Aufbruchstimmung trotz Krieg

von Oliver Kranz

6. Januar 2018. Seit vier Jahren organisiert das europäische Theaternetzwerk ETC (European Theatre Convention) das Projekt Theater ist Dialog – Dialog der Kulturen, mit dem Theatermacher in der Ukraine und anderen osteuropäischen Ländern unterstützt werden. Im Dezember wurde bei einer Konferenz in Kiew Bilanz gezogen: Mehr als 40 ukrainische Theatermacher wurden schon zu Künstlerresidenzen nach Europa eingeladen. Sie arbeiteten an elf Theatern in vier verschiedenen Ländern. Außerdem wurden Gastspiele organisiert und europäische Theaterleute und Festivalmacher zu einem Showcase der ukrainischen Bühnen nach Kiew eingeladen.

Der Effekt war beachtlich, wie Andriy Palatnyi, der Manager des Kiewer Dakh-Theaters erklärt. "Die ETC organisiert nicht nur Gastspiele und Künstlerresidenzen, sondern auch Veranstaltungen in Kiew, bei denen sich die Teilnehmer des Programms treffen können. Es werden auch Theaterwissenschaftler, Vertreter von Stiftungen und Politiker eingeladen. So ist schon ein richtiges Netzwerk entstanden."

DAKH Theater Kiew 560 Oliver Kranz 2018 12 12Das Ladenlokal des DAKH-Theater in Kiew  © Oliver Kranz

Bei den Arbeitstreffen wurde bisher über Theatermodelle und Finanzierungsmöglichkeiten gesprochen, über internationale Kooperation und die Rolle der Kultur in der Ukraine. "Toll ist, dass die ETC nicht nur Staatstheater eingeladen hat, sondern auch Vertreter der freien Szene. Das hat den freien Theatern sehr geholfen. Heute kann mein Haus, das Dakh-Theater, mit dem staatlichen Molodyy-Theater kooperieren. Das wäre früher undenkbar gewesen." Und dieses 'Früher' liegt kaum vier Jahre zurück. Damals erhielten freie Theater keine staatliche Unterstützung. Sie wurden von den Behörden als 'Amateurbühnen' eingestuft und mit Misstrauen behandelt. Das hat sich weitgehend geändert.

Kulturausgaben steigen

Inzwischen steigen auch die Kulturausgaben. Während ukrainische Politiker früher alle Forderungen nach höheren staatlichen Zuschüssen mit Verweis auf den Krieg im Osten ablehnten, gab es in den letzten zwei Jahren ein moderates Plus. "Dafür habe ich gekämpft", sagt Jewhen Nyschtschuk nicht ohne Stolz. Er war Schauspieler und gehörte beim Euromaidan 2013/14 zu den Sprechern der Demonstranten. Heute ist er Kulturminister. "Ich habe im Kabinett immer gefragt: 'Wofür kämpfen wir, wenn nicht für unsere Kultur?' Mit Kultur kann man Spannungen entschärfen, bevor sie eskalieren und zu militärischen Konflikten werden."

Yevhen Nyshchuk Goethe ETC Theater ist Dialog Oleksii Tovpyha 2018 12 u"Wofür kämpfen wir, wenn nicht für unsere Kultur?" fragt Kulturminister Yevhen Nyshchuk, der selbst auf dem Maidan demonstrierte 
© Oleksii Tovpyha
Der Krieg im Osten der Ukraine köchelt heute auf kleiner Flamme vor sich hin. Er dominiert das Lebensgefühl im Land nicht mehr so wie in früheren Jahren. In Kiew könnte man ihn fast vergessen. Im Dezember, als die ETC-Konferenz stattfand, herrschte normale Vorweihnachtsstimmung – überall Lichterketten, Tannenbäume und Glühweinstände. Die Fotos der gefallenen Soldaten, die vor drei Jahren in der Kiewer Innenstadt überall an Bäumen und Wänden klebten, sind verschwunden.

Erinnerung an den Maidan

"Das ist ein Schutzmechanismus", sagt die Kuratorin Kateryna Filyuk. "Als der Krieg ausbrach, haben wir ständig vorm Computer gesessen und Neuigkeiten sofort diskutiert. Aber das kann man nicht jahrelang machen." Heute bestimmen andere Themen das öffentliche Gespräch – der fünfte Jahrestag des Euromaidan zum Beispiel. Im Staatlichen Kultur- und Kunstzentrum Mystetskyi Arsenal in Kiew ist die Ausstellung "Revolutionize" eröffnet worden, die Kateryna Filyuk gemeinsam mit der holländischen Kuratorin Nathanja van Dijk zusammengestellt hat. Die Proteste des Euromaidan werden in der Ukraine als "Revolution der Würde" bezeichnet. "Die Menschen sind sehr stolz, das Regime von Viktor Janukowytsch gestürzt zu haben", erklärt Kateryna Filyuk. "Doch sie haben auch die Tendenz die Ereignisse zu verklären. Wenn heute über den Maidan berichtet wird, sind auf einmal alle Helden gewesen. Von den Unterstützern Janukowytschs hört man nichts."

