Heilige des Lasters

von Sascha Westphal

Bochum, 22. Dezember 2018. "Die Fantasie ist der Stachel der Lust", verkündet der unersättliche Libertin Dolmancé. Sofort fügt seine Freundin, die nicht weniger wollüstige Witwe Madame de Saint-Ange, hinzu: "Die Fantasie ist der Feind der Norm." Aus diesen beiden Glaubenssätzen des Marquis de Sade erschafft Herbert Fritsch eine ganze Welt. Seine Bühnenadaption der 1795 von de Sade erstmals veröffentlichten "Philosophie im Boudoir" am Schauspielhaus Bochum illustriert diese beiden Lehren und fügt ihnen noch eine dritte hinzu: Die Fantasie ist der Raum, in dem der Mensch seinem Innersten gegenübertritt. "Der Stachel der Lust" wird zum Stachel des Denkens, "der Feind der Norm" ist zugleich der Feind der Lügen, die sich eine ganze Gesellschaft oder auch ein einzelner Mensch erzählt, um sich selbst in Sicherheit zu wiegen.

Madonna der Verderbten

Im Zentrum der kaum beleuchteten leeren Bühne, undurchsichtig wie das Schwarz, aus dem so vielen Schöpfungsmythen zufolge das Universum erwachsen ist, lässt sich ein Seil erahnen. Als es von unsichtbarer Hand nach oben gezogen wird, steigt eine Frau, deren Zopf an ihm befestigt ist, in einem weißen Kleid aus der Tiefe des Bühnenbodens auf und entschwindet langsam in Richtung Bühnenhimmel. Gut zwei Stunden später wird sie an dem gleichen Seil wieder herabschweben und erstmals mit den fünf Frauen und dem einen Mann vereint sein, die kurz nach ihr aus dem rechteckigen Loch im schwarzen spiegelnden Boden aufgestiegen sind – in einem roten Fahrstuhl-Quader. Angesichts des strahlenden Rots dieses Blocks, der sich im Lauf der Inszenierung mehrmals aus der Unterbühne erheben wird und wieder in ihr verschwindet, an die Hölle zu denken, liegt nahe und verbietet sich doch. Das wäre nur eine dieser Lügen, gegen die sich Herbert Fritsch mit de Sade wendet.

Boudoir1 560 BirgitHupfeld uFahrstuhl zum Schaffott? In die Hölle? Zur Lust? © Birgit Hupfeld

Denn die 26-jährige Madame de Saint-Ange, ihr Bruder, der Chevalier de Mirvel und ihr Vertrauter Dolmancé, die als "lasterhafte Lehrmeister" die 15-jährige Klosterschülerin Eugénie de Misitval in eine Welt der Ausschweifungen und Grausamkeiten, der Lüste und der Verbrechen einführen, sind keine Geschöpfe der Hölle. Ebenso wie ihre Opfer sind auch sie Ausgeburten der Fantasien, Manifestationen des kollektiven wie des individuellen Unterbewussten. Victoria Behr hat diesen göttlichen Wesen des "göttlichen Marquis" entsprechende Kleider auf den Leib geschneidert, in denen sich Elemente der Fetischmode wie extrem hohe Schnürstiefel mit aus dem Kirchlichen entlehnten Accessoires harmonisch verbinden. So erinnern die Hauben, die Jele Brückner und Anne Rietmeijer tragen, an Nonnen, während Ulvi Tekes Kleidung das Ornat eines Weihbischofs zitiert. In einer Szene, in der sie praktisch über den Boden zu schweben scheint, trägt Jing Xiang gar eine Art Monstranz auf dem Kopf und wirkt damit wie eine Heilige des Lasters, eine Madonna des Verderbten.

Ausschweifungen im Märchenton

Dennoch hat Herbert Fritschs Inszenierung anders als noch de Sades Texte, die auch lustvolle Kriegserklärungen an den katholischen Klerus waren, nichts Blasphemisches an sich. Die bizarren Kostüme betonen die rituellen Charakter von de Sades Schriften ebenso wie jene Szenen, die mit kirchlicher Symbolik spielen. Etwa die, in der sich Anna Drexler in eine wahrhaft messianische Figur verwandelt, als sie Teile aus dem revolutionären Manifest "Franzosen, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt" (aus "Philosophie im Boudoir") verkündet.

