Paarhölle deluxe

von Katrin Ullmann

Hamburg, 18. Januar 2019. Selten ist ein Ende so gewiss, selten ein Stückausgang zu unverrückbar: Wenn Edward Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" auf dem Spielpan steht, ist klar, dass diese exzessive Bourbon-Party bis zum bitteren Schluss gespielt werden wird. Bis zu dem Moment, in dem George behauptet, der Fantasie-Sohn, den seine Frau Martha sich mehr als 20 Jahre imaginiert hat, sei auf einer Landstraße tödlich verunglückt. Sei mit dem Auto frontal gegen einen Baum gerast.

In Karin Beiers Inszenierung ist dieser Baum von Anfang an da. Mitten im Raum hat ihn Bühnenbildner Thomas Dreissigacker wachsen lassen; völlig ast- und blattlos bis in den Bühnenhimmel. Tatsächlich ist er mehr Stamm als Baum. Wie er da im sonst leeren, kühlen Loft des hassliebenden Paares steht, ist er natürlich auch ganz schön schick. Doch an diesem Abend ist jener Baum auch das sogenannte "Tschechowsche Gewehr". Denn, so meinte der russische Schriftsteller, wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, wird es spätestens im zweiten Akt abgefeuert werden.

VirginiaWoolf 560 ArnoDeclair uMaria Schrader und Devid Striesow, im Hintergrund der Baum © Arno Declair

Dass der Baum in Albees Stück erst im dritten Akt zum Einsatz (ja eigentlich nur zur Sprache) kommt, mag am erhöhten Alkoholkonsum der Charaktere liegen. Feststeht: Der Baum ist da, das Ende gewiss. Und bis dahin müssen alle durchhalten. Die Menschen auf der Bühne (und die im Publikum). Sie müssen durch den Rausch und die Demütigungen, durch Liebe und Hass, Ekel und Erotik, durch Peinlichkeiten und Penis-Vergleiche.

Entfesselung ist ansteckend

Am Hamburger Schauspielhaus laden Maria Schrader und Devid Striesow zu dieser längst legendären Afterparty ein. Als wohlsituiertes Akademikerpaar streiten, schreien, hassen und trinken sie – und haben Gäste. Matti Krause und Josefine Israel spielen das ahnungslose, junge Paar Nick und "Süße". Und wenn die beiden Gastgeber sich – alkoholisiert, weltgewandt, süffisant, brutal – durchs Eigenheim jagen, stehen sie lange Zeit wie aus dem Nest gefallene Vögelchen im Raum. Sie halten sich an ihren Gläsern fest, sprechen nur, wenn sie gefragt werden, und das tun sie dann so herzzerreißend zaghaft, dass man ihnen augenblicklich ein Taxi rufen möchte, um ihnen den zerfleischenden Rest des Abends zu ersparen.

VirginiaWoolf1 560 ArnoDeclair uJosefine Israel, Matti Krause, Maria Schrader, Devid Striesow und der Bourbon © Arno Declair

Doch eilig wird den beiden Bourbon ein- und nachgeschenkt und bald überwiegt sogar bei "Süße", der Josefine Israel (herrlich präzise!) ein dünnes, perlendes Lachen anheftet und einen meist konziliant geneigten Kopf, die Neugier. Auf das, was kommen mag. Auch Matti Krause schält seinen zunächst verstockten Nick bald aus jeder Verlegenheitspose (und auch aus dem Muttersöhnchen-Karo-Jackett). Dann badet Nick in Komplimenten zu seinen Boxkünsten, seiner blitzartigen Akademikerkarriere und besonders in den gierigen Blicken der Gastgeberin – die er nur wenig später, völlig angesext, durch eine grandiose, ekstatisch-akrobatische Tanzpartie wirbelt.

