Die nackte Angst vor der eigenen Existenz

von Grete Götze

Wiesbaden, 8. Dezember 2018. Das muss man sich erstmal trauen, Molières gerne auf Boulevardbühnen gespielte Komödie "Der eingebildete Kranke" von einer Pariser Wohnung in ein dunkles Loch zu verlegen. In Hessen kennt man das Stück aus dem siebzehnten Jahrhundert auch von lauen Sommerabenden im Höchster Bolongaropalast, in Mundart von Michael Quast vorgetragen. Auf der kleinen Bühne des Wiesbadener Staatstheaters dagegen schlurft der titelgebende Hypochonder Argan nun fast wie ein Obdachloser, gekrümmt und seine schmalen Schultern mit einem alten Schlafsack bedeckend, durch das einem Keller ähnelnde Bühnenbild, dessen einzige Hoffnung eine Treppe nach oben zu sein scheint. Kaum verständliche Laute murmelnd, kniet er sich schließlich über eine Öffnung in der Bühnenmitte und schreit "Ich muss kacken!" 

Die verzweifelte Anfangsstimmung, umhüllt von bedrohlicher Musik und leichtem Nebel, endet mit einem simplen Schenkelklopfer-Gag. Vielleicht eine Anspielung auf die Erwartungshaltung an diese Komödie. Aber zum Glück spielt Rainer Kühn den Argan – ein Schauspieler, der sich nicht davor scheut, wie ein magerer, gepeinigter, alter Mann mit angstverzerrtem Gesicht auszusehen – und verleiht der Figur eine entsetzliche Tiefe.

EingebildeteKranke 3 560 KarlMariaForster uErkennt die Zeichen! Rainer Kühn, Evelyn M. Faber © Karl und Monika Forster

Die Komödie über die verbitterte Hauptfigur, die sich mit eingebildeten Krankheiten nur um sich dreht und selbst die geliebte Tochter nur mit einem gänzlich unattraktiven Arztsohn verheiratet wissen möchte, um günstig an medizinische Beratung zu gelangen, gerät zum Kampf eines seelengequälten Mannes. Auch sein Umfeld scheint einem Horrorkabinett entsprungen, mit bleich geschminkten Gesichtern, die in ihrem bisherigen Leben kein Tageslicht gesehen haben. Lina Habicht gibt der eingesperrten Tochter, die nur den Geliebten und keinesfalls den Arztsohn heiraten will, mit Schleife im Haar und Gummistiefeln eine Aufrichtigkeit, wie nur ein Kind an der Schwelle zur Frau sie haben kann. Ihr Geliebter dafür spielt in schwarzen Strumpfhosen und Lackschuhen so übertrieben, wie man sich das Komödienspiel vor 300 Jahren vorstellt, das auch die letzte Zuschauerreihe erreichen soll. Völlig entrückt das Spiel von Sybille Weiser, die als geldgierige Ehefrau des Argan in roten Strapsen nur auf den Tod ihres scheinbar kranken Mannes wartet und sich währenddessen in überkandidelten Auftritten ergeht.

Ein Auge als Opfergabe

Regisseur Evgeny Titov, 1980 in Russland geboren und, nach seiner Zeit als Schauspieler dort, in Wien zum Regisseur ausgebildet, nimmt in seiner Inszenierung nicht das Lächerliche des Hypochonders in den Blick. Der Mann, dem gerade ein Ruf als vielversprechender Newcomer vorauseilt, überführt die Komödie in eine Groteske, erkennt in Argans Krankheit die Erbsünde des Menschen, der aus dem Paradies verstoßen an seiner eigenen Existenz leidet. Hierfür schafft er einige biblische Bilder: Argan rückwärts halbnackt auf der Treppe liegend, umgeben von den anderen, was an Christi Grablegung erinnert; Argan die erleuchtete Treppe hoch steigend; Argan wie vor seiner Auferstehung still da liegend. Am Ende zitiert er aus Nietzsches Text "Also sprach Zarathustra", von seinem "Überdruss an allem Dasein". Der Inszenierung zufolge ist auch der Vorschlag der Dienerin, sich einen Arm abnehmen und ein Auge ausstechen zu lassen, eine Anspielung auf das neue Testament, darauf, ein Selbstopfer zu begehen, um sein Leiden zu beenden. Diese und eine andere biblisch inspirierte Passagen erklingen aus einem Lautsprecher, als Zwiegespräch Argans mit einer höheren Macht, vielleicht auch mit sich selbst.

