Eine Tonne Zivilisationsschrott

von Gerhard Preußer

Bochum, 19. Januar 2019. Der Abend beginnt mit einem Knalleffekt: Aus dem Bühnenhimmel fällt eine Tonne Zivilisationsschrott auf die Bretter. Plastikmöbel, Kunststoffmatratzen, Styroporverpackungen, Synthetik-Kleidung: das Spielmaterial, in dem wir uns heute alle bewegen. Die Bodenfläche und eine kleine, die Bühne begrenzende Mauer sind bedeckt mit Luftaufnahmen europäischer Städte.

Dem Erfolg Michel Houellebecqs kann sich niemand entziehen, auch kein Theater. Das wusste Johan Simons schon früh. 2005 hat er am Nationaltheater Gent, das er damals leitete, eine Bühnenfassung von Houllebecqs 2001 erschienenem Roman "Plattform" inszeniert und im letzten Jahr die 2015 veröffentlichte satirische Dystopie "Unterwerfung", ebenfalls mit Schauspielern des NT Gent. Diese beiden Bühnenbearbeitungen hat er nun in Bochum zur Grundlage eines neu inszenierten Doppelabends gemacht. In einem Bühnenbild, das Bert Neumann 2005 für die Genter Produktion entwarf.

Niedergang Europas

Was rechtfertigt die Koppelung der beiden Romane? In beiden geht es um den politischen und moralischen Niedergang Europas und den Aufstieg des Islam mit terroristischen und demokratischen Mitteln. Im Zentrum stehen in beiden Romanen Sexualität und die Rolle der Frau: in "Plattform" als Ressource der Ökonomie, in "Unterwerfung" als Objekt der Politik. Jeweils eine brisante Mischung aus Ereignissen der Gegenwart (der Aufstieg der französischen Hotelkette Accor in "Plattform", die französische Präsidentschaftswahl in "Unterwerfung") und den denkbar provokantesten Extrapolationen gegenwärtiger Entwicklungen in eine nahe Zukunft: der Expansion des Sextourismus, dem Aufstieg des Islamismus und der identitären Bewegung.

Plattform 560 TobiasKruse Ostkreuz uAuf der Synthetik-Müllhalde: das Ensemble in einem alten Bühnenbild von Bert Neumann
© Tobias Kruse / Ostkreuz

Johan Simon bleibt bei seinem optisch kargen, auf mehrdeutige Zeichen vertrauenden Stil. Während des ausführlichen Berichts über den ersten sexuellen Kontakt zwischen dem Erzähler Michel und seiner Geliebten Valérie in "Plattform" ziehen die beiden sich nicht gegenseitig aus, sondern an. Die Geliebte von Michels ermordetem Vater ist keine Schauspielerin, sondern ein schwarzbärtiger Mann (Mourad Baaiz), was seinen Annäherungsversuchen an Michel einen besonderen Reiz gibt. Audrey (Mercy Dorcas Otieno), die Frau von Valéries Vorgesetztem Jean-Yves (Guy Clemens), eine Rechtsanwältin und Hobby-Domina, zerschlägt mit erheblicher Wucht den Plastiktisch, an dem ihr Mann die Pläne für einen weltumspannenden Ring von Pauschalreisen mit inkludierter Prostitution ausheckt.

Sprengung des thailändischen Urlaubsbordells

Die Bühnenbearbeitung fügt dem Figurenensemble auch noch eine zusätzliche Figur hinzu: Yassin (Lukas von der Lühe), den Mörder von Michels Vater, der zugleich der Attentäter ist, der schließlich das von Michel, Jean-Yves und Valérie konzipierte thailändische Urlaubsbordell in die Luft sprengt. So erhält die Gegenposition, die islamistische Kritik der westlichen Lebensweise, noch mehr Gewicht. Das Ganze hat erheblichen Witz und Stefan Hunstein als Michel zeigt genüsslich mit fettigen, strähnigen Haaren und Jogging-Hose den hässlichen, aber bei den Frauen erfolgreichen Versager. Er findet die richtige Mischung von Verzweiflung, Larmoyanz und Selbstironie für dieses Houellebecq-Double.

Unterwerfung 560 TobiasKruse Ostkreuz uDer christliche Europäer ist schlaff, der Islam muss übernehmen: Stefan Hunstein in "Unterwerfung" © Tobias Kruse / Ostkreuz

Die Geliebten des Helden, Myriam und Valérie, werden jeweils von Karin Moog gespielt. Auf der Bühne sieht man eine wunderschöne, selbstbewusste junge Frau, die jederzeit zu allen möglichen sexualgymnastischen Übungen bereit ist und dabei auch ihre eigene Befriedigung findet. Man sieht und bewundert sie. Dabei ist sie doch nur eine Männerphantasie des sexualomanischen Erzählers.