Ins Whiskeyglas gemurmelt

Unbestritten sind Maria Schrader und Devid Striesow als Martha und George die Spielmacher des Abends. Diese beiden hassliebenden Figuren haben Verabredungen, die keiner kennt – vielleicht nicht einmal sie selbst. Unausweichlich steuern sie den Abend auf sein Ende zu. Mit Beschimpfungen und Beleidigungen, aber auch mit Sprachwitz, Küssen, Nervenkitzel – Schrader und Striesow spielen diese Spieler mit großer Hingabe, Differenziertheit und zugleich mit einer fast nonchalanten, professionellen Selbstverständlichkeit. Mal murmelt Striesow – saturiert und selbstzufrieden – Frauenfeindliches in sein Whiskeyglas, mal brüllt er animalisch, mal lauert er wie ein Tiger auf sein nächste Opfer, mal mimt er stoische Gelassenheit. Schrader hingegen ist fast ständig in Bewegung, selbstbewusst, tänzelnd, provozierend, kommandierend, demütigend. Sie hat die Führung, nimmt sich viel Raum – bis zu dem zerstörerischen Moment, in dem George den Tod ihres imaginierten (Wunsch)Kinds verkündet und sie aufschluchzend innehält.

Man kann das alles auch in einem Satz schreiben: Die Schauspieler sind fantastisch! Und die Regie? Sie gibt den Darstellern ausreichend Raum, setzt oft auf kleine, genau beobachtete Gesten, arbeitet psychologisch und wehrt sich meist noch rechtzeitig gegen zu viel Naturalismus. Sie folgt dem Ablauf des Stücks, erzählt es vom Blatt, vom Anfang bis zum seinem unverrückbaren Ende. Nicht neuartig, nicht unbedingt raffiniert. Aber gekonnt und konsequent.

Wer hat Angst vor Virginia Woolf?
von Edward Albee
Deutsch von Alissa und Martin Walser
Regie: Karin Beier, Bühne: Thomas Dreißigacker, Kostüme: Maria Roers, Licht: Annette ter Meulen, Ton: Hans-Peter ›Shorty‹ Gerriets, Musikalische Beratung: Jörg Gollasch, Choreografische Mitarbeit: Valenti Rocamora i Tora
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Mit: Josefine Israel, Matti Krause, Maria Schrader, Devid Striesow.
Premiere: 18. Januar 2018, Schauspielhaus Hamburg
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

"Ein gut austariertes Duo, mit dem Regisseurin Karin Beier mehr als richtig liegt", schreibt Werner Theurich auf Spiegel online (19.1.2019). "Von 0 auf 100 startet Karin Beiers Inszenierung, die Striesow und Schrader die volle Breite der spärlich ausgestatteten Bühne bietet." Sofort schicke die Regie die beiden auf den Parcours der Bitterkeiten, wohl wissend, dass die ersten dreißig Minuten über den Sog entscheiden, der das Stück über die 2 Stunden tragen muss. "Nach ihrem 'König Lear' gelingt es Karin Beier einmal mehr, einen gealterten Text klug und effizient in intelligente Form zu gießen, ohne ihn gewaltsam neu zu interpretieren. "Wenn ein Theater-Finale solche enorme Empathie erzeugt, ist das beglückend."

Große Anerkennung auch von Michael Laages auf DLF Kultur (19.1.2019). Sein Lob gilt insbesondere Grimme-Preisträger Devid Striesow und Maria Schrader, die sich zwei Stunden lang in ihren Rollen als George und Martha einen ungehemmten, skrupellosen Schlagabtausch liefern. Die Figuren müssen alles aus sich heraus erfinden, "sie sind mit sich allein", der Exzess katapultiere sich aus den Figuren selbst. "Furios vulkanisch" spielen das die beiden Schauspieler.

"Die beiden Hauptdarsteller spielen mit Lust auf einem unglaublich hohen Energielevel und behalten trotzdem in fast allen Momenten eine gewisse Leichtigkeit, eine spielerische Attitüde", so Katja Weise im NDR (19.1.2019). "Vor allem Striesow kostet auch das komische Potenzial aus, das in den messerscharfen Dialogen steckt." Karin Beier inszeniere flott, mit einem guten Gespür für den Rhythmus dieses blitzgescheiten Ehedramas. "Fazit: Zuhören und zusehen unbedingt empfohlen."