Boudoir3 560 BirgitHupfeld u Madonna der Verderbten: Jing Xiang (Mitte) mit einer Art Monstranz auf dem Kopf © BirgitHupfeld

Fritsch verbannt so von Anfang an jeglichen Realismus aus seiner Annäherung an die Gedankenwelten des Marquis’. Dessen akribische Schilderungen sexueller Handlungen und Stellungen sind ja selbst keineswegs realistisch. Auf die ständigen Wiederholungen und endlosen Variationen des Immergleichen reagieren Fritsch und sein Ensemble mit ausgelassener Spielfreude. Wenn Jele Brückner, Anna Drexler und Svetlana Belesova Passagen aus de Sades "Die neue Justine", die Fritsch und sein Dramaturg Vasco Boenisch in ihre Bearbeitung der "Philosophie" eingefügt haben, im Märchenton vortragen, scheinen sie sich regelrecht an den geschilderten Ausschweifungen zu berauschen. Während Anna Drexler und Svetlana Belesova körperlich fast außer sich geraten, spiegelt Jele Brückner die Ekstasen der Juliette im Spiel ihrer Augen.

Jede*r kann alles sein

Doch der Effekt ist derselbe. In allen drei Szenen begegnet man Menschen, die so tief in ihre dunkelsten Fantasien eintauchen, das sie plötzlich sich selbst erkennen und darüber ganz aus der Fassung geraten.

Boudoir5 560 BirgitHupfeld uAus der Fassung geratene Köpfe: Svetlana Belesova, Anne Rietmeijer, Jele Brückner, Jing Xiang, Ulvi Teke, Anna Drexler © Birgit Hupfeld

In dem schwarzen Reich der Lüste wie der Philosophie, des Egoismus wie der Politik, das Herbert Fritsch aus dem Schwarz der Bühne erschafft, gibt es keinerlei Abgrenzungen mehr. Svetlana Belesova, Jele Brückner, Anna Drexler, Anne Rietmeijer, Ulvi Teke und Jing Xiang wechseln ständig die Rollen. Mal sind sie Verführer mal Verführte, mal Verbrecher mal Opfer, mal Mann, mal Frau. Die Übergänge sind fließend und doch immer genau zu erkennen. In seiner Fantasie kann jede*r alles sein. Dabei sind noch die extremsten Grausamkeiten Teil eines befreienden Gedankenspiels, das alle Lügen des Anstands wie der Zivilisation entlarvt.

 

Die Philosophie im Boudoir
von Marquis de Sade
in der deutschen Übersetzung von Rolf Busch
Regie, Bühne: Herbert Fritsch; Kostüme: Victoria Behr; Musikalische Konzeption und Arrangement: Otto Beatus; Lichtdesign: Bernd Felder; Dramaturgie: Vasco Boenisch.
Mit: Svetlana Belesova, Jele Brückner, Anna Drexler, Anne Rietmeijer, Ulvi Teke, Jing Xiang, Julia Myllykangas, Otto Beatus.
Premiere am 22. Dezember 2018 im Schauspielhaus Bochum
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

"Hoch virtuos gemacht, ein Theater maximaler Künstlichkeit, in dem die maskenhaft geschminkten Darsteller mit höchstem Körpereinsatz agieren", schreibt Regine Müller im Tagesspiegel (27.12.2018). Obwohl der Abend eine gute halbe Stunde zu lang sei, weil Tempo und Perversionen irgendwann nicht mehr zu steigern sind, "gelingt Fritsch eine fulminante de Sade-Revue, eine schwarze Messe der Gedankenfreiheit, die sich in einen schwerelosen Applaus-Tanz auflöst".

Fritsch lasse Text und Darstellung asynchron laufen und "findet eine wunderbare Lösung, das unspielbare Werk zum Bühnenereignis zu machen", so Ralf Stiftel im Westfälischen Anzeiger (27.12.2018). Der Regisseur mache den Text zugänglich über das Erschrecken hinaus. "Man erkennt die geradezu kindliche Angeberei in den Stellen, wo Sade seine Figuren ihre unbegrenzte Lust und Potenz behaupten lässt. Man bemerkt die kalte Künstlichkeit in den Stellungsarrangements von Dolmancé, eigentlich der perfekte Lusttöter. Und das 'Ficken' wird unbeteiligt in den Raum gesprochen." Dieser Kontrast zwischen deklamierten Abscheulichkeiten und absurder Putzigkeit reichere Sades Erzählung an und "ist hoch unterhaltsam".