 

Die Ausstellung versucht zu zeigen, wie der Maidan wirklich war – durch Kunstwerke, die den Protest reflektieren. Der Südafrikaner James Beckett zum Beispiel hat in einer Installation Objekte, die von den Demonstranten auf dem Maidan benutzt wurden, heutigen Alltagsgegenständen gegenüberstellt. Auf der einen Seite liegen Schutzschilde, Knüppel und Schlafsäcke, auf der anderen Spielzeugwaffen, Kissen und kuschlige Flanelljacken. "Nach dem Protest kam der Konsum", erklärt Kateryna Filyuk. "Als Janukowytsch gestürzt war, gingen die Leute nach Hause. Alle wollten ihren Alltag wieder haben."

Zahme Staatstheater unterstützen Rückzug ins Private

Diesem Bedürfnis trugen die staatlichen Theater der Ukraine gern Rechnung. In ihrem Repertoire hat Politik nie eine große Rolle gespielt. "Wir beschäftigen uns lieber mit ewigen Themen, wie Liebe, Hass und Verrat", erklärt Andriy Bilous, der Intendant des Molodyy Theaters in Kiew, "und die finden wir bei den Klassikern. Unser Publikum mag keine aktuellen politischen Themen." Andriy Bilous blendet aus, dass Stücke wie "Die Maidan-Tagebücher" von Natalia Vorozhbyt durchaus ein großes Publikum fanden. Die Mutlosigkeit der staatlichen Bühnen hat aber nicht nur mit der Tradition, sondern auch mit dem System der Kulturförderung zu tun.

Zacharanyy 560 Molodyi Theater Kiew 2015Klassisch: "Zacharanyy" nach Ivan Karpenko-Karyos Stück "Beztalanna" © Molodyy Theater Kiew 2015

Die ukrainischen Staatstheater bekommen ihre Zuwendungen direkt vom Kulturministerium. Schon allein deshalb halten sie sich mit Kritik an politischen Entscheidungsträgern zurück. Das Geld ist zudem nur für die Deckung der Personal- und Betriebskosten bestimmt. Die Mittel für neue Produktionen müssen von den Theatern selbst erwirtschaftet werden. Da neue Stücke als riskant gelten, greifen sie lieber auf Klassiker zurück. Dass es auch anders geht, beweist die freie Szene.

Wo die Gegenwart haust

Das Dakh-Theater, das seit mehr als 20 Jahren in einem Ladenlokal am Rand der Kiewer Innenstadt residiert, hat viele Gegenwartsstücke im Repertoire. Ein Hit ist zurzeit das Musikkabarett "Tse Sho". Das Ensemble tritt auf wie eine überdrehte Mädchen-Band – vier junge Frauen und ein Schlagzeuger, alle in orangenen Latzhosen. Ein Projektor wirft bewegte Bilder an die Wand – weinende Augen, Kriegsbilder und Fernsehwerbung. Der Text wird nicht gesungen, sondern skandiert.

Tse Sho 2018 12 12 560 Oliver Kranz"Tse Sho" im Dakh-Theater  © Oliver Kranz

"Mir tut weh, dass niemand den Schmerz fühlt", rufen die Mädchen. Und dann werden Medienberichte zitiert – über Tote im Nahen Osten und ein neues Katzenvideo auf YouTube. "Im Internet und im Fernsehen gibt es immer wieder solche Meldungen", erklärt Marusia Ionova, die in dem Programm auf der Bühne steht. "Einige sind extrem grausam, andere extrem belanglos. Das kann einen verrückt machen! Doch niemand reagiert. Wir tanzen uns in unserem Programm den Schmerz von der Seele."