"Karin Beiers meisterliche Inszenierung mit dem grandiosen Ensemble zeigt wunderbar herzlich, wie gültig Albees Stück ist: Ganz im Ernst und heiter gelöst, nicht als Salonkomödienwitz, sondern als Paartherapietragödienkatastrophe", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.1.2019). Die bei aller analytischen Distanz menschenfreundlich durchgezeichnete Regie gebe dem Ensemble viel Luft für ihre Rollen. "Und die vier nutzen den psychologisch offenen Raum mit mentaler wie physischer Geistesgegenwart. Das Energielevel ist formvollendet hoch."

Spätestens mit dem Auftritt des Gastpaars gerate Karin Beiers Versuch, Albees Milieuskizze ganz selbstverständlich als zeitloses Gegenwartsstück zu inszenieren, endgültig in Schieflage, schreibt Eva Behrendt in der taz (21.1.2019). "Obwohl Matti Krause und Josefine Israel ihre doofen Rollen angemessen stoisch absolvieren, obwohl Maria Schrader und Devid Striesow das Kunststück gelingt, ein dauerpeinliches Gelage erstaunlich unpeinlich komisch zu spielen, selbst akrobatische Tanzszenen ohne Würdeverlust zu absolvieren und hinter der ausgestellten Aggressivität Verletzungen aufscheinen zu lassen, können sie nicht darüber hinwegspielen, dass das Stück mittlerweile ein echter Papiertiger ist, den auch kein noch so politisch unkorrekter Drogen-Einsatz mehr lebendig macht."

Karin Beier zeige, gerade, indem sie das Stück weitgehend in seinem ursprünglichen Kontext belasse, "den inversen Affront, den es jetzt darstellt", so Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung (22.1.2019): "Was früher eine von verordnetem Optimismus und Konformität geprägte amerikanische Gesellschaft als hohl und verlogen entlarven sollte, versteht sich heute, da die Dystopie im Großen wie im Kleinen zum Normalfall geworden ist, von selbst. Der Skandal scheint nun zu sein, dass Martha und George sich nicht einfach trennen." 

 

Kommentare  
Angst vor Woolf, HH: Bewertungskluft
Liebe Nachtkritik, entschuldige bitte die Nachfrage meinerseits, was am 24.1.2019 mit meinem (kurz nach 17 Uhr ins Netz gestellten) Kommentar zur Hamburger Premiere von "Wer hat Angst vor Virginia Woolf ?" am 18.1.2019 passiert ist ? Jedenfalls ist dieser nicht "gesendet" worden.Gab es dazu technische Gründe (möglicherweise) oder andere Ausschlußgründe (ich bin mir, offen gesagt, keiner Übertretung bewußt bezüglich der Threadregeln -und "Dreckloch, verdammtes !" zum Beginn des Kommentars bezog sich natürlich auf die Resonanz-Leere zu dieser hochgelobten Sache- , und der Grund, daß ich an dieser Stelle einen Thread dominieren habe wollen, kann es ja bei eben dieser gähnenden Leere kaum ernsthaft sein; zudem kann und will ich einfach nicht glauben, daß ich die einzige Person weit und breit sein sollte, die sich bei "Wer hat Angst vor Virginia Woolf" immer wieder und von Inszenierungsereignis zu Inszenierungsereignis darüber wundert, welch große Bewertungskluft (es wäre recht leicht, das für viele Jahre nachzuzeichnen !) es dazu zwischen den diversen Kritiken gibt
und wie verhältnismäßig wenig meineserachtens versucht wird, die jeweiligen Standpunkte der "anderen Seite zB. in einem Nachtkritik-Thread dazu aufzugreifen, wie oft es eher gen Colosseum geht: Daumen hoch, Daumen runter" ("Routine" halt). Tatsächlich würde ich gerne versuchen, genau dieses an der einen oder anderen Stelle zu tun, hier auf dieser Seite. lg aus Kiel

