Die schmerzfreie Gesellschaft - Das Kollektiv Les Mémoires d’Hélène blickt an der Roten Fabrik Zürich aus einer rundum sorglosen Zukunft auf unsere therapiebedürftige Gegenwart
Heimweh nach dem Traurigsein
von Valeria Heintges
Zürich, 11. Dezember 2018. Mit Motorradhelm und weißem Seidenanzug sieht Musiker Ambrosius Huber aus wie ein Astronaut. Auch die drei Schauspielerinnen – in Rot, in Gelb, in Blau – sind nicht von dieser Welt. Sie reden von der Vergangenheit. Weißt du noch – virtual reality? Weißt du noch – selbstfahrende Busse? Weißt du noch – exklusive Marsfahrten? Sie bewegen sich eckig, sprechen mechanisch wie Roboter, erstarren nach jeder Bewegung. "Ich hab' so ein Ziehen und Drücken in der Brust", sagt eine. Brustkrebs? Herzinfarkt? Nein. "Sehnsucht". "Willst du sagen, du hättest ein Gefühl?" Ungläubiges Staunen. Ja, sie hat ein Gefühl.
Zukunft ohne Gefühle
Das ist ein starkes Ding in einer Welt, in der Menschen nicht mehr sterben, Nanoroboter durch die Adern sausen und täglich Meldung machen, was sie gefunden und gleich repariert haben. "Wir leben so schon seit 200 Jahren." In dieser Zukunft sind Gefühle nicht mehr vorgesehen. Aber es gibt sie noch, in der Erinnerung. Und das macht aus der "Schmerzfreien Gesellschaft" der Truppe "Les Mémoires d'Hélène" um Martina Momo Kunz doch eine Performance, in der Schmerz eine große Rolle spielt. Sie haben alle noch Wunden. Rahel Sternberg erzählt eindrücklich von der Zeit, als sie sich als junges Mädchen den Arm ritzte, bis das dunkle Blut kam, von der Geburt der Tochter und den vier Stunden Presswehen, die sie durchlitt. Sie weint, bricht abrupt ab. "Ich werde jetzt mal in eine Bubble gehen."
Die Performerinnen: Rahel Sternberg, Maya Alban-Zapata, Martina Momo Kunz © Claudia Popovici
Die Zukunft hat vorgesorgt für traurige Momente. Die Bubble spielt jeder ihr Wunschkonzert ab, auf dass sie sich wieder gut fühlen möge. Ein Video zeigt Sternbergs permanent um sich selbst drehenden Oberkörper. Ihr Wunschtraum ist die Acht-Zimmer-Wohnung in der Zürcher Innenstadt, mit Party und Gästen wie Grace Jones, die auf Französisch mit wunderbar englischem Akzent La vie en rose singt.
Maya Alban-Zapata gibt diese Grace und viele andere Rollen. Auch sie hat ihren Schmerz, von dem sie erzählen soll. Sie will nicht, aber sie muss – von der "Rassismus-Keule" sprechen: Sie berichtet von der alten Frau im Berliner Bus, die "Negerfigürchen" sammelt. Noch einen, noch einen, grölen die beiden anderen. Also den Bericht vom Mann im Bus, der wissen will, ob ihre Hautfarbe abfärbt. Noch einen, noch einen. Also noch einen dritten. Dann erst darf sie sich in der Bubble erholen, mit ihrem Vater sprechen, den sie nicht kennengelernt hat, der ihr aber die Hautfarbe vermacht hat und ihr auf Französisch beteuert, an ihrer Seite zu sein und sie zu lieben. Die Bubble funktioniert. Es sei denn, die freundliche Computerstimme berichtet vom "Systemfehler". Dann kann man schreien, solange man will. Dann kommt die Bubble nicht.
Ambrosius Huber in Musikerkluft
© Claudia Popovici
Wenn ich gar zu glücklich wär'...
Das neue System will Fehler ausmerzen und hat doch selbst welche. Das schmerzvolle Verhältnis zur Mutter, die Schmerzen der rassistisch Beleidigten und der Schmerz des Verlusts, wenn ein geliebter Mensch stirbt, das alles gibt es nicht mehr. Ob das ein Gewinn wäre? "Die Schmerzfreie Gesellschaft" stellt es ernsthaft in Frage. Am Ende singen sie vierstimmig Wenn ich mir was wünschen dürfte. Inklusive: "Wenn ich gar zu glücklich wär', hätt' ich Heimweh nach dem Traurigsein." Schon Friedrich Hollaender wusste, dass das nicht so gut werden würde mit der computerisierten, aber gefühlsentleerten Zukunft.
Das alles geht rasant-wild-komisch, bewegend und in Windeseile über die Bühne des Zürcher Fabriktheaters. Ein paar Holzkästen, die auf farbige Markierungen geschoben werden (Ausstattung: Lea Lardrot), dazu mit Ambrosius Huber ein Musiker, der seinem Cello berückende Töne entlockt, der aber auch Trash spielt oder Liedchen wie "Kommt ein Vogel geflogen". Drei Schauspielerinnen, die von wildestem Overacting in LSD-retardiertes Zeitlupentheater wechseln, im nächsten Moment nah und direkt aus ihrer Biographie schöpfen und sich im übernächsten kräftig über sich selbst lustig machen: "Das ist hier ganz schlechte Psychotherapie!" Und: "Das isch so nöd echt!"
Der Abend strotzt vor Ideen, inklusive Videoschnipseln und Pseudo-Handyfilmchen. Da kippt eine Lobpreisung um in Stalking, wird ein Handyvideo gezeigt, in dem Kunz über Verlustängste spricht und in Tränen ausbricht. Wunderbar das Spiel mit den Realitäten, wenn Kunz als Chefin dem Techniker droht, er dürfe das Video nicht abspielen. Punktgenau der Einsatz der Sprachen, mit Hochdeutsch, Schweizerdeutsch-Dialekten und Brocken von Englisch, Französisch und Portugiesisch. Das sitzt, das hüpft zwischen Zeiten und Gefühlen, von Tränen zu banalster Komik und zum schnellen, synchronen Gefühls-Chor. Das Programmheft weist ihn als "Emoji-Chor" auf, die Assoziation muss sich erstmal einstellen. Aber klar: Das heulende Gesicht, dem Sturzbäche aus den Augen quellen. Das mit Fingern geformte Herzchen auf der Brust links, das Herzchen rechts. Später werden sie ihn noch mal geben, den Emoji-Chor. Mechanisch, ganz gefühllos. Da fehlt dann tatsächlich das Wichtigste.
Die schmerzfreie Gesellschaft
von Les Mémoires d'Hélène
Konzept: Martina Momo Kunz, Musik: Ambrosius Huber, Dramaturgie: Lena Trummer, Coach: Lena Lessing, Ausstattung/Lichtdesign: Lea Lardrot, Projektionen/Fotos: Claudia Popovici, Lichttechnik: Martin Wigger, Produktionsleitung: Thomas Péronnet.
Mit: Maya Alban-Zapata, Rahel Sternberg, Martina Momo Kunz.
Premiere am 11. Dezember 2018 in der Roten Fabrik Zürich
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
Die Produktion ist noch im Schlachthaus Theater Bern, Roxy Birsfelden, Theater am Gleis Winterthur, ThiK Baden zu sehen.
www.rotefabrik.ch | www.schlachthaus.ch | www.theater-roxy.ch | theater-am-gleis.ch | www.thik.ch
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