Von einem "denkwürdigen Abend inklusive eines schwer an den Nerven zerrenden Stücks, sechs famoser Schauspieler und eines am Ende mächtig über die Bühne irrlichternden Regisseurs" spricht Sven Westernströer in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (23.12.2019). Der Abend begegne "all den eklatanten Ausschweifungen im Text" mit größtmöglicher Künstlichkeit. So wirkt die Inszenierung auf den Kritiker "beinahe keusch, weder Busen noch Pobacke blitzen unter den riesigen Kostümen (von Victoria Behr) hervor, die an kirchliche Ornate ebenso erinnern wie an Lack und Leder." Trotzdem seien die Zuschauer "gleich scharenweise und Türen knallend aus der Vorstellung" geflüchtet,  was, so der Kritiker "ja durchaus eine legitime Form des Protestes ist."

"Diese Inszenierung schwankt nur so sehr von einem todlustigen Extrem ins abgrundtief Seelenlose, dass sie mitunter das Gleichgewicht verliert," so Christiane Enkeler in der Sendung "Fazit" vom Deutschlandfunk Kultur (22.12.2018). Zwar zeichnet den Abend aus ihrer Sicht ein "unglaublicher Ideenreichtum" aus. "Das Ensemble ist präsent, schneidet Grimassen, zeigt Körpereinsatz und insgesamt eine großartige Leistung, nimmt den Text Wort für Wort auseinander und bringt ihn sorgsam auf die Bühne." Aber es ist zu viel, findet die Kritikerin, "zu viel Zungenstrecken und Körperverrenken, zu viel Sexgelaber". "Grauen, Abgrund und Langeweile lassen Teile des Publikums das Weite suchen – fatal für die Dunkelheit des Raumes, die so ständig gestört wird, und ein Schlag ins Gesicht für Ensemble und Konzept."

Die "provozierend offenen, fiktionalen Anleitungen zu Formen der Lust und der Gewalt" von de Sade seien "tabufrei, auch offen frauenverachtend", schreibt Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung (28.12.2018). Dem versuche Fritsch mit Ironie und Übertreibung zu begegnen. "Dennoch reproduziert die reflektierte Uraufführung letztlich eine männlich-pornografische Perspektive." Die Inszenierung besteche durch ihre hohe, immer auch pervertierte Ästhetik, "das Ensemble spielt brillant, mit Witz und am Anschlag", so Fiedler. "Dennoch wirkt die Perfektion monoton und die Inhalte beginnen zu rauschen."

 