(Liebe*r Arkadij Zarthäuser, der Kommentar vom 24.1. ist nicht auffindbar, warum er nicht veröffentlicht ward, lässt sich daher leider nicht rekonstruieren. Viele Grüße, d. Red.)
Angst vor Woolf, HH: Living in a BOX (1)
Nehmen wir zunächst an, ich sei einmal, sehr wohl gegen mein "Naturell" (?!) -irgendwie auch wieder nicht, denn will ich viele Worte machen ?-,
gezwungen, in wenigen Worten etwas zu einem Theaterabend, konkreter: diesen, sagen zu müssen, was zum Beispiel das Besondere, Erwähnenswerte, gar Rührende an ihm gewesen sei, würde ich wohl zuallererst die Bühnensituation in Betracht ziehen, die für dieses Stück (ich sah bislang 7 Inszenierungen und den Nichols-Film) nämlich schon eine Lesart formiert, die etwas Neues an Stückinterpretation birgt: das Stück als Ehe-Performance. Machen wir uns nichts vor, nicht an dieser Stelle, die in meinem ersten Kommentar konstatierte Bewertungskluft betrifft, schlicht formuliert, nicht mehr und nicht weniger als die Frage nach der "Berechtigung", dieses Stück, an einer der großen Bühnen des Landes, überhauptnoch zu zeigen, dafür Steuergelder locker zu machen. Pour qua -oder wie das so heißt ?!?
Sehr schön kommt dieser generelle Einwand gegen die Zeitgemäßheit des Stückes (gerade auch bezüglich eines der "Großen Häusern", von denen Innovationen erwartet werden) beispielsweise in der Deutschlandfunk-
kritik von Karin Fischer (19.11.2004) zur Inszenierung des Stückes am Deutschen Theater Berlin (Regie: Jürgen Gosch) zum Ausdruck (hier im Pressespiegel erneuert sich, sichtlich "genervter", dieser Einwand bei Eva Behrendt, etwas milder, aber vergleichbar findet sich dieser aber auch in der Kritik vom 23.1.2019 in den Kieler Nachrichten; dort schreibt Hans-Martin Koch ua. Folgendes:"Es gibt nur ein Problem an diesem Abend.Das Schauspielen ist stärker als das Stück.Wie schneidend Schrader und Striesow sich die Dialoge um die Ohren schlagen, wie pointiert sie sprechen , wie aus jeder Geste Aggression und Verzweiflung zugleich sprechen, wie sie sich restlos reinhängen, das ist extrem virtuos und steht für sich - und über der Geschichte.
Es geht dem Zuschauer dabei wie dem jungen Paar.Es sitzt da und staunt."). Schon bei diesen drei Einwänden gegen das Stück gibt es durchaus Nuancen, denn Karin Fischer schreibt nicht, daß es quasi kein Thema habe oder ein Papiertiger sei, sie sieht ein gut gebautes Stück, bei dem es zu den Problemen gehöre, daß auf der Bühne die Qualität der Verfilmung (die fast immer in den Kritiken , Programmheften, Gesprächen über das Stück von Albee genannt wird)
selten erreicht werde und die Zeit seit "Ich bin ein Berliner" (Kennedy) ein wenig vorangeschritten sei, das Stück "Patina" angesetzt habe ("Edelrost" immerhin). Wie also steht es um jene "Berechtigung" für die Karin Beier - Inszenierung, nunmehr 15 Jahre nach der Gosch-Inszenierung (abgesehen davon, daß Gosch vielleicht in jener Hinsicht geschickter war, seine "Virginia Woolf" vor seinem Shakespeare mit Nackten (den Düsseldorfer "Macbeth") und vor seiner
Inszenierung von Rezas "Der Gott des Gemetzels" (Schauspielhaus Zürich), allesamt Erfolge für die jeweiligen Häuser, abzufeuern), sehe ich persönlich sie, oder sehe ich sie nicht ?
Kurzum: Ich sehe sie, denn die Konzentration auf den "Spielaspekt", das Stück als "Ehe-Performane" (siehe dazu das Programmheft, so zu Händen) aufzufassen und vorzustellen, zu versuchen, ist nicht unmotiviert und auch (fernerhin und weiterhin) nicht uninteressant für weitere Versuche in dieser Richtung, und beaagte Konzentration wird durch das angesprochene "Raumkonzept" wesentlich hergestellt/unterstützt:
