Tod für so viel Verwegenheit

von Michael Wolf

Berlin, 19. Januar 2019. Es war Bertolt Brechts schwierigstes Stück. Fast zwanzig Jahre arbeitete er an "Leben des Galilei". Schwer krank musste er die Proben am Berliner Ensemble 1956 abbrechen, die Premiere erlebte er nicht mehr. In die unterschiedlichen Fassungen haben sich seine persönlichen Lebensumstände und die Weltgeschichte eingeschrieben. Zu Beginn der Nazizeit setzte Brecht große Hoffnung in deutsche Wissenschaftler. Er glaubte, sie würden der Wahrheit verpflichtet bleiben und so der faschistischen Propaganda etwas entgegensetzen. Eine Hoffnung, die sich schon vor der industriellen Vernichtung von Millionen Menschenleben als verfehlt erwies. Aber nicht nur die deutsche Wissenschaft, die Forschung per se erschien Brecht nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki verdächtig.

Die Wissenschaft und die Gräuel

Seine eigene Erfahrungen im US-Exil zu Zeiten des Kommunistenhassers McCarthy, der stalinistische Wahn und die Niederschlagung des Aufstandes am 17. Juni 1953 schürten weiter die Unsicherheit über die angemessene Zeichnung des Renaissance-Wissenschaftlers Galilei, der aus Angst vor der Inquisition seine Überzeugungen verriet. Welche persönlichen Risiken sollte man für die Verteidigung der Wahrheit eingehen? Und ist der wissenschaftliche Fortschritt angesichts der Gräueltaten, zu denen sie führen können, überhaupt verfolgenswert?

Galileo 560 Matthias Horn uOhne Büßer-Kutte: Jürgen Holtz als Galilei © Matthias Horn

Nun bringt Frank Castorf den Stoff auf die Bühne des Berliner Ensembles. Eine brisante Kombination. Als er vor vier Jahren den "Baal" inszenierte, verfügten Brechts Erben nach wenigen Vorstellungen die Absetzung wegen Urheberrechtsverletzung (zum Prozessbericht von 2015). Wohl zur Absicherung wird der Text nun "von und nach Bertolt Brecht" gespielt. Aber das wäre kaum nötig gewesen, denn Castorf bleibt nah am Original dran, oder zumindest an den Zweifeln des Autors. Vor allem im ersten Teil des Sechsstünders nimmt er sich merklich zurück, lässt erstaunlich stringent und fast etwas betulich spielen.

Jürgen Holtz und die Spuren eines Lebens

Grund hierfür mag der Hauptdarsteller sein: Jürgen Holtz gibt den Galilei. Mit sichtlicher Freude nimmt er die Bühne in Beschlag. Gerissen zieht er dem geizigen Kurator seiner Universität 500 Scudi aus der Tasche, beharrlich verteidigt er seine Forschungen vor Banausen und Pfaffen. So einer lässt sich nicht mal vom Papst gängeln und ist erst recht kein Rädchen im Getriebe der Castorf'schen Drehbühne. Lieber lässt er seine Kollegen um ihn als Fixstern kreisen.

Galileo5 560 Matthias Horn uIn den Fängen der Inquisition: Jeanne Balibar als Galilei © Matthias Horn

Schwer sitzt er auf seinem Stuhl, erzeugt selbst Gravitation, hat seine ganze Existenz mitgebracht. Und er zeigt sie uns sogar. Kaum auf der Bühne zieht er seine schwarze Büßer-Kutte über den Kopf und präsentiert seinen nackten Körper. Und da stecken sie, die Spuren eines Lebens, die Furchen, die Abwege, doch zuallererst ist da die Präsenz, die Leibhaftigkeit einer Geschichte. Als wollte Holtz uns sagen: Seht, durch diesen Körper hindurch muss jeder Satz, und auf dem Weg wird eine jede Silbe auf ihre Tauglichkeit geprüft. Unwichtig, dass die Souffleurin dem 86-jährigen oft zu Hilfe kommen muss. Holtz lässt sich nicht hetzen, er nimmt sich Raum und Zeit, vor jeder Replik einen minimalen Abstand einzunehmen, eine kleine Differenz, ein Horchen um die Wahrheit tief unten im Klang zu finden.