"Unterwerfung" in vergröberter Komik

Im zweiten Teil des Abends, in der "Unterwerfung", kommt dieser Stil an seine Grenzen. Die Bühnenbearbeitung lässt den Romananfang, die Universitätssatire und die Analyse der Koalitionsstrategien bei französischen Präsidentschaftswahlen weg und steigt mit der Wahl des Muslims Mohammed Abbes zum französischen Präsidenten im Jahre 2023 ein. Gespielt wird in demselben vermüllten Bühnenchaos wie in "Plattform", aber obwohl sich Francois (wieder Stefan Hunstein) und Myriam (wieder Karin Moog) tatsächlich nackt auf den Matratzen kugeln, während er berichtet, dass Myriam als Jüdin nun nach Israel auswandern musste, lässt die Spannung nach.

Mit dem Rektor der nun islamischen Universität der Sorbonne-Paris III (Mourade Zeguendi) und dessen ihn selbst als Opportunisten entlarvenden Dauergrinsen kommt zwar ein neuer Spaßfaktor ins Spiel, aber Stefan Hunstein vergröbert nun auch die Komik seiner Verzweiflung durch Gebrüll, und die ironisch-politischen Tiraden Houellebecqs werden von den Schauspielerinnen und Schauspielern gedanklich immer weniger bewältigt. Die im hypothetischen Konjunktiv am Schluss vorgetragene Konversion des atheistischen Literaturwissenschaftlers Francois zum Islam war schon zu Beginn von "Unterwerfung" als pantomimische Lachnummer vorweggenommen worden. So bewegt sich der Abend von einem knalligen Anfang zu einem schwachen Ende.

 

Plattform / Unterwerfung
nach Michel Houellebecq
Bühnenfassung: Tom Blokdijk (Plattform), Jeroen Versteele (Unterwerfung)
Regie: Johan Simons, Bühne: Bert Neumann, Kostüme: Nina von Mechow (Plattform), An De Mol (Unterwerfung), Dramaturgie: Koen Haagdorens, Cathrin Rose.
Mit: Stefan Hunstein, Karin Moog, Guy Clemens, Mercy Dorcas Otieno, Mourade Zeguendi, Mourad Baaiz, Lukas von der Lühe.
Premiere am 19. Januar 2019
Dauer: jeweils 1 Stunde 50 Minuten, eine Pause von einer Stunde

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

Für Ulrike Gondorf in "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (19.1.2018, 23:08 Uhr) ist "Plattform" eine Geschichte über sexbesessene Westeuropäer, die keine Überzeugungen und Werte mehr haben. Ein sehr musikalisch, ein organisch sich entwickelnder Abend. "Vielleicht etwas langsam". Ein "paar Striche" hätten "beiden Teilen gut getan". Im zweiten Teil änderten sich Bühnenbild und Personal nicht, das zeige, dass es "weiter bergab" gegangen sei mit "diesen Westeuropäern". Der schon "labile und depressive Mensch" in "Plattform", verhalte sich inzwischen wie "ein neurotisches Kind", das "Vakuum", das sich aus der Sicht von Houllebecq in Westeuropa ausbreite, sei immer größer geworden. Beide Stücke würden in Zukunft einzeln gezeigt werden. Die zunehmende Entleerung, das "Herunterdimmen" sei aber besser zu erkennen, wenn man beide an einem Abend sehe.

In kultur.west schreibt Andreas Wilink: Auf die "umdüsterte 'Plattform'" folge "als Satyrspiel 'Unterwerfung'". Den Kultur-Beamten Michel und nach der Pause den entlassenen Literaturprofessor François spiele grandios Stefan Hunstein: ein "unerwachsener Mann", der seine "Genital-Steuerung ungeniert offenlegt", "hysterisch vor Geilheit", "gedemütigt vom Unglück und vom Glück gewiegt". "Houellebecq und seine Psychopathologien des schlappen westlichen Mannes in einer herrenlosen Schöpfung sollten auf kleiner Flamme garen." Das gelinge "meisterhaft". Simons entdecke bei Houellebecq das Konversationsstück "einer unkultiviert fiesen" Yasmina Reza. "Lässig großzügig, in höherer Heiterkeit und zauberischer Ironie" schaffe er souverän "einfache szenische Auflösungen für Situationen und Kombinationen". Houellebecq, der "Untergangsprophet unseres Fin de siècle", werde zum "Existential-Clown."

Achim Lettmann schreibt auf wa.de, der Online-Plattform des Westfälischen Anzeigers (online 20.1.2019, 18:30 Uhr): Die Bühnenfassung von Tom Blokdijks blicke mit Distanz des Geschehenen auf Houellebecqs "Plattform" (2001) zurück. Viel Prosatext mache das Spiel anfangs "statisch". Simons richte Houellebecqs Kapitalismuskritik wie eine "ethische Schauergeschichte" ein, bei der "Orientierungen überprüft" würden. Die Slapstick-Einlagen täten gut. Es sei "die Realität", die "Angst" mache und im Schauspielhaus die Illusionen raube. Johan Simons zerre an den "Nerven des Publikums". Einen Schritt weiter gehe "Unterwerfung" in der Fassung von Jeroen Versteele. Die Inszenierung mache sich eine "ambivalente Freude" daraus, zu zeigen, wie Profiteure für den Islam gewonnen würden. "Francois erhält eine üppige Pension, sein Kollege wird befördert und darf mehrere Frauen ehelichen."

