Auf der Suche nach der Süße

von Gabi Hift

Wien, 12. Januar 2019. "Warum erzählen wir die Geschichten?" – Auf steiler, heller Schräge stehen fünf in lange schwarze Roben gekleidete priesterliche Gestalten. "Was zu suchen sind wir hergekommen?" Die Geschichte, die sie uns erzählen, handelt von einem Road Trip, von Bruder und Schwester, die auf der alten Gastarbeiterroute hinunter nach Süden fahren, in jenen Ort, von dem aus ihr Vater vor Jahrzehnten nach Deutschland aufgebrochen ist. Sie wollen die Stelle finden, wo ihr Großvater bei einem Autounfall gestorben ist. Als sie Kinder waren, hat der Vater deshalb in den Nächten geschrien, er war in psychiatrischer Behandlung. Nun wollen die Geschwister hinunter und an der Stelle einen Baum pflanzen. Während sie fahren, kommen aus dem Autoradio Nachrichtenfetzen, Tagesmeldungen, Stories und Liedfragmente, die rätselhaften Mustern zu folgen scheinen.

Enis Maci verfährt beim Finden dieser Splitter wie eine frei assoziierende Patientin, die bei sich selbst auf der Couch liegt. Den Träumenden selbst erscheint die Entschlüsselung der Bedeutung ihrer Träume oft lebenswichtig, während andere davon gelangweilt sind. Wie also davon erzählen? Enis Maci und der Regisseur Franz-Xaver Mayr, die das Stück "Autos" zusammen entwickelt haben, präsentieren eine formal sehr interessante Lösung: Sie versuchen, die rätselhaften Stimmungen, das flüchtige Auftauchen und Wieder Verschwinden von Bedeutungen in einer Art Oratorium zu evozieren. Die einzelnen Szenen werden nicht gespielt, sondern über die Texte und über die Musik der Sprache erzählt.

Musikalisches Ritual

Wie die fünf Schauspieler*innen gemeinsam agieren, erinnert an die Comedian Harmonists, nur dass die Melodien und Rhythmen nicht die von Liedern sind, sondern die der gesprochenen Erzählung. Ebenso wie die Comedian Harmonists schlüpfen sie für ein, zwei Zeilen in eine menschliche Person, dann wieder machen sie Geräusche nach, aber immer nur zart angetupft: das Aufheulen des Motor, das Rauschen des Radios, das Zirpen beim Wechsel der Kanäle, die Schlagerfetzen. Jeder von ihnen ist wie ein eigenes menschliches Instrument, Simon Bauer die Brusttontuba mit Schnauzer, Vassilissa Reznikoff die weinende Geige, Sebastian Schindegger empörtes Fagott, Steffen Link das geradlinige, zuversichtliches Klavier, und Johanna Bader ist eine wahre und wahrhaftige Opernsängerin, aber sogar dieses mächtige Instrument ordnet sich bescheiden in den Zusammenklang ein. Die hochmusikalische Art, mit der alle aufeinander horchen, ist wie eine ständige Suchbewegung nach dem Wesentlichen, melancholisch grundiert, weil die Suche nie endet.

Autos2 560 Matthias Heschl uDer Orden von den Autos © Matthias Heschl

Das Ganze hat eine leise, wunderbare Komik, die darauf beruht, dass die allerentsetzlichsten Geschichten zart und doch ungerührt erzählt werden. Gleichzeitig hat es den tiefen Ernst und die Rätselhaftigkeit eines heiligen Rituals. Das bewirken auch die prachtvollen Kostüme von Korbinian Schmidt, sie erschaffen eine eigene Phantasiewelt, weit weg von den Alltagspersonen, von denen die Geschichten erzählen. Eine Metawelt, in der die Sprecher des Oratoriums Mitglieder eines Ordens zu sein scheinen, eingekleidet in knöchellange Talare aus schwarzen, glänzenden Stoffen. Später legen einige die Röcke der Hohepriester ab und erscheinen in opulenten schwarzen Reifröcken aus Seide und Federn, die schwarze Messe wird zum spanischen Hofzeremoniell. Korbinian Schmidt hat auch die spartanische Bühne mit der gleißenden steilen Schräge gebaut. Als eine Radiomeldung von argentinischen Wanderameisen spricht, die ganze Landstriche übernehmen, wuseln Abertausende winzige schwarze Kügelchen die helle Schräge hinunter. Es könnten durchaus Ameisen sein, angestoßen hüpfen sie immer wieder hoch, als wären sie lebendig, und wirken sehr unheimlich.

