Narzissmus als Staatsform

von Georg Kasch

Berlin, 21. Dezember 2018. Da steht er nun, der alte, einsame Mann, allein in der riesigen kahlen Halle seiner Villa, und hat es mal wieder versaut. Er weiß selbst nicht so recht warum. Aber er leidet, leidet mit jeder Faser, mit jedem Seelenzipfel. "Hold me", jault Ulrich Matthes' Eduard mit hoher Stimme, "love me". Es ist zum Heulen.

Das ist schon deshalb so bemerkenswert, weil einen an dem, was da auf der Bühne passiert, ansonsten nur wenig berührt, ja angeht. Moritz Rinke hat sein neues Stück "Westend" genannt: Zwischen Schönheitschirurg Eduard und seiner Frau Charlotte, dem Arzt Michael und der Medizin-Studentin Lilly funkt es über Kreuz. Später kommen noch Lillys Vater Marek und dessen russisch-amerikanische Freundin Eleonora hinzu. Alle sind sie tragisch miteinander verstrickt, stürzen sich blindlings aufeinander, begehren aber nur die eigenen Projektionen.

Westend 2 560 ArnoDeclair uPaul Grill, Linn Reusse, Birgit Unterweger © Arno Declair

Damit diese Anziehungen und Abstoßungen, dieses Gequassel und Gefummel und In-Traumata-Gestochere im gehobenen Bildungsbürgertum nicht zu seifenopernd rüberkommt, hat Rinke die Konstellationen, Motive, Namen aus Goethes "Wahlverwandtschaften" entlehnt, jener großen Versuchsanordnung der Gefühle, die an der Unauflösbarkeit von Leidenschaft und Sittlichkeit zerschellt. Bei Rinke hingegen diskutieren lauter wohlstandsverwahrloste Menschen die Fragen der Zeit, ohne sich wirklich dafür zu interessieren, weil sie vor allem mit sich selbst beschäftigt sind. Statt der Wahlverwandtschaften reagieren die Triebkräfte, wie es einmal heißt. Oder um es mit Eduard zu sagen: "Der Narzissmus ist unsere Staatsform."

Gut möglich. Nur ist das als Realismus-Boulevard mit unbedingtem Heutigkeitsanspruch – ständig wird gesimst, getextet, gepostet – und leicht gestelzter Sprache entsetzlich öde. Kundus! Kindersärge! Dekadenz heißt hier: Grauburgunder und Oliven.

Auch der Raum ist eine Projektionsfläche

Bewundernswert, wie viel Leben die Schauspieler am Deutschen Theater dennoch in diese Figuren pumpen! Stephan Kimmig, Rinke- und Seelenexperte, konzentriert sich in seiner Uraufführungsinszenierung darauf, Menschen zu sehen, nicht nur Versuchsobjekte eines Experiments, garniert mit ordentlich Bildungsballast. Mit Musik leuchtet er ihr Inneres aus, erst mit Haydns "Schöpfung" (die Rinke als weiteres Motiv dient: die ersten Menschen! die Vertreibunga aus dem Paradies!), später mit Pop. Überhaupt der Rhythmus: Manchmal dehnt Kimmig Pausen, bis man sie kaum mehr aushält, als wolle er die innere Leere der Figuren zeigen. Manchmal aber verstreicht auch nur Zeit.

Westend 1 560 ArnoDeclair uUlrich Matthes, Anja Schneider © Arno Declair

Als Rahmen dafür hat Katja Haß einen ihrer großartigen Unorte gebaut, diesmal einen hellen Betonsaal, der aus den Fugen scheint, historische Räume zitiert, sich beim Feuerwerk plötzlich in einen Kriegsbunker verwandelt. Anja Schneiders Charlotte wirkt hier besonders unbehaust, muss ständig aufräumen, zieht sich immer wieder in sich selbst zurück, schüttelt ihr Haar, als könne sie so ihr altes Leben abstreifen.

Geht nicht. Erst recht, als Paul Grills Michael hinzukommt, der sein posttraumatisches Stresssyndrom vielleicht etwas sehr offensiv spazieren führt: Da stiert er dann aus aufgerissenen Augen, seine Unterarme flattern wild, sein Körper tigert im Sitzen. Auch bei Linn Reusses Lilly ahnt man ziemlich früh, dass sie noch eine Seelenlast mit sich herumschleppt.

Moderner Onkel Wanja

Mitunter ziehen sich die drei Stunden mühsam hin, auch wenn die Schauspieler überraschend viel aus dem Papier kitzeln, das beim Lesen noch trocken raschelte. Allen voran Ulrich Matthes. Sein Eduard ist bei Rinke ein ignoranter Scheißkerl, ein chauvinistischer Rechthaber mit behaupteter Unsicherheit. Auf der Bühne aber umweht ihn bald eine Trauer, eine Verletzlichkeit, die ungemein berührt. Wenn seine Stimme diesen sehnsüchtigen Klang bekommt, hat man plötzlich einen modernen Onkel Wanja vor Augen. Wenn er aber so richtig losätzt, dann schlagen auch die paar Aperçus plötzlich Funken.

Nur reichen die nicht, um die Konflikte zu schärfen oder wenigstens ordentlich zu entladen. "Ihr seid alle so leer und eitel" lässt sich auch in einem Satz sagen. Und um über diesen Umstand zu spotten, hat Yasmina Reza immer noch die besseren Pointen.