Das Theater und die Pest nach Artaud

Womit wir uns Antonin Artaud annähern, aus dessen Nachlass Castorf sich für seine Fassung bedient hat. Der Abend heißt im Untertitel "Das Theater und die Pest" nach einem Vortrag des französischen Surrealisten. Darin schildert er, wie städtische Ordnungen zu Pestzeiten rasant zerfielen und dionysischen Ausnahmezuständen wichen. Ähnliches fordert Artaud von der Kunst. Sein Theaterbegriff beschwört die Auflösung der Zivilisation durch die Mittel der Kultur, um auf tiefere, verborgene Wahrheiten zu stoßen. Auch im "Galilei" bricht die Pest aus. Stefanie Reinsperger und Sina Martens beißen sich gegenseitig rottriefende Beulen vom Körper. Da ist es, das Theater der Grausamkeit.

Castorf setzt beide Unternehmungen parallel: Galilei strebt mit Mitteln der Wissenschaft, Artaud mit denen der Kunst nach Erkenntnis. Nicht zuletzt ist seine Inszenierung eine Selbstbefragung, eine Vergewisserung über die Relevanz, die Macht und Legitimität von Kunst. Er setzt an diesem Abend das Berliner Ensemble in den Mittelpunkt der Welt, um zu falsifizieren, ob es diesen Ort verdient hat.

Galileo2 560 Matthias Horn uWer vom Baum der Erkenntnis nascht: Szene im Haus des Galilei mit Rocco Mylord, Stefanie Reinsperger und Jürgen Holtz © Matthias Horn

Dafür bringt er nach der Pause doch noch seine Maschine in Gang. Aleksandar Denić hat ein hölzernes Teleskop auf seine Drehbühne gestellt. Daneben ein zweistöckiges Haus, ein Pavillon, ein paar Bretterschläge; auch die obligatorischen Leinwände zur Übertragung der Live-Videos dürfen nicht fehlen. Genau wie Insidergags und ironische Seitenhiebe. So müssen sich Wolfgang Michael und Aljoscha Stadelmann in Zeiten von #metoo den Vorwurf ihrer Kolleginnen gefallen lassen, ihre Redezeit überschritten zu haben. "Die Sina [Martens] versteht doch sowieso viel besser, was der Frank meint."

Triumph auf der Foltermaschine

Im Zentrum aber stehen nun immer wieder Jeanne Balibar und Andreas Döhler. Sie sind für die theoretische Grundierung des Abends zuständig, fungieren als Antipoden. Balibar gibt die ästhetische wie wissenschaftliche Fundamentalistin, kreischt, bellt und faucht für ihre Sache. Noch auf der Foltermaschine geschnallt hat ihr Leiden etwas von einem Triumph. Döhler dagegen wirkt verzagt, ängstlich. Als habe ihn eine Ahnung befallen, dass die Erkenntnis am Ende dieses Experiments verheerend ausfallen könnte. Einmal mehr zitiert er Artaud: "Am Ende kommt die Rache, kommt der Tod für so viel Verwegenheit, für eine so unwiderrufliche Missetat."

Aber nein! Hier kommt das Ende anders, hier kommt es leicht, verspielt und erstaunlich zuversichtlich. Mehr soll nicht verraten werden. Nur so viel noch: Unglücklich das Land, das diese Künstler nötig hat. Nur noch unglücklicher das Land, das sie nicht hat.

 

Galileo Galilei – Das Theater und die Pest
von und nach Bertolt Brecht, mit Musik von Hanns Eisler
Regie: Frank Castorf, Bühne: Aleksandar Denić, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Musikalische Einstudierung: Jörg Gollasch, Sounddesign: William Minke, Videodesign: Jens Crull, Andreas Deinert, Live-Kamera: Andreas Deinert, Licht: Ulrich Eh, Dramaturgie: Frank Raddatz.
Mit: Jürgen Holtz, Andreas Döhler, Jeanne Balibar, Bettina Hoppe, Sina Martens, Wolfgang Michael, Rocco Mylord, Stefanie Reinsperger, Aljoscha Stadelmann.
Premiere am 19. Januar 2019
Dauer: 6 Stunden, eine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Kritikenrundschau

André Mumot gab in "Fazit, der Kultur vom Tag" auf Deutschlandfunk Kultur am Premierenabend (19.1.2019) kurz vor dem Ende einen Zwischenbericht: die Inszenierung habe überraschen werkgetreu begonnen und dann immer mehr das Chaos "aufgesaugt" und sich "auch immer mehr dem Chaos und der Raserei hingegeben", wie man es von Castorf kenne. Jürgen Holtz' Auftritt sei "rührend und großartig". Holtz mit Charme und Schalk und einer großen Nachdenklichkeit. Der anfang mit der "traditionellen Brecht-Aufführung" funktioniere gut, aber insgesamt bemerke man, dass die Aufführung noch nicht fertig sei. Der zweite Teil sei grob, chaotisch und "langweilig".