Angst vor Woolf, HH: Living in a BOX (2)
(Fortsetzung) Das Deutsche Schauspielhaus Hamburg, seine Große Bühne,
wird justamente zu einer Box, Klaustrophobie stellt sich ein trotz der Großflächigkeit dieser Bühne, Unausweichlichkeit suggeriert, die Außenwelt (Baum) und Imaginationswelt (und nochmals der Baum) gleichermaßen in diese Box bannend; zwar gibt es qua der Multifunktionalität der einen (! und einzigen !!) Tür (im tiefsten Aufgangs-Bühnenhintergrund) -sie führt gleichsam zu Küche, Bad, Schlafzimmer oder Abstellraum und zudem schlicht nach draußen- zwar irgendetwas, was wie ein "Höhlenausgang" anmuten mag, aber eigentlich
scheint das ja wieder nur eine andere Box zu sein; auch bei ihr rauschen Außenwelt, Imaginationswelt und Haus-Innenwelt doch offenbar wieder auf das Elendste ineins, konvergieren zu einer Art von weiteren Box, die allerhöchstens als Schwesterzelle, Bruderbox, allenfalls als Fundus für Requisieten (das Kinderschießgewehr) taugt, als "Kinderbox" hinter der Spielbühnenbox. Und der Zuschauerraum ?: Noch nicht einmal "Box", gleichsam allerhöchstens personifizierte 4.Wand; ja, das Publikum spielt quasi die Rolle des (angeblich von einem griechischen Maler angefertigten Bildes zu Marthas damaligen Geisteszustand). Karin Beier also gelingt meineserachtens auf diese Weise, eine für die Ehe-Performance sehr schlüssige Anordnung zu finden, die bis auf das Allernötigste alle Naturalismen ausspart, jedenfalls weitestgehend vermeidet, und die SpielerInnen uns Spieler dazu zwingt, zu spielen, ohne sich großartig irgendwo festhalten zu können. Diese Volte gegen den (Albee setzte einmal hinzu "vermeintlichen") Naturalismus teilt die Beier-Inszenierung im übrigen mit jener erwähnten von Jürgen Gosch; fernerhin ist es zumeist auch üblich, nach dem 2.Akt eine Pause einzulegen - auch hier bilden die Beier- und die Gosch-Inszenierung ein Paar pausenfreien Spieles (mit 2 Stunden ist Karin Beier dabei sogar noch eine Viertelstunde schneller als dieser "Vorgänger"), bei Gosch lag der Akzent aber stärker auf dem Campus (und im weitesten Sinne beim -vermeintlichen (siehe Programmheftgeschichten)- Sex nit Abhängigen, währenddessen bei Karin Beier das Spiel, die Performance, die Frage
nach dem, was wir im Einzelnen von den diversen Geschichten und Aussprüchen für wahr halten und wie diese auf uns wirken im Vordergrund steht, wie wir ein Paar wohl sehen würden, welches genau dies täte, was uns die Schauspieler gerade vorführen: nämlich möglicherweise von A-Z spielen, performen. Heißt es dann "Ich verzeihe dem Schauspieler alle Fehler des Menschen, dem Menschen keinen des Schauspielers" (Motto des "Mephisto" von Klaus Mann, zitiert aus Faust II von Goethe) ? Und warum, dazu wohl morgen, verpufft die Sache letztlich gen "Austreibung" so seltsam, warum läßt mich die Inszenierung schließlich ziemlich kalt ??, ja so kalt, daß ich sie dann doch in der Nähe zu einer "Der Gott des Gemetzels"-Inszenierung sah eher , in der Nähe eines geschickt etikettierten Star-Theaters , nicht fern von dem Vorwurf gen "Kabale und Liebe"
(" ... um das Haus vollzubekommen") ???
Angst vor Woolf, HH: vom Blatt
