großen Stadttheatern, nur ist sie bei den Landestheatern sicher häufig aus den beschriebenen Gründen noch ausgeprägter.

Diese unbestreitbare Tatsache hat allerdings nichts damit zu tun, dass Landestheater ihre „Spielweise“ den besonderen Einschränkungen der Spielstätten anpassen. Die „Spielweise“ im Sinne von Bildsprachen, Inszenierungskonzepten und natürlich der konkreten Spielweise der Schauspieler*innen ist nicht mit den bühnentechnischen Voraussetzungen der Spielstätten oder des jeweiligen Publikums in der sogenannten Provinz verknüpft.

Persönlich habe ich sowohl an kleinen und mittleren Stadttheatern, an Staatstheatern und nun auch an einem Landestheater gearbeitet und kann mit Überzeugung sagen, dass in dem Moment, in dem sich die Tür zur Landestheaterprobebühne schließt, mit derselben Ambition, mit demselben künstlerischen Mut, mit demselben ästhetischen Willen – ergo mit demselben Ziel einer nur der Produktion und dem Stoff verpflichteten künstlerischen Spielweise gearbeitet wird. Das Publikum in Hamm und Dorsten und anderswo weiß auch genau das zu schätzen und erwartet es auch völlig zu Recht von ihrem lokalen Theater.

Wenn dieses Publikum nun Inszenierungen in Köln und Düsseldorf sieht, wird es natürlich den Unterschied bemerken, wenn es in einer Inszenierung sitzt, in der Schauspieler*innen im Flugwerk im Schneesturm über der sich bewegenden Drehscheibe schweben und für die fünfte Szene das fünfte naturalistisch perfekt gebaute Bühnenbild über die Hubpodien heraufgefahren wird. Vielleicht sitzt es aber auch in einer Düsseldorfer Vorstellung, die sehr reduziert mit ein paar Stühlen und in einem weißen Kasten arbeitet. In beiden Fällen wird das „ästhetische Ergebnis“, die künstlerische Qualität der Spielweise aber hoffentlich nicht am Einsatz oder Nichteinsatz der Drehscheibe festgemacht.
Ich bin dann mal weg, Castrop-Rauxel: Stadthallentheater?
Noch einmal: Natürlich arbeiten Landestheater auch je nach Stoff und Inszenierung mit mal aufwändigeren mal weniger aufwändigen Bühnenbildern, sind generell in der Ausstattung eingeschränkter. Ein automatischer Rückschluss auf die künstlerische Qualität, die Etablierung der Kategorie „Stadthallentheater“ ist dadurch alleine aber nicht angebracht. Die vorliegende Kritik verstehe ich allerdings in erster Linie als inhaltliche und damit völlig legitime Kritik. Die zumindest irreführende Vermischung im letzten Absatz empfinde ich aber auch als unglückliche Verallgemeinerung, die der Arbeit aller Landestheater nicht gerecht wird.
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