Bestrafte Söhne

Die Nachrichten aus dem Radio sind entsetzlich. Sie sprechen von Olga Hepnarova, der ersten Person, die 1973 mit einem LKW in eine Menschenmenge fuhr, um sie zu töten. Und sie berichten immer wieder von Söhnen, die ihre Herkunft verleugnet haben und dann vom Schicksal und von ihren Vätern grausam bestraft wurden: von Walter Kohl, der von der Kohlwitwe nicht ins Haus gelassen wird, in dem sein Vater aufgebahrt liegt. Von Sarrazins Sohn, der von Hartz IV lebt, verhöhnt von seinem Vater. Vom einzigen albanischen Punk, der nach der Wende aus Berlin nach Tirana zurückkehrt und von seinen Eltern in die Psychiatrie gesteckt wird. Und immer wieder kommen aus dem Radio Splitter der grauenhaften Geschichte von Daniel Küblböck, der vom DSDS Star zum verlachten Nichts wurde und sich mutmaßlich vom Kreuzfahrtschiff Aida ins Meer gestürzt hat.

All diese Söhne sind von Zuhause aufgebrochen, sind gescheitert und, wie es scheint, für ihren Verrat bestraft worden. Johanna Bader singt betörend schön das Lied "Youkali", das Kurt Weill in der Emigration geschrieben hat, vom Ort der Sehnsucht, das mit den Zeilen endet: "Mais c’est un rêve, une folie / Il n’y a pas de Youkali", es ist ein Traum, eine Wahnvorstellung – es gibt überhaupt kein Youkali. Aber am Ende gewinnt die Süße der Melodie doch gegen die Kälte des Textes.

Ob man das ständige In-der-Schwebe-Bleiben dieses Abends genießt oder ob man irgendwann davon eingeschläfert wird, hängt sicher sehr vom Einzelnen ab. Am Ende sieht man auf einem Video im Hintergrund Wasser stetig nach oben fließen. Die Unterwelt der unerklärlichen, mächtigen Bedeutungen bleibt bestehen, nichts wird verbunden oder aufgeklärt, vielleicht war auch alles ganz anders. Zu bewundern ist auf jeden Fall eine schöne, strenge Formübung, es erfordert sicher hohes Können und Aufeinander Hören, sie so leicht aussehen zu lassen.

Autos
Von Enis Maci
Uraufführung
Regie: Franz-Xaver Mayr, Bühne & Kostüme: Korbinian Schmidt, Musik: Matija Schellander, Video: Billy Roisz, Dramaturgie: Tobias Schuster, Licht: Oliver Matthias Kratochwill, Ton: Benjamin Bauer.
Mit: Johanna Baader, Simon Bauer, Steffen Link, Vassilissa Reznikoff, Sebastian Schindegger.
Premiere am 12. Januar 2019
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.at

 

Kritikenrundschau

Eine Reihe junger, im Westen sozialisierter Autorinnen mit migrantischem Hintergrund erforschten zurzeit sprachspielerisch das Verhältnis von Netz und Welt, schreibt Barbara Petsch in Die Presse (14.1.2019). Unter ihnen auch Enis Maci, die "in ihren Werken die assoziativen Gedankenwirbel im Kopf [untersucht], die durch das Netz aufgemischt werden." Die Inszenierung aber hat sie wenig überzeugt: "Die Mischung aus Messe und Sprachoper, inszeniert von Franz-Xaver Mayr, wirkt spröde, um nicht zu sagen: Einschläfernd", findet Petsch.

Franz-Xaver Mayr hat das Stück aus Sicht von Michael Wurmitzer von der Wiener Tageszeitung Der Standard (15.1.2019) famos und viel Präzision sowie "fünf tollen Darstellern" auf die Bühne gebracht. Mayr versuche nicht, "dem so zersplitterten Text mit realistischen Szenen oder als Ganzem beizukommen, sondern spielt mit kleinen sich bietenden Gelegenheiten."

"An diesem dichten, durchkomponierten Abend gibt es viele starke Stellen," schreibt Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (15.1.2019). "Dass sich Macis auf den ersten Blick eher lapidare Sprache so viele rhythmische Variationen abgewinnen lassen, spricht nicht nur für die inspirierte Inszenierung, sondern auch für das dramatische Potenzial des präzise gearbeiteten Textes." Fazit dieses Kritikers: "Man wird sich den Namen Enis Maci merken müssen."

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