Um zu versuchen, diese drei vorangestellten Fragen zu beantworten, scheint es mir nicht ungünstig zu sein, noch einmal auf die obige Kritik in den KN von Hans-Martin Koch und das Zitat, das ich auswählte, zurückzukommen, einerseits weil darin etwas höchst Seltenes bei "Virginia Woolf"-Kritiken bzw. -Stellungnahmen geschieht (quasi eine Identifikation des Zuschauers mit dem jungen Paar), andererseits weil diese Stelle als Problem des Abends ausweist, daß die Spieler stärker seien als das Stück (das ich sehr schätze im übrigen). Nun ja, wenn ein Abend -wie es etwas kühl-technisch häufig zu lesen ist- funktioniert, so ist es eigentlich noch nicht von vornherein problematisch (zu nennen), wenn man nicht gerade die Autorin oder der Autor ist, und performt wird wohl garnicht so selten zu bzw. über Stoffe, die schlichtweg durch die Performance erst "gehoben", sinnlich erfahrbar gemacht, erscheinen;
auch bei Sebastian Nüblings jüngster Regie zu Simon Stephens "Maria"
(das einen Tag nach der "Virginia Woolf" im benachbarten Thalia Premiere hatte und im übrigen in den Besprechungen in der KN und im Flensburger Tageblatt -durch Ruth Bender bzw. Sabine Oehmsen- sogar einen Vorsprung vor der "VW" zu verzeichnen hatte (als ich im übrigen
"Virginia Woolf" in meinem "Haussteno" das erste Mal "VW" abkürzte stand "Wer hat Angst vor VW" dann neben der Albee-Erläuterung "Wer hat Angst davor, ohne Illusionen zu leben ?" und ich war schon fast mit einem Bein im Abgas-Skandal und den spezifischen Illusionen dazu, zumal dann "Wolfsburg" das Ganze dann auch noch "abdichtete")), zu Nübling-Regiearbeiten nicht zum ersten Mal, wird ein "stärker als das Stück" (von diversen KritikerInnen) konstatiert, ohne daß dies sonderlich problematisch wäre. Für die Anlage der Karin Beier-Regie,
das Stück als Eheperformace vor den Gästen anzulegen, um mit Paul Watzlawick (sein Text von 1969 zu den Beziehungen in "VW" nimmt den Löwenteil des Programmheftes ein) eine Kernfrage in den Raum der bisherigen Aufführungstradition (1969 !, der Bogen geht also weit zurück in der Inszenierungshistorie; ein Begriff wie "Revision" liegt in der Luft) -nehmen wir den Baum auch hier als Symbol- zu installieren, stellt der Befund, das Spielen sei stärker als das Stück, allerdings schon ein Problem dar, denn es geht doch wohl in der Beier-Box-Konzeption darum, gerade das Stück in einer neuen Lesart zu zeigen und zuzuspitzen, wobei das junge Paar dann die Eheperformance zu spüren bekommt und wir ein Stück über eine Eheperformance, welche ein junges Paar zu spüren bekommt (dieser zweistufige Gedanke mag auch, wie der Kompetetismus des Paares, letztlich die Zweistufigkeit des Podestes motiviert haben). Ich nehme an, daß so verschiedene KritikerInnenreaktionen wie Katrin Ullmanns "Vom Blatt spielen" , Michael Laages "zu wenig Interpretation" und Maike Schillers (Hamburger Abendblatt) Beinaheausruf "Albee ist der Gott des Gemetzels" letztlich auf das obige Problem zurückgehen bzw.
"verräterisch" darauf hindeuten. Wenn es heißt "Vom Blatt spielen",
so stellt sich wohl zunächst die Frage, nicht nur, was damit genau gemeint sein soll (sind dramaturgisch gebotene, siehe die Kimmig-VW von 2015, die hier auf NK sich besprochen findet; dieser Abend ist mehr als eine Stund länger, Pause abgezogen, als die Beier-Inszenierung, Strichfassungen (meist der Walser (Beier)- oder der Braun (Gosch)-Übersetzung) als "vom Blatt gespielt" auszuweisen ?),
sondern, wann und wo jemals etwas Anderes zur VW gemacht bzw. riskiert wurde, um der gesonderten Nennung des vermeintlichen "Vom Blatt-Spielens" den Distinktionswert zu verschaffen ? Derlei Beispiele sehe ich weit und breit nicht, eher im Gegenteil, wenn ich überhaupt gewisse Abweichungen sehe (von Strichen abgesehen), dann liefert sie die Beier-Inszenierung.