Andriy Palatnyi ETC 2018 280 Oleksii Tovpyha"Wir können etwa Neues aufbauen", glaubt Andriy Palatnyi vom Dakh-Theater  © Oleksii Tovpyha Die Band tanzt, singt und schreit und verwandelt sich zwischen den Songs in ein Puppentheater. Die Musiker haben Schaumstofffiguren dabei, die genauso gekleidet sind wie sie und aufgrund ihrer Proportionen wie Kinder wirken. Diesen Figuren legen sie Fragen in den Mund: Wer bin ich? Wer liebt mich? Was kann ich tun, wenn mich der Krieg einholt? – "Die Puppen symbolisieren unser inneres Ich", sagt die Saxofonistin Kateryna Petrashova. "Sie stehen aber auch für die nächste Generation. Wir müssen uns fragen, was für ein Land wir unseren Kindern hinterlassen." Im Stück steckt Schmerz, aber auch viel Energie. Die Musik erinnert an die Dakh-Daughters, die am selben Haus gegründet wurden und inzwischen weltweit Konzerte geben. Auch "Tse Sho" war schon in den USA. Das Dakh-Theater hat viele internationale Kontakte. "Wir vernetzen uns immer mehr", erklärt Andriy Palatnyi. "Seit der Revolution vor fünf Jahren haben wir die Freiheit, das zu tun. Durch unsere Tourneen verdienen wir Geld, das wir in neue Produktionen stecken können. Noch wichtiger aber ist, dass wir den Theaterbetrieb in Europa und Nordamerika kennenlernen."

Gründerfieber in der Freien Szene

Institutionen wie das Goethe-Institut und die ETC haben diesen Prozess unterstützt. "Das hat uns sehr geholfen", sagt Andriy Palatnyi. "Ich glaube, die Ukraine hat jetzt einen Punkt erreicht, wo es kein Zurück mehr gibt. Es ist eine Generation herangewachsen, die den Westen kennt und die weiß, wie dort gearbeitet wird. Jetzt wollen wir endlich Verantwortung übernehmen. Wir möchten nicht mehr dieses Image haben, dass es in der Ukraine immer nur Probleme gibt. Wir haben Tschernobyl, wir haben einen Konflikt mit Russland, und unserer Wirtschaft geht es nicht gut, aber das ist hier ist unser Land. Wir können etwas Neues aufbauen." Die freie Kulturszene in der Ukraine erlebt zurzeit einen Gründungsboom. Etwa 350 freie Theater gibt landesweit – 100 davon allein in Kiew. Die meisten sind nach der Maidan-Revolution entstanden und erhielten bisher keinerlei Unterstützung. Doch das könnte sich nun ändern.

Kiev coffee shops Screen ShotLeben wie Gott in Kiew? Wer trinkt all diesen Kaffee? Coffee-Shops in Kiew
© www.bestofukraine.com
Vor einem Jahr ist die Ukrainische Kulturstiftung gegründet worden, vor fünf Monaten das Ukrainische Institut. Dort entscheiden Expertenjurys darüber, welche Projekte gefördert werden, und keine Bürokraten. Das Geld fließt nicht mehr automatisch den Staatstheatern zu. Etwa sieben Millionen Euro stehen der Ukrainische Kulturstiftung pro Jahr für die Kulturförderung zur Verfügung. Das ist nicht viel, aber schon die Tatsache, dass es jetzt eine staatliche Institution gibt, bei der sich freie Projekte um Zuschüsse bewerben können, sorgt für einen positiven Stimmungsumschwung – nicht nur in der Kulturszene. "Junge Leute merken auf einmal, dass sie ihr Leben selbst gestalten können", sagt Kateryna Filyuk. "Sie können Cafés eröffnen, Modelabels gründen oder selbstgeschriebene Bücher herausbringen. Und das tun sie auch. Man muss nur schauen, wie viele Coffee Shops es jetzt gibt. Ich weiß wirklich nicht, wer all diesen Kaffee trinkt – aber das ist die neue Zeit. Kiew ist eine Stadt der Cafés geworden." Dieser Boom ist auch in anderen großen Städten zu spüren – in Odessa und Charkiv zum Beispiel. Dort herrscht Aufbruchsstimmung, dem nicht enden wollenden Konflikt mit Russland zum Trotz.

Disclaimer: Die Reisekosten des Autors wurden von der ETC übernommen.

 

Kranz Oliver 120 karo kraemerOliver Kranz, geboren 1967 in Ostberlin. Studium der Theaterwissenschaft, Anglistik und Kulturmanagement in Leipzig, Berlin und London. Seitdem Journalist und Theaterkritiker – vor allem fürs Radio (DLF, RBB, NDR, SRF). Fünfmal pro Woche im Theater und immer noch neugierig.
(Foto: Karo Krämer)

 

Mehr zum Thema: Theaterbrief aus Kiew (1) vom 10. Dezember 2015

 

 

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