Der Abend "galoppiert" über "Seiten- und Nebenwege, verläuft sich bisweilen in ellenlangen Monologen und verliert hier und da den Faden. Zusammengehalten wird die sechsstündige Tour de Force von der hellwachen Souffleusse Christine Schönfeld", berichtet Cora Knoblauch für rbb 24 (20.1.2019, 9:07 Uhr). "Wenn auch die Bühne des BE für das detailreiche und massige Bühnenbild des Castrof-Teams zu klein erscheint – mit den Schauspielern aus diesem Haus hat Castorf ein Ensemble der ersten Liga an der Hand."

Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (online 20.1.2019, 10:03 Uhr) nutzt seine Besprechung vor allem für eine Eloge auf die Darbietungskunst von Jürgen Holtz am Beginn und im Finale dieses Abends. "Gegen das, was auf einem Quadratzentimeter des Holtz-Gesichtes passiert, setzt Castorf seine wuchtige Bühnensprache der finster-erotischen, verzweifelt-kichernden Entäußerung, die er hier aber routiniert wie ein Fitnessprogramm abfordert." Dabei wirkten die Schaustellungen des Ensembles wie "ein Echo früherer Castorf-Entdeckungsreisen und -Entgleisungen". Kurzum: "Von den sechs Stunden" dieser Inszenierung "können diesmal vielleicht zwei empfohlen werden. Diese aber sind ein Ereignis."

"Im Grunde arbeitet sich Castorf am Brecht-Artaud-Dualismus schon seit Jahrzehnten ab – komplexe Gedankengänge über exzessive Spielleidenschaft nicht nur im Bewusstsein, sondern auch im Unterbewusstsein der Zuschauer zu verankern", schreibt Anke Dürr für Spiegel Online (20.1.2019) und lobt die dramaturgische Anlage des Abends, den Hauptdarsteller Jürgen Holtz und die "mehr oder weniger systematische Überforderung der Sinne". Aber Brechts Stückhandlung scheine "Castorf gelangweilt zu haben, etliche Brecht-Szenen wirken uninspiriert und schlecht geprobt. Castorfs altes Volksbühnenensemble hatte eine gewisse Routine darin, so etwas zu überspielen oder gar für sich zu nutzen, hier geht es zu Lasten der Schauspieler." Trotzdem erschien Anke Dürr der zweite Teil "weniger zäh". Vielleicht sei das der Artaud-Effekt: "Der Verstand ergibt sich, man liefert sich dem Geschehen erschöpft und etwas willenlos aus."

Jens Bisky schreibt in der Süddeutschen Zeitung (online 20.1.2019, 18:43 Uhr): Brecht habe sich "sich seinen Vernunfthelden als prächtigen Mann vorgestellt". Jürgen Holtz gebe ihm "eine Kraft, die nichts Triumphierendes hat und deswegen umso überzeugender wirkt", ihm glaube man "vom ersten Augenblick, dass er weiß, wie die Dinge auf der Erde laufen. Die neue Zeit beginnt mit einem gebrechlichen Leib." Doch während die ersten neunzig Minuten vergingen "wie im Fluge", "voller schöner Theateraugenblicke" seien, und die Galilei-Sätze "frisch" geklungen hätten, bleibe "die Spannung zwischen Brecht und Artaud" ein "Programmhefteinfall", "routiniert inszeniert, aber doch ein Gewitter ohne Blitze". Allerdings begeistere zuletzt doch "die Kaskade" von klugen Schlüssen.

Sascha Ehlert schreibt in der taz (online 20.1.2019): Für Jürgen Holtz zu Beginn werde sich der Abend am Ende gelohnt haben. So "ruhig und melancholisch", wie die Brecht-Hälfte geraten sei, so wild sei die Artaud-Hälfte. Es werde "gerannt, geschrien, Gesichter "eskalieren" im Kamerabild zu Fratzen. Die theoretischen Texte Artauds seien ein stetiger Tanz auf dem Vulkan und so gerate das Stück vor allem nach der Pause zunehmend aus den Fugen. Dass sich Castorf an diesem Abend "offenbar auch mit der (eigenen) Sterblichkeit" auseinandersetze, werde in den religiösen Bezügen deutlich.