Karin Beier scheint sogar gezielt mit einer Art Infusions-Technik zu arbeiten, welche sich vor allem auf Aktualisierungen (ein wenig im Stile ihrer (lustigen), wenngleich wohl durch Publikums-Borniertheit provozierte bzw. inspirierte Vorwarnung im Programmheft) und eine etwas größere Gegenspiel-Widerspenstigkeit des jungen Paares erstreckt, die andeutet, daß ein junges Paar heute vermutlich anders reagieren würde oder könnte, daß es wohl notwendig aus der Rolle fallen und ebenfalls
performen müßte, hier sich aber schlicht überfahren, an die Wand gespielt, als Requisit fast mißbraucht, findet, den Spielenergien des Paares, das furios agiert, machtlos ausgeliefert ist letztlich.
Es bleibt bei jenen "Infusionen", die dann sehr schroff und jäh wieder eingefangen werden, wenn das Paar in die Rollen zurückschlüpft , die für es vorgesehen sind ("Und weiter im Text"). Auf diese Weise mag der Eindruck des "Vomblattspielens" sich hier und da sogar noch verschärfen, der aber gerade von einer kurz angespielten "Variante" dazu hervorgerufen wird. Ganz ähnlich mag es mit der Laageschen "Interpretation", von der es zu wenig gäbe, beschaffen sein, denn besagte "Varianten" eröffnen kurz soetwas wie einen Raum, um dann sprichwörtlich gleich wieder vor den Baum gefahren zu werden (wie das Zählen der Boxrunden geht das das eine ums andere Mal -bis zur Benommenheit am Schluß (bestenfalls)); das Paar performt gerade nicht, und das rückt es, wie der KN-Kritiker es auch schreibt, tatsächlich -unbequem eigentlich- in unsere Nähe. Kommen wir nun zu dem Punkt, an dem ich Maike Schillers Beinaheausruf "Albee ist der Gott des Gemetzels" geradezu als verräterisch empfinde, und damit auch zu jenem Punkt, warum ich die Inszenierung in ihrer Wirkung letztendlich doch in der Nähe, Zupf am Etikett !, eines kleinen Etikettenschwindels auffasse. Den Abend als ein energetisches, mithin (wie Ivan Nagel) als musikalisches Phänomen zu sehen, als etwas, was ein Paar zum Beispiel erst einmal mobilisieren und einer (zahlenmäßig) überlegenen wie über den Kopf gehenden Menschenmasse bzw. Natur entgegenbringen können muß, sehr wohl als Leistung verstanden, dafür lassen sich auch zu dieser Inszenierung (nicht zuletzt in der KN-Kritik) zahlreiche Indizien finden, ja Belege wohl; die Performer (Schrader/Striesow) für das Paar und die Schauspieler Schrader/Striesow/Isreel/Krause für uns ZuschauerInnen leben dadurch beziehungsweise (in ihrer Berufsausübung uns gegenüber) davon, diese Energien , ua. auch als geschlechtliche spürbar werden zu lassen, aber möglicherweise auch auf eine Art Wettrüstungslogik verweisen, ob nun mehr zu einer solchen analog / parallel laufend, eine solche speisend, aus einer solchen gespeist. Mein Problem mit dieser Inszenierung liegt eher darin begründet, daß ich eigentlich nicht recht sehe, daß und warum sie gen Ende, gen "Austreibung" noch eskalieren kann bzw. muß, wenn mitsamt Naturalismus quasi jedes bißchen Psychologie und Nachempfindbarkeit aus dem Konzept getilgt scheint; gerade weil es Maria Schrader und Devid Striesow, ich will ihr Sternzeichen "Waage" hier nicht aussparen (auch wenn das tatsächlich ein marottenhafter Einschub meinerseits ist), so gut schaffen, das so verroht scheinende Gleichgewicht immer wieder, von
Boxrunde zu Boxrunde zu Runden in der Box (diese bleiben ja letztlich sprichwörtlich der Fahrradfahrt von Nick um den Baum herum vorbehalten) neu zu justieren, wirkt das Ende dazu merkwürdig gezwungen, seltsam untermotiviert, zumal der Zündstoff dazu, Süße und Nick, kaum noch lodert (bei "Austreibung" stellt sich ja auch die Frage, ob diese sich nicht analog zu Peter in der "Zoogeschichte" auf das junge Paar beziehen könnte), kaum noch Kontur und Spur des Abends zeigt. Bleibt dann aber nicht im Endeffekt ein fahler Beigeschmack und kaum mehr als ein verquälter Rezavorgänger ??
