Unter Marginalisierten

von Jens Fischer

Hamburg, 19. Januar 2019. Schwarzer Raum, illuminiert in Dämmerstimmung. Langsam kommt die Drehbühne in Bewegung. Wie ein Karussell lässt sie einen ausgewachsenen Lkw rotieren. Nervenzerrende Musik macht deutlich, dass der Ort des Geschehens ein beängstigendes Viertel sein muss. Irgendein Umschlagplatz globaler Warenströme.

Das Elend der Online-Shopping-Auslieferer

Wider die allgemeine Morgenmuffeligkeit im erwachenden Fernfahrermilieu absolviert Maria wie ein Affenbaby eine Gymnastikeinheit an der Fahrerhaustür des Brummis. Geschlafen hat sie auf der Armaturenbrettablage. 18 Jahre jung ist die Frau und in ihrem unbehausten Leben schon fast ganz unten angekommen bei den Erniedrigten und Beleidigten in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Tagsüber reinigt sie Duschen in einem Fitnessstudio und nennt abends nicht mehr ihr Eigen, als das, was sie am Leib trägt – und was sie im Leib trägt: ein sechs Monate altes Baby. Scheint naturgemäß also in bester Hoffnung zu sein. So macht Simon Stephens sie zu seiner Heldin im emanzipatorischen Kampf gegen soziale Degradierung.

Maria1 560 KrafftAngerer uHeldin der Erniedrigten und Beleidigten der globalisierten Ökonomie: Maria (Lisa Hagmeister)
© Krafft Angerer

Sein neues, mit melodramatischen Effekten gespicktes Stück hat er auch gleich "Maria" betitelt. Lisa Hagmeister spielt die Hauptrolle am Thalia Theater. Versteckt Unsicherheit hinter forschem Gehabe, ist meist aber wirklich tollkühn unerschrocken. Und kindlich gerade heraus. Nie gibt sie auf. Hat das Herz am rechten Fleck. Und so viele Fragen im Kopf. Die ohne Unterlass aus ihr heraussprudeln. Zu Beginn ist ihr Reden vor allem eines gegen die Angst vor der Geburt und dem Mutterwerden. In Stephens' Text sucht sie dazu einen Arzt auf.

Der erscheint in der Uraufführungsinszenierung Sebastian Nüblings als Mechaniker beim Reifenwechsel. Ist er durch seine behauptete jemenitische Herkunft ebenfalls ein Deklassierter? Ein Compañero? Die den Lkw entladenden Packer sind das auf alle Fälle. Ihre Huschhusch-Choreografie ist gleich ein Verweis auf das Elend der Auslieferer prall gefüllter Online-Shopping-Warenkörbe. Die Empfänger machen sich derweil fit für den Konsum mit Tai-Chi im Technorhythmus und Gute-Laune-Hüpfern mit Cheerleading-Puscheln. Marias prolliges Umfeld tobt hingegen gern mal zu harten Beats die eigene Marginalisierung aus den Körpern. Wie schon in Nüblings letzter Stephens-Adaption Rage. "Das Problem ist – wie üblich –, dass uns niemand liebt", hieß es dort programmatisch, nun ist auf einer weiteren Lkw-Reklameplane zu lesen: Love is all you need.

Ping-Pong-Dramaturgie

Das gilt natürlich auch für Maria. Macht sie doch Bekanntschaft mit der geschmeidigen Brutalität der Arbeitswelt. Wegen ihres ärmlichen Outfits und Zuspätkommens droht ihr der Rauswurf. So wandelt sich ihr Reden zu einem gegen die Angst vor der totalen Joblosigkeit. Maria lädt sich frustprall mit Amoklaufideen auf, entsagt denen aber sogleich wieder. Sie kennt ihre dramatische Vorbildfunktion. Viel wichtiger ist ja auch, eine Begleitung für die Zeit im Kreißsaal zu finden. Der Vater des Kindes kommt nicht infrage, denn Maria weiß leider nicht, wer das ist. Oma will nicht mit, sie mag keine Krankenhäuser. Die beste Freundin befürchtet Ärger mit ihrem Liebsten.

Maria3 560 KrafftAngerer uSelbstinszenierung im Chatroom oder Die Suche nach analogem Kontakt in einer digital durchökonomisierten Welt. @ Krafft Angerer

Marias Mutter ist tot. Den an der Supermarktkasse arbeitenden Vater spricht sie bei seiner Zigarettenpause an. Augenklimpernd beschämt steht er da, kann nicht mal ein Eis spendieren. Wird also wohl auch beim Entbinden keine Hilfe sein. Aber ein Blick auf die familiäre Kommunikation vermittelt einen typischen Eindruck von Stephens Ping-Pong-Dramaturgie. Maria: Hast du in letzter Zeit irgendwelche Dokus gesehen? Vater: Nein, Liebes. Maria: Ich habe heute Morgen eine über Amanda Knox angeschaut. Vater: Wirklich? Maria: Ja. Vater: Wie war sie? Maria: Sie war gut. Vater: Das ist gut. Maria: Ich versuche jeden Tag eine Doku anzuschauen. Vater: Warum? Maria: Ich finde einfach, das wäre besser, als ständig auf Facebook zu sein. Vater: Ja. Wäre es wahrscheinlich.