Kommentare  
Philosophie im Boudoir, Bochum: seelenlos
Die wohlwollenden Worte lese ich wohl... allein alle Bemühungen, diesem Text Leben einzuhauchen, ihn zu kürzen, das Engagement und Können der Schauspieler/innen, das Bühnenbild, die Kostüme, alles Bemühen nutzte nichts. Eine seelenlose, kalte und sterbenslangweilige Kunstübung.
Philosophie im Boudoir, Bochum: Sorge
Was für ein Blödsinn. Wir waren nicht nur im Theater, weil wir unser Abo aufbrauchen müssen. Es bestand durchaus ein Interesse am Stück, sofern man sich denn auf der Homepage bis zum Stück vorgearbeitet hat. So langsam frage ich mich aber, warum wir das fast 14 Jahre alte Abo überhaupt verlängert haben: dieser Marquis de Sade Abend war zum Einen völlig geschmacklos, übertrieben und vorhersehbar und damit zweitens sterbenslangweilig. Was sollen diese Inszenierungen? Man könnte fast meinen, Simons Vorgänger hätten übelstes und angepasstes Theater gemacht, sodass man jetzt wen wie Simons braucht, der diese Angepasstkeit in Zadek'scher Manier zerschlägt, um das Theater in Bochum neu aufzustellen.Nur was soll sich hier bitte nun ändern? Keine Inszenierung in Bochum konnte (natürlich bis auf den (...) Kritiker der heimischen WAZ) bisher überzeugen. Alles war entweder übertrieben oder schlicht schlecht inszeniert, bzw. ultraschlecht gespielt. Anselm Weber hatte für jeden etwas dabei: von ziemlich kopflastig über modernes Tanztheater bis leicht und locker. Damit macht man das Haus voll, spielt Geld ein, welches man eben für ein gutes und anspruchsvolles Programm benötigt. Und jetzt? Ich prophezeie dem Schauspielhaus stürmische Zeiten. Macht Simons so weiter, werden die Leute sich abwenden. In kürzester Zeit erreicht man Alternativen für einen kulturellen Abend in den Nachbarstädten. Die Stadt Bochum, namentlich Michael Townshend, hat sich mit Johan Simons ein Theaterfossil ins Haus geholt. Seine Inszenierungen atmen lediglich den Geist der 70er Jahre, die sind jedoch schon lange vorbei. Seine Vorgänger hatten haufenweise Klassiker im Programm, die mal mehr oder sicher auch mal weniger gelungen in die Moderne übertragen wurden, inkl. aktueller Diskussionen und klaren Positionen. Das was Simons bietet ist Kunst um der Kunst willen. Daran gingen nebenbei schon mehrere Theater in NRW zu Grunde. Kann das das Ziel sein? Wie blind muss man sein, um das nicht zu sehen. Erbärmlich, unwürdig, peinlich und langweilig. Damit beschreibt man die Intendanz am besten. Und wer wissen will, wofür der neue Intendant steht, der werfe einen Blick auf die Homepage des Schauspielhauses. Unübersichtlich, billig, undurchdringbar, uninformativ, kurz: schlecht. Einfach nur schlecht. Man kann nur hoffen, dass auch dieser Mann noch vor dem Ablauf seines Vertrages das Weite sucht. Zur Not sollte das Publikum ihn vom Hof jagen. Das klappt ja woanders auch. Ich sorge mich um "mein" geliebtes Schauspielhaus, was nicht umsonst auch unter Weber, Hartmann, Hausmann und selbst unter Goerden zu den besten der Republik zählt(e).
Philosophie im Boudoir, Bochum: nur Peymann
Da hat aber einer seinen Zorn auf das Haus herausgelassen. Wenn das Haus unter Goerden zu den besten der Republik zählte, verstehe ich die Welt nicht mehr. Nur unter Peymann zählte es zur Spitzenklasse.
Philosophie im Boudoir: nicht theaterliebend
@Theaterliebhaber
Ich kann Ihrem Namen gar keinen Glauben schenken. Aus Ihrem Kommentar spricht keine Theaterliebe. Sondern eine umsichgreifende Haltung, dass man ein Recht darauf hat , dass einem Theater gefällt. Und das Unverständnis darüber, dass die meisten Arbeiten am Theater nichts werden. Es war ein Versuch- und diesem nun jegliche Berechtigung und jegliches Können abzusprechen, finde ich nicht theaterliebend. Zu diesem Abend finde ich die Kritik von Christiane Enkeler für Deutschlankfunk Kultur sehr passend.
Es macht mich traurig, dass nach nicht mal zweimonatiger Intendanz Künstler vom Hof gejagt werden sollen, es keine Geduld mehr gibt, den Dingen beim Wachsen zuzusehen. Es nicht doch schätzen zu können, dass einen diese Form von Kunst auch mal so richtig wütend machen kann. Es ist Theater. Und kein Anrecht auf gute Gefühle. Aber auch.
Philosophie im Boudoir, Bochum: fassungslos
@ Theaterliebhaber
Ich stimme Ihren Ausführungen voll und ganz zu! Seit 1975, ich war 16, habe ich ununterbrochen ein Wahlabo für MEIN Schauspielhaus. In den vergangenen 43 Jahren gab es auch viele Höhen und Tiefen, immer mal wieder Fehlgriffe bei meiner Auswahl des nächsten Theaterstückes. Heute sitze ich fassungslos vor dem Programmheft und weiß nicht, wie ich die verbleibenden 7 Gutscheine bis zum Sommer einsetzen soll. Zum ersten Mal mache ich mir ernsthaft Gedanken, ob ein 44 Abo folgen sollte! Ich bin sehr traurig....
Philosophie im Boudoir, Bochum: Rat
An den fassungslosen Langzeitbetrachter:
Das ist natürlich eine Schande! Mir juckt es in den Fingern, Ihnen einfach aus meiner Tasche das Geld für ihr nun nutzloses Abo zukommenzulassen, dass diese Sorge Sie nicht weiter plagen sollen.
Immerhin hätten Sie dann den Kopf frei, für die wirklich wichtigen Sachen, über die man sich den Kopf machen sollte: ob Sahne zum Kuchen oder doch lieber nicht. Aber solange sie Kuchen und Sahne haben, rate ich Ihnen: na klar! Beides. Andere haben nix - warum sollten Asien dann verzichten.