Leserkritik: Virginia Woolf? Hamburg
Karin Beier inszenierte am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ mit Josefine Israel, Matti Krause, Maria Schrader und Devid Striesow. Ein Beziehungsdrama bestehend aus einem furiosen Feuerwerk von Dialogen, das mögliche Abgründe zwischenmenschlicher Beziehungen vor Augen führt. Das Stück besteht aus wechselnden, dramatischen Beziehungskonstellationen, in die die vier Personen verstrickt sind. Martha (Maria Schrader) und George (Devid Striesow) präsentieren endlose, teils heftige Streitszenen. Diese Eskalationen vollziehen sich in atemberaubendem Tempo und spitzen sich im Laufe des Stückes zu lebensbedrohlichen Auseinandersetzungen zu. Bereits mit Beginn des Stückes wird deutlich wie sehr Martha und George sich verachten und hassen. Georges sarkastische und hintergründige Angriffe sind oft nur passive Gegenwehr auf Marthas herausfordernde Attacken. In dieses Spiel gegenseitiger Verletzungen und Demütigungen werden Nick (Matti Krause) und die Süße (Josefine Israel) nach Belieben von Martha und George einbezogen. Nick und die Süße sind wesentliche Elemente in den „Gesellschaftsspielen“ von Martha und George, da sie verdeutlichen, dass auch beliebige Dritte in die gleichen Fallen tappen („Gästefalle“) und somit die Ausweglosigkeit in Marthas und Georges Beziehung Normalität ist, die auch andere Personen trifft. In der Ohnmacht Nicks und der Süßen diesen Spielen nicht entrinnen zu können, spiegelt sich die Mächtigkeit und Unausweichlichkeit der „unerträglichen Gesellschaftsspiele“ aus denen sich Martha und George auch nicht befreien können. Was Maria Schrader und Devid Striesow sich da an Auseinandersetzung über zwei Stunden auf der Bühne bieten ist phänomenal und eine Sternstunde des Theaters. „CHAPEAU“!!! Bewundernswert ist wie Matti Krause und Josefine Israel in diesem Setting nicht zu Statisten deklassiert werden, sondernd ihre Rollen glaubwürdig und überzeugend gestalten. Diese Fähigkeit ist in meinen Augen fast höher zu bewerten als die überragenden schauspielerischen Leistungen von Maria Schrader und Devid Striesow. Gespielt wird dieses Stück auf großer karger Bühne (Thomas Dreißigacker) fast ausschließlich an der Rampe. Eine Form die diesem Beziehungsdrama absolut gerecht wird, nur insgeheim hätte ich mir eine kleinere Bühne gewünscht, um diesem Gefecht noch unmittelbarer ausgeliefert zu sein. Im Hintergrund der Bühne ein kahler Baumstamm vom Boden bis zur Decke, der den Raum in zwei Hälften teilt, wie eine Grenze oder Mauer. Dieses Sinnbild wird durch den imaginären Sohn im Laufe des Stückes deutlich. Der imaginäre Sohn ist der Wunsch beider nach einer erfüllten Zweisamkeit und eine verborgene Sehnsucht, so leidenschaftlich, wie ihre verletzenden und demütigenden Attacken. Doch diese imaginäre Verbundenheit zwischen Martha und George, wird durch die imaginäre Tötung des Sohnes, dem brutalsten Machtinstrument, beendet. Es folgt eine zärtliche Zuwendung Georges zu Martha mit gefühlvoller Stimme „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ Es besteht die Möglichkeit das Gefühle der Angst geäußert und mit Verständnis aufgenommen werden. Karin Beier bleibt eng am Text Albees und vertraut auf die Kraft und das nuancierte Spiel ihrer Darsteller*innen, dieses Beziehungsdrama mit allen seinen Abgründen, Demütigungen, Verletzungen, enttäuschten Hoffnungen sowie labyrinthischer Abhängigkeit und Verbundenheit emotional ergreifend auf die Bühne zu bringen. Ein Abend, den man nicht vergisst und der großes Schauspieler*innen-Theater auf die Bühne brachte, so wie es sich Sophie Rois in Probleme, Probleme, Probleme ersehnte. Diesen Abend sollte man nicht versäumen, denn solche Sternstunden schauspielerischer Höchstleistungen werden nicht häufig geboten.
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