Für Reinhard Wengierek in der Welt (online 21.1.2019, 00:55 Uhr) klingt die Begegnung Brecht-Artaud "nach einem Paar aus dem Tollhaus". Eigentlich sei es genial, das "moralisierende Biopic um den epochalen Mathematiker" mit Artaud zu versetzen, "der die Metaphysik durch die Haut in die Gemüter des Publikums drücken will", schreibt Wengierek, aber bei dem "raffinierten Autorenmix" sei ein "erzählerisch wie philosophisch gigantisches Wirrwarr" auf "vollgestellter Drehbühne" herausgekommen. Ein Personal "fast ohne Figurenzuschreibung" in "aberwitzigen sexy Glitzerklamotten" habe sechs Stunden lang "zwischen Wahn und Klarheit, Heulerei, Trallala und hohem Ton" geschwitzt. Der zweite Teil der Horrorshow habe dann nurmehr wie "eine Reihe von gähnend aneinandergeklebten Bildchen" gewirkt. Ganz toll jedoch, ganz ohne Verfremdung, mit biblischer Wucht, der "einzigartige, ebenso mürrische wie weise Jürgen Holtz".

Auch Christine Wahl beginnt ihre Besprechung im Berliner Tagesspiegel (online 21.1.2019, 8:58 Uhr) mit einer Hymne auf Jürgen Holtz, "wirklich eine Idealbesetzung" für den "widersprüchlichen Galilei". Der Beginn sei erstaunlich "Brecht-werktreu". Erst nach der dritten Szene nehme der Abend "die erste Abzweigung". Mit Artaud diene die Pest als "Einfallstor fürs Irrationale". Die Verbindung zwischen Artaud und Brecht stelle dann Holtz aus dem Off mit Heiner Müller-Texten her. Castorf sei sicher nach wie vor der Theatermacher mit den "inspirierendsten Text-Konfrontationen", aber am BE merke man "deutliche Energieschwächen". Nach der Pause erreiche das "ausufernde Mäandern" selbst für "Castorf-Verhältnisse noch einmal eine neue Strapazendimension".

"Eine Welt will sich hier nicht auftun", findet Eberhard Spreng im Deutschlandfunk (21.1.2019.) Angesichts des barocken Theatertorsos stelle sich die Frage, ob dieser Galilei einmal das künstlerische Niveau von Castorfs "Les Misérables" erreichen werde? "Vielleicht nicht, denn dieser Castorf-Inszenierung fehlt es an produktiver Reibung am deutschen Klassiker, an Brecht, dem Ehrenpatron des Berliner Ensembles."

"Regiedienst nach Vorschrift", diagnostiziert Irene Bazinger und nennt den Abend eine "herz- wie lust- wie hirnlose() Nummernrevue". Castorf lasse monologisieren, dozieren, "auf Gedeih und Verderb deklamieren", schreibt sie in der FAZ (23.1.2018). "Man schaut in Nahaufnahmen tüchtigen, gut ernährten Stadttheater-Darstellern zu, wie sie keifen und zetern, schwitzen und schreien, toben und trampeln, einfach all das treiben, was sie als Gegenbild zur 'bürgerlichen Unterhaltungskunst' und als radikal fortschrittlich-zivilisationskritisch erachten. Der Pest, die Artaud gemeint hat ('denn indem sie die Menschen dazu bringt, sich zu sehen, so wie sie sind, lässt sie die Maske fallen, deckt sie die Lüge, die Schwäche, die Niedrigkeit, die Heuchelei auf'), ist das in keiner Weise vergleichbar."

Peter Kümmel schreibt in der Zeit (online 23.1.2019):  Jürgen Holtz als nackter, mit Wasser übergossener Galilei wirke wie ein "Chrononaut, der es gewohnt ist, mit dem ganzen Leib zu forschen", und der sich vor dem Aufbruch in eine neue Zeit "den Schmutz der Gegenwart" von der Haut waschen lasse. Die zweite Heldin neben Holtz: die Souffleuse Christine Schönfeld, die das disparate Ganze wundersam überblickt; sie sei, "selbstlos um Zusammenhang bemüht, unterwegs von einem Bedürftigen zum anderen, die geheime, demütige Regisseurin des Abends". Castorf konfrontiere zwei Arten, die Welt zu sehen: Einerseits der "trockene, immerzu Überblick und Zusammenhang herstellende" Brecht, andererseits der "wogende, dem Wahnsinn zulachende Verwesungskünstler Artaud". Bloß ignorierten die Teile einander. Sie werden von den "natürlich grandiosen Spielern uniform weggefaucht". Wie seine Inszenierung aus unserer Zeit auf Galilei blicke, sehe Castorf aus der Zukunft auf sich selbst, deshalb: "Der Frank is doch tot." Seine jüngste Inszenierung ist das musterhafte Zeugnis eines weißen alten Mannes, der nicht loslassen kann. Man könne sagen: "Es hat für Castorf die Phase des Abschiednehmens begonnen."

 

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