Der Kopp ist zu ....
Philosophie im Boudoir, Bochum: goldene Regeln
@Ränder
Ich bin sehr froh, dass endlich mal jemand Sorge um mein Wohlergehen und mein Portemonnaie!! trägt. Und das mithilfe einer sehr objektiven Kritik! Schön, dass Sie sich dabei an die goldene Regel der guten Kritikführung halten und nur meine (persönliche) Meinung kritisieren, nicht aber meine Person diffamieren. Vielen Dank!
Was das Ganze aber mit Kuchen, Sahne und Asien!? zu tun hat, verstehe ich einfach gestrickte Person leider nicht.....
Philosophie im Boudoir, Bochum: Flinte halten
Ich bin entsetzt über einzelne Reaktionen auf eine Inszenierung, die nicht gefallen hat. Was erwartet denn der halbwegs gebildete Theatergänger, wenn er den Namen de Sade und Fritsch hört/liest? Es ist doch völlig klar und nachvollziehbar, dass hier kein vorweihnachtliches Familienstück auf die Bühne kommt. Wenn ich ahne, auf den zu erwartenden Inhalt und die zu erwartende Form übersensibel zu reagieren, gehe ich doch gar nicht hin bzw. warte die ersten Kritiken ab. Langzeitbetrachter war noch zu jung, 1972 den "Sado-Porno-Nazi-Strip" "Ich war Hitlers Dienstmädchen" im Theater Unten zu sehen, hat aber sicherlich 1997 "Rimbaud in Eisenhüttenstadt" mit Herbert Fritsch als de Sade (!) gesehen. Theater lebt von der Vielfalt. Es ist im Augenblick in Bochum spannend, neue Formate zu erleben. Dabei gibt es positive Überraschungen (z.B."Hamiltonkomplex"), aber auch Arbeiten, mit denen man sich nicht (sofort) anfreunden kann. Wie langweilig wäre Theater, wenn man zu allem nur Ja und Amen sagen könnte. Lieber Langzeitbetrachter, mit Simons Inszenierungen von "Unterwerfung" und "Plattform" kommen ganz sicher andere Akzente in den Spielplan. Halten wir´s mit Eugen Roth:
Ein Mensch in seinem ersten Zorn
wirft oft die Flinte in das Korn.
Wenn dann der erste Zorn verfliegt,
die Flinte wo im Korne liegt.
Der Mensch bedarf dann mancher Finte
zu kriegen eine neue Flinte.
Philosophie im Boudoir, Bochum: "Alle Jahre wieder"
Ach lieber Nochlängerbetrachter, wenn’s ja nur das de Sade Stück wäre. Kein Wort hätte ich verloren. Auch das diesjährige Familienstück “Alle Jahre wieder“ spielt völlig an der Adressatengruppe vorbei. Sehen Sie sich das doch mal mit einer Grundschulklasse an! Wir werden in den nächsten Monaten sehen, ob diese Art der Inszenierungen im „Pott“ ankommen werden.
Philosophie im Boudoir, Bochum: MEIN Theater?
@LZB:
Kuchen, Sahne und dergleichen hat genauso wenig damit zu tun, wie Ihre Aussage, es wäre IHR Theater, berechtigt ist.
Wahrscheinlich einer der Zuschauer, der glaubt, mit Geld die Schauspieler*innen gekauft zu haben.
Philosophie im Boudoir, Bochum: weder noch
Lieber Nochlängerbetrachter,
"Rimbaud in Eisenhüttenstadt" hatte damals weder mit Herbert Fritsch, noch mit de Sade auch nur irgend etwas zu tun.Die Inszenierung von Jürgen Kruse allerdings, war durchaus auch nicht für jeden Geschmack geeignet. Aber schön war's trotzdem.
Philosophie im Boudoir, Bochum: Verwechslung
Da ist bei mir etwas durcheinandergeraten: Herbert Fritsch spielte in der Spielzeit 1996/97 wirklich den Marquis de Sade, und zwar in einem gleichnamigen Stück von Charles Méré, nicht in Marbers "Rimbaud in Eisenhüttenstadt".Beide Inszenierungen haben polarisiert. Sorry!
Philosophie im Boudoir, Bochum: Ablehnung reizt