Westend
von Moritz Rinke
Uraufführung
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Anja Rabes, Musik: Michael Verhovec, Dramaturgie: Bernd Isele.
Mit: Ulrich Matthes, Anja Schneider, Linn Reusse, Paul Grill, Andreas Pietschmann, Birgit Unterweger.
Uraufführung am 21. Dezember 2018 im Deutschen Theater Berlin
Dauer: 3 Stunden 10 Minuten, eine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Das Be­zie­hungs­wirr­sal werde so be­deu­tungs­schwer auf­ge­la­den, "als müss­ten die Bes­ser­ver­die­nen­den aus der Äs­the­tik­bran­che für sämt­li­che Kri­sen west­li­cher Wohl­stands­re­gio­nen her­hal­ten, min­des­tens", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (27.12.2018). Als Ge­sell­schafts­dia­gno­se, als die Rin­ke "Westend" ver­stan­den wis­sen will, "zeich­net es sich durch ei­ne un­an­ge­neh­me Kom­bi­na­ti­on aus Lar­mo­yanz, Mi­lieu­au­tis­mus und ei­ner von Iro­nie­si­gna­len schlecht ka­schier­ten Selbst­ge­rech­tig­keit aus". Ste­phan Kim­mig inszeniere das "sehr breit, tem­po­los und mit ei­nem Hang da­zu, je­de noch so ba­na­le Ak­ti­on end­los aus­zu­spie­len". Es sind die Schau­spie­ler, al­len vor­an ei­ne bes­tens auf­ge­leg­te An­ja Schnei­der als Char­lot­te und Ul­rich Mat­thes als Edu­ard, die ver­su­chen müs­sen, den Abend zu ret­ten. Fazit: "So harm­los und zäh wie an die­sem Thea­ter­abend dürf­te sich das dro­hen­de En­de der west­li­chen Wohl­stands­wel­ten sel­ten in die Län­ge ge­zo­gen ha­ben."

"Nach einem langen verkicherten Anlauf" wurde es für Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (23.12.2018) "ein guter, auch ernster, die Seele aufrauender Theaterabend, was in erster Linie an den Schauspielern liegt, für die das Stück eine Zumutung ist und mit denen es steht und fällt". Ihre Spielweise beschreibt Seidler als "ausgestellt, kontrolliert, detailvergrößert, von einer gewissen künstlichen Verlegenheit, als hätten alle neue Brillen auf, mit denen sie nicht nur ein fremd aussehen, sondern einander auch genauer wahrnehmen". Spätestens wenn nach der Pause des dreistündigen Abends das dritte Paar des Abends auftaucht, falle die Kontrolle, "löst sich der Schutz der Drechseldialoge, kippt das die Figuren bis aufs Messer verteidigende Spiel in Wahrhaftigkeit, galoppieren die Attacken, reißen Wunden auf, wird umwerfend schön und schief getanzt und ausgesprochen, was nie zurückzunehmen ist. Dann tut es weh."

Rinkes "kluges, freilich auch viel riskierendes, weil mehr auf die Psychologie der Wechselreden als auf Handlung und äußere Dramatik setzendes Stück" bedürfe auf der Bühne "wohl einer Mischung aus nuancierender Behutsamkeit und entschiedenem Zugriff", schreibt Peter von Becker im Tagesspiegel (23.12.2018). Kimmigs Inszenierung schwanke da. "Zwischen Feinheit und Grobheit, Halbmut und Demut." Dieses "Westend" grenze mal an Botho Strauß, mal an Yasmina Reza. "Doch der Spagat zwischen pointiertem Boulevard und poetischer Tragik spreizt sich in der mit Pause fast dreistündigen Aufführung oft recht weit und breit."

"Westend" als Metapher für das Ende des westlichen Wohlstandslebens, das im Angesicht von globalen Krisen nicht fortführbar ist? "Neu ist das nicht, aber durchaus legitim, uns, dem westlichen Publikum, die eigenen Widersprüche vorzuhalten", argumentiert Barbara Behrendt im Deutschlandfunk (22.12.2018).  Das Stück lebe von der Identifikation. "Doch gerade die fällt schwer, wenn die Figuren beinahe unter dem Gewicht der Welt, die sie symbolisieren, zusammenbrechen." Vieles sei viel zu dick aufgetragen. "Trotzdem: Ulrich Matthes und Anja Schneider sind zwei sehr gute Argumente für diesen Abend."

"'Wir müssen aufpassen, dass wir hier nicht in die Klischeefalle rennen', heißt es an einer Stelle, doch genau das tut Rinke mit seinem Stück", findet Fabian Wallmeier im RBB (22.12.2018). Phasenweise mache es Spaß, den Schauspielern dabei zuzusehen, "wie sie dem größtenteils auf Gags geschriebenen Text ein paar interessante Nuancen abzuringen versuchen". Tiefe aber schimmere hinter den darstellerischen Leistungen nicht durch.

Spätestens nach der Pause gerate der Abend "völlig außer Form", schreibt Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.12.2018). "Wenn das Bühnengeschehen schon zuvor nicht so richtig in Fahrt kommen will, legt es jetzt nach der Pause eine regelrechte Bruchlandung hin." Das liege auch am Stück, "vor allem aber an der Regie, der so rein gar nichts einfallen will, um die Sache nicht nur verständlich, sondern auch bedeutsam zu machen".

 

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