Wehen und Wirtschaftsstrukturen

Da blende ich jetzt mal aus. Es mag der Realität hübsch abgelauscht sein, aber die zumeist nur von zwei Personen geführten Dialoge des Stücks sind eher langatmig banal denn erhellend pointiert. Teilweise unangenehm klischeehaft. Werden auch nicht zu brodelnd Szenen verdichtet, sondern zerfließen. Vitalitätsfunken schlagen nur Maries unverstellt leidenschaftliche Suche nach Haltepunkten – und Oma (Barbara Nüsse). Als vom Leben ernüchterte Frau geht sie an die Rampe und sprechsingt in betörend rauer Kehligkeit "Love will tear us apart" von Joy Division. Woraufhin Maria ihr Kind bekommt. Als Hörspiel ist das mitzuerleben. Nun redet sie, allein unter Ärzten, gegen die Schmerzen der Wehen an. Wenn ihr die Worte ausgehen, zitiert sie Weisheiten aus den gestreamten TV-Dokus. Das ist dann auch lustig, wenn der Arzt ihr den Atemrhythmus einpaukt und sie hechelt: "Durch die heutigen Wirtschaftsstrukturen ist es so weit gekommen, dass sich Arbeit nicht lohnt und nicht mal Geldverdienen sich lohnt, sondern nur Besitz."

Selbstinszenierung mit Perversionseinlagen

Im zweiten Teil des Abends wechselt Maria dann den Job. Moderiert als Cam-Girl die Kontaktversuche der Sozio- und Psychopathen in ihrem Chatroom. "Echte" Geschichten wollen die Kunden von ihr hören, vor allem aber Aufmerksamkeit. Maria bleibt unverrückbar freundlich, offen, neugierig. Zu beobachten ist das auf extra installierten Bildschirmen. Nur: All dem Selbstinszenierungshokuspokus einer knappen halben Aufführungsstunde zu lauschen, ist trotz Perversionseinlagen ähnlich ermüdend wie es die zuvor geführten Gespräche waren. Denn erneut sind vor allem Klischees zu erleben, diesmal zum Thema soziale Isolation, wenn etwa ein einsamer Maskenmann sich stranguliert und ein Pizzafresser Küsse über die Webkamera austauschen will.

Zum Finale redet Maria gegen das Sterben ihrer Oma an. Die noch einmal aufspringt, wie eine Ballerina lostanzt und dann in ihren Armen den Odem aushaucht. Was auch Hagmeister erstmals zum Schweigen bringt. Sie hat triumphiert – in Nüblings spekulativer Bebilderung eines allzu blassen Textes über die Suche nach analogem Kontakt in einer digital durchökonomisierten Welt.

 

Maria
von Simon Stephens
Deutsch von Barbara Christ
Uraufführung
Regie: Sebastian Nübling Bühne: Evi Bauer Kostüme: Pascale Martin Dramaturgie: Julia Lochte Musik: Lars Wittershagen
Mit: Lisa Hagmeister, Thomas Niehaus, Barbara Nüsse, Tim Porath, Sylvana Seddig und Jirka Zett
Premiere am 19. Januar 2019
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

 

Kritikenrundschau

"Nübling hat schon etliche Stücke von Simon Stephens uraufgeführt und besitzt ein Gespür für dessen Mosaik-Technik. Er strafft und bringt die Dialoge mit viel Musik und Bewegung in Fluss", berichtet Katja Weise im NDR (20.1.2019). "Dass die Uraufführung so gut gelingt, liegt zum großen Teil an Hauptdarstellerin Lisa Hagmeister: Sie verkörpert den Text. Selbst Passagen, die beim Lesen plakativ wirken, überzeugen plötzlich durch ihre Kraft."

Eva Maria Bauers Bühne verschaffe Marias Passionsgeschichte mit grandiosem Effekt das soziale und gesellschaftliche Fundament, so Michael Laages im Deutschlandfunk (20.1.2019). Sebastian Nüblings Inszenierung fokussiere "geschickt und schnell die szenischen Miniaturen vor dem kreisenden Truck". Laages lobt Lisa Hagmeister und Barbara Nüsse und schließt: "Gerade an Abenden wie diesem und in solchem Spiel erweist sich auch die Kraft des Theaters: einer Welt, der die Menschlichkeit verloren geht, steht hier echtes Leben gegenüber. "

Nübling mache aus "Maria" mehr als die Scripted-Reality-Shows im Billigfernsehen, findet Stefan Grund in der Welt (21.1.2019). "Durch die Entscheidung, den Laster nicht von der Bühne zu rollen, sondern ihn immer wieder in verschiedenen Kontexten zur Projektionsfläche zu machen, kommt es zu hübschen Verfremdungen. Die Plane wird im weiteren Verlauf auch mal zur Videoleinwand." Hagmeister spiele die quasselnde Antiheldin "zum Glück des Publikums derart ungerührt schlicht und intensiv, dass trotz des eher spannungsarmen Verlaufs der Handlung kaum Langeweile aufkommt". Auch helfe, dass die Dialoge bei Stephens gewohnt knackig seien.

 

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