Ich habe bisher nur den Hamiltonkomplex gesehen, und alleine für dieses Stück bin ich schon der neuen Intendanz dankbar. Fritsch habe ich schon vor 10 Jahren in der Volksbühne gesehen und fand es lustig in seiner Ironie und Körperlichkeit. Einen zweiten Abend in Bremen dann schon eher bisserl fad. Den De Sade Abend werde ich mir trotzdem anschauen, mich reizt jetzt schon die ganze Ablehung daran...
Philosophie im Boudoir, Bochum: Frage
Da heben 2018 ein paar wenige Schauspielerinnen und Dramaturginnen ganz schüchtern den Finger und fragen ganz leise, ob neben Hollywood vielleicht auch das deutschsprachige Theater so ein klitzekleines Sexismus-Problem haben könnte, also nur vielleicht natürlich... Und das reicht schon aus, dass das Theater direkt mit de Sade zurückschlägt. Was wohl passiert, wenn Frauen anfangen, Forderungen zu stellen?
Philosophie im Boudoir, Bochum: von de Sade lernen
De Sade lässt sich ja ohne die Berücksichtigung der Verquickung seiner bestehenden sexuellen Präferenzen mit der religiös verbrämten und begründenden Strafmoral überhaupt gar nicht sinnvoll denken. Ohne diese Berücksichtigung lässt er sich lediglich sexuell devinatorisch denken. Das ist ein Denken, das die Perversion(en) perpetuiert dadurch, dass es sie aus dem gesellschaftspolitischen Zusammenhang herauslöst.
Die Philosophie aus dem Boudoir ist – wie der Name bereits sagt – de Sades philosophisches Buch. Er z e i g t darin die moralische Verkommenheit, weil totalitäre Beschränktheit auf das Sexuelle, durch die im Staat und in der Gesellschaft Macht-Ausübenden/-Habenden. Er führt darin also die Geistlosigkeit und den Totalitarismus einer herrschenden Klasse vor, die ihn persönlich durch Ausschluss bestraft. Weil er zur eigenen Lust an Vertrauen in die Liebe als Emotion, zur Lust an eigener Machtausübung und zur für ihn und die Frauen, die er liebte, unlustigen Lust an Qual und Selbstqual aus religionsrevisionistischen, emotionalen Gründen, steht. (wenn „er“ denn stehen konnte, was zur Voraussetzung hatte, dass die angewandte Qual für ihn groß genug und die religiöse Verquickung dabei stets wahrnehmbar war…) De Sade nutzt dafür die „Regieanweisungen“ des Gesprächs-Textes und die Bestimmung der Gesprächsinhalte.
In den anderen Büchern beschreibt er mit unerbittlicher Analyse vor allem seine eigene Perversions-Grundlage und wozu sie führte,wenn er persönlich Macht ausübte… – Nämlich auch bis in den Tod von Frauen z.B. In den "120 Tage..." hat er b e i d e schriftstellerischen Strategien zusammengeführt und sich als Erzählender von Erzählerinnen als Herrscher über deren Ästhetik inszeniert.
Er hat damit die ErzählerIN zum Vehikel der männlichen Ästhetik gemacht und damit die Liebe als Erzählung wirksam bis auf den heutigen Tag durch seine angewandte und bis ins Wort abstrahierte Machtanwendung pervertiert. De Sade hat uns eine herrschende Klasse (den Adel und seine Doctores: Schatzmeister, Prediger, Lehrer, Arzt und Apotheker) gezeigt, die bei der Bildung einer abstrahierbaren Ich-Struktur die fäkaliene Phase nie überwunden hat. Er hat uns aufs Geschlecht durchschlagend geistig impotente Männer gezeigt, die „ihn“ ohne Erzählung von Perversion und Kack-Phantasie nicht hochkriegen. Und Frauen, die lieber der Forderung von Männern nach inhaltlich wie formal bestimmter Erzählung nachkommen, als auf Teilhabe an Macht ihrer herrschenden Klasse oder auf Sex mit emotionalen Idioten zu verzichten. Wir könnten von all dem lernen, dass die Mechanismen der vermeintlich göttlichen Höllen-Strafandrohung für gelebte Menschlichkeit und die Verheißung eines vermeintlich gottgewollten Jungfrauen-Paradieses nur zwei Seiten einer gleichen Medaille sind. Einer, mit der dem Menschen die Liebe abgekauft werden soll und die nichts als Ungeheuer gebiert, für die angeblich keiner kann...