EingebildeteKranke 2 560 KarlMariaForster uIn existenziellen Nöten: Benjamin Krämer-Jenser, Lina Habicht, Rainer Kühn, Rouwen Huther, Evelyn M. Faber, Sybille Weiser © Karl und Monika Forster

Titov interessiert sich für diesen einen Punkt, einen neuen Blick auf das Leiden der Hauptfigur, und entwickelt aus diesem Gedanken seine Inszenierung. Einige Figuren, wie etwa Argans Tochter und Bruder, interessieren ihn nicht, sie kommen nicht vor. Das ist konsequent. Auch der Einsatz von Licht und Kostümen ist wohlüberlegt, keine Blickrichtung wird dem Zufall überlassen. Die beiden halsabschneiderischen Ärzte Diafoirus und sein Sohn Thomas tragen exakt das Gleiche, einen grünen Samtgehrock zur angeklebten Glatze. Dem Vater gelingt es in Gernot Hassknecht-artiger Manier bellend in wenigen Sekunden, die Verdorbenheit seiner Zunft zu zeigen, während Rouwen Huther, eigentlich Sänger am Haus, genauso schnell den jämmerlich von seinem Vater abhängigen Sohn gibt. Ein gruseliges Paar – der eine riesig, dick und hilflos, der andere klein und wütend – das scheinbar direkt von einem Jahrmarkt aus einer anderen Zeit kommt.

Diese Inszenierung ist so schräg wie ästhetisch ausgetüftelt. In knapp zwei pausenlosen Stunden können weder die Zuschauer noch die Insassen dieses Erdbodens ihrem Leiden am Dasein entfliehen.

 

Der eingebildete Kranke
von Molière
Regie: Evgeny Titov, Bühne: Duri Bischoff, Florian Schaaf, Kostüme: Eva Dessecker, Musiker: Moritz Wallmüller, Dramaturgie: Wolfgang Behrens.
Mit: Rainer Kühn, Evelyn M. Faber, Paul Simon, Lina Habicht, Sybille Weiser, Benjamin Krämer-Jenster, Rouwen Huther.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-wiesbaden.de

 

Kritikenrundschau

Den Namen Evgeny Titov solle man sich merken, schreibt Wolfgang M. Schmitt in der Rhein-Zeitung (9.12.2018). Stets einleuchtend gelinge es ihm aus der Komödie eine tiefgründige Komik herauszukristallisieren. Die mit Dramaturg Wolfgang Behrens geleistete Textexegese habe sich gelohnt und sei frei von philologischem Staub. "'Der eingebildete Kranke' ist noch einmal völlig neu zu erleben, da ist auch zu verschmerzen, dass im ersten Teil des 145-minütigen Abends das Timing und die Personenregie nicht immer ganz stimmig sind.“ Evgeny Titov verstehe sein Handwerk, das ermögliche ihm einen so anderen, klugen Zugriff, und es bewahre ihn zugleich vor mutwilligen Dekonstruktionen.

Titov setze "einen wuchtigen, furchterregend existenziellen Albtraum" gegen die Erwartung eines amüsanten Theaterabends, schreibt
Birgitta Lamparth im Wiesbadener Kurier (10.12.2018). "Titov nimmt Argans Befindlichkeiten ernst. Todernst." Rainer Kühn durchdringe seinen Argan mit der Verzweiflung und den Ängsten eines wirklich Leidenden – "auch an der Welt".

"So sehr es sich auf der einen Seite um eine Dramaturgenidee handelt (…), so theatralisch, so theaternah geht es auf der anderen Seite zu", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (27.12.2018): "Zu sehen und zu hören ist nämlich ein dunkleres, aber nicht mattes Echo traditioneller Moliére-Komödien."

 