Jürgen Boebers-Süßmann schreibt in der Bochumer Ausgabe der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (21.1.2019): Die fünf Stunden Dauer des Abends müsse sich der Zuschauer schon "geben", um dieses "herausfordernde, komplexe Päckchen zu stemmen". Simons präsentiere ein Theater am "rasenden Puls der Zeit", das "Entspannungseinheiten" nicht vorsehe. Er bringe Houellebecq als "Schauspieler-zentriertes Theater" mit "aller Drastik", auch mit "Komik" und "nackter Haut" auf die Bühne. Das Ensemble agiere auf "Top-Niveau", allen voran Stefan Hunstein, auch die "Textverständlichkeit" sei "1a". Gegen Ende verliere das Geschehen an Fahrt und Houllebecqs Drastik werde "fadenscheinig".

Max Florian Kühlem schreibt in den Ruhrnachrichten (21.1.2019), Simons, mit dem Bochum endlich wieder einen "grandiosen Regisseur" als Intendanten habe, werfe seine Figuren mit "Knalleffekt" in Houllebecqs "depressive, destruktive, pessimistische Welt". Die Figuren erzählten im Rückblick, nach dem Terroranschlag, die "Geschichte einer familienähnlichen Gemeinschaft, die aus Einsamkeit und Weltekel zueinanderfindet und in all ihrer Kaputtheit auch zu schönen Momenten." Hunstein lege seine Rollen vielleicht etwas zu weinerlich an, sei aber eigentlich die perfekte Besetzung, Karin Moog sein toller Gegenpart.

Regine Müller schreibt in der taz (21.1.2019):  Der Doppelabend greife – "nicht zuletzt durch die fast identische Besetzung" – "erstaunlich stimmig ineinander" und ergebe "in der Summe ein bitterböses, mitunter krachend komisches Untergangs-Crescendo". Simons reduziere Houellebecqs Romane virtuos auf "ihre Essenz": die "sexuelle Frustration des ausgebrannten, von Konsumsucht und Leistungsdruck ermüdeten Westeuropäers mittleren Alters" sowie die "dumpfe Bedrohung, die vom Aufstieg des Islam und den fatalen Verheißungen politischer Radikalisierung ausgehen". Den ganzen Abend über "stolpert und stakst das Personal zwischen dem Müll herum", der den Bühnenkasten bedeckt. In Plattform umgehe Simons "schablonenhafte Opfer- und Täterzuschreibungen" "elegant" mit seinem multinationalen Ensemble. "Hinreißend" beglaubige Stefan Hunstein den "infantil greinenden François", zwischen "Sentimentalität, hilfloser Destruktionswut und sarkastischer Selbstironie". Auch Karin Moog glänze in der "Ambivalenz von rollenspezifischem Anlehnungsbedürfnis und selbstbewusstem Aufbegehren". Mit Mourade Zeguendi sei der muslimische Universitätsrektor "rollendeckend besetzt", der die Vorurteile mit "nonchalanter Glätte" und "eisiger Selbstironie" vorführe, "brillant und witzig", der "eigentliche Clou des Abends".

Johan Simons inszeniere "unangestrengt präzise, leichthändig, mit vielen kleinen schillernden Brechungen", so Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (22.1.2019). "Eine alltägliche Geschichte, deren Schäbigkeit sich umstandslos und unprätentiös vermittelt, die beim Slapstick wie bei Harry Belafonte Anleihen macht." Wie sie die moralische und politische Krise des Westens an die Psychopathologie des Mannes, dessen Angst vor Rollenverlust und dessen Selbststilisierung zum Opfer, zurückbinde, lasse die Inszenierung Unruhe und Unbehagen ausstrahlen. Man könne die beiden Teile unter der Woche auch einzeln sehen. "Doch das Doppel wiegt, durch die Interferenzen und Korrespondenzen zwischen den Stücken, mehr als die Summe beider Teile."

"Johan Simons und seinem Team ist mit diesem verblüffenden, nämlich gar nicht provokant wirkenden Abend (...) ein weiterer Coup gelungen", schreibt Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (24.1.2019). Hauptdarsteller Stefan Hunstein verstehe es mit seinem Spiel "Sympathien für ein scharfsinniges menschliches Wrack zu wecken". "Das An- und Ausziehen wird zum Leitmotiv des Abends; ein wenig, hat man das Gefühl, auch mangels anderer szenischer Einfälle", so Krumbholz: "Jedenfalls