Und mehr gibt es HEUTE darüber weder zu sagen noch zu zeigen.
Jedenfalls nicht mit de Sade. Deshalb ist da jede Inszenierung eines Textes von de Sade nur billiger Skandalismus; Herrscher-Attitüde, die auf ihrem psychischen Grund selbstbestimmte weibliche, nicht-pervers undoder sexualisierte Erzählung auslöschen möchte. – Ich würde also allein aus diesem Grund nicht in diese Inszenierung gehen, weil ich mich weigern würde, dies von de Sade lernen zu sollen wenn es nach dem Bochumer Schauspielhaus und dessen Intentionen geht.
Aber eines würde ich sehr empfehlen, wenn ich junge Romanisten oder Germanisten unterrichten müsste: Ich würde empfehlen, die „Philosophie aus dem Boudevoir“ neu herausgeben und mit dem Standbild, das hier abgebildet ist, als Titel zu versehen: Diese körperlos am Boden liegenden, quatschenden Köpfe und das Schafott, das aus nichts anderem mehr als aus Blut besteht. Wie schade, dass Fritsch es nicht bei diesen gerollten, bis heute uns in unsere heutigen Probleme reinquatschenden, entleibten Köpfen belassen hat…
Philosophie im Boudoir, Bochum: langatmig
In der Vorstellung die ich sah sind ebenfalls viele gegangen, aber erst nach etwa eineinhalb Stunden - einem Zeitpunkt zu dem man sich an der, durchaus ansprechenden, Ästhetik von Bühne und Kostüm bereits sattsehen konnte und an dem das Spiel auf der Bühne langsam tatsächlich etwas ermüdend zu werden begann. Ich hatte nicht wirklich den Eindruck diejenigen die raus gingen täten das, weil der Text sie so schockert hätte - dann hätten sie sich wahrscheinlich viel früher dazu entschlossen den Saal zu verlassen. Es wurden auch keine Türen geknallt oder laut geschimpft, wie ich es auch schon erlebt habe. Ich hörte inzwischen sei der Abend nicht ganz unerheblich gekürzt worden und seitdem hätte die Fluktuation erheblich abgenommen - keine Ahnung ob das stimmt, aber das würde vielleicht meine These stützen, daß die Zuschauer erst das Weite suchten als der Abend nach einer gewissen Dauer etwas langatmig zu werden...??? Aber vielleicht auch nur zum Teil, wer weiß
Philosophie im Boudoir, Bochum: gefallen
Uns hat es sehr gut gefallen!!!
Philosophie im Boudoir, Bochum: Nachfrage
@ 17 rein interessehalber: die Version vom 22.& 23.12. oder die gekürzte die seit 27.12. gespielt wird? Ich fand nämlich den Text tatsächlich nicht so schockierend, alles in allem nicht schlecht, aber den Abend eben doch in etwa um eine halbe Stunde zu lang...denn so viel (fand ich persönlich - und klar, das ist völlig subjektiv) gab der Stoff dann einfach nicht her... (die halbe Stunde scheint ja seit dem 27. auch etwa weggekürzt worden zu sein)
Philosophie im Boudoir, Bochum: de Sade in Brasilien
Spaßeshalber empfehle ich mal (als Netzrecherche) den Kinofilm "A Filosofia na Alcova" von/mit der brasilianischen Gruppe "Os Satyros" in Sao Paulo; am kleinen Theater an der Praca Roosevelt haben Ivam Cabral und Rodolfo Garcia Vazquez fast alle zugänglichen de-Sade-Texte für die Bühne erarbeitet - und hier eben auch fürs Kino. - Ach, und die Bochumer Aufregung erscheint mir ziemlich vorgestrig. Da war die Stadt mit dem schönsten Theater im Lande (und dem ehedem besten Publikum!) schon mal weiter.
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