Kommentare  
Der eingebildete Kranke, Wiesbaden: Thalheimer
Die Wuchtigkeit von Bühne und Licht erinnert irgendwie an Talheimer, aber man hat das Gefühl, das Titow ein breiteres Arsenal an Theatermitteln auffährt als Talheimer. Das ist jedenfalls für mich die wichtigste Moliere-Deutung seit Talheimers "Tartufe".
Der eingebildete Kranke, Wiesbaden: unlustig
Ja, tolle Bilder. Aber wissen die auch was sie tun? Einen so unlustigen Abend erwartet man nicht, wenn man den "Eingebildet Kranken" (wie es richtig heißen müßte, sehen will.
Der eingebildete Kranke, Wiesbaden: Erwartung
@Theaterfreund
Ich finde es einigermaßen ermüdend, wenn man immer wieder mit der Erwartungshaltung argumentiert. Kann man sich im Theater nicht auch mal überraschen lassen? Und so unlustig war der Abend gar nicht, bei der Premiere wurde viel gelacht. Bei dem großartigen Gesangssolo von Paul Simon zum Beispiel, oder bei der Ärzte-Szene. Es ist nur nicht die Art von Witz, die man schon 100mal gesehen hat. So what?
Der eingebildete Kranke, Wiesbaden: Details
@Theaterfreund
Meiner Meinung nach ist Evgeny Titov in seiner Inszenierung dem Geist des Mollieres so treu geblieben, dass die Inszenierung genau die komödiantischen Details behält, die sie braucht.
Der eingebildete Kranke, Wiesbaden: Thema verfehlt
Entschuldigen Sie, ich sehe das anders. Wenn ein Zuschauer eine Karte für das Musical-Theater erwirbt, dann wird er enttäuscht sein, auch wenn er eine gute "La Traviata" vorgesetzt bekommt. Man muß im Theater auch an sein Publikum denken. Das ist ein "eingebildet Kranker" der vielleicht am Residenztheater München oder an der Schaubühen Berlin gut aufgehoben wäre, aber in Wiesbaden erwartet ein Zuschauer zu Recht, daß er einen "eingebildet Kranken" bekommt, wenn er einen "eingebildet Kranken" bestellt. Das aber ist hier nicht der Fall. Also: Tolle Bilder ja, aber Thema verfehlt.
Der eingebildete Kranke, Wiesbaden: Service?
Wobei ich – bezogen auf den Theaterfreund – hier die Frage in den Raum werfen möchte, ob diese Art des Service-Gedankens bzw. die Gastronomie-Metapher dem Theater als Kunst gerecht wird. "[E]rwartet ein Zuschauer (sic!) zu Recht" klingt ein bisschen nach einer Amazon-Bestellung, bei welcher der falsche Artikel versandt wurde und wo jetzt das Verbraucher*innen-Recht in Anspruch genommen werden kann. Eine sinnfällige Voraussetzung für Kunst-Rezeption? Für mich persönlich sind mitunter die fruchtbarsten Gespräche nach meinen Inszenierungen mit Menschen, für die sich beim Anschauen ein Spannungsfeld zwischen dem Bekannten (möglicherweise das Stück, die Schauspieler*innen, etc.) und dem Unerwarteten (Zugriff zum Stück, Perspektive auf das Stück, etc.) aufgemacht hat. Woher kommt dieser Wunsch nach dem Service? Nach dem Erwartbaren? Warum am Theater? Das bietet der Film in seiner ewigen Widerholung doch viel angenehmer! Das Tolle am Theater ist doch u.a. die Leerstelle!
Letzte Frage: Was steckt hinter der Unterscheidung des Publikums in München/Berlin und Wiesbaden? Ist das nicht eine seltsame Vereinnahmung einer Masse, die man eigentlich nicht greifen kann? Bzw. der erste Schritt zum Othering? Und apropos Schaubühne:
Da fällt mir immer eine Episode vor Jahren bei einer kleinen Produktion an der Schaubühne ein. Es war eine Uraufführung (also keine Erwartungshaltung an den Text) und sie begann damit, dass die Schauspielerin das Publikum (kleine Spielstätte, ca. 80 Menschen) bat, sich von den Stühlen zu erheben und auf die Bühne zu kommen. Nach einer Weile blieb nur noch eine Familie sitzen (die Eltern "zwangen" die Kinder) und der Vater rief auf die letztmalige Bitte mit verschränkten Armen im Brustton der Überzeugung in den Saal: "Nein. Ich habe bezahlt und Sie arbeiten jetzt für mich!"
Der eingebildete Kranke, Wiesbaden: anmaßend
@Theaterfreund
Ob lustig oder nicht, es ist doch großartig, dass bei Titow mit den "tollen Bildern", die Sie ja auch gesehen haben, auch wirklich etwas erzählt wird. Deswegen empfinde ich Ihre Frage, ob die wissen, was sie tun, schon etwas anmaßend. Ich habe hier sogar sehr genau das Gefühl, dass da einer genau weiß, was er tut.
Der eingebildete Kranke, Wiesbaden: alles verfritscht
Ich war beim Theatertreffen und habe von Fritsch eine Produktion gesehen: Die spanische Fliege und danach habe ich immer wieder Inszenierungsfotos gesehen und habe den Eindruck, dass allerorts alle Komödien jetzt verfritscht aussehen. geht es nur mir so?
Der eingebildete Kranke, Wiesbaden: Irrtum
@Bussard Das sind Sie im Irrtum, zumindest was Titows Inszenierung betrifft, die ist nämlcih im Inhalt weit von Fritsch entfernt. Nicht hinter jeder blass geschminktem Gesicht steckt eine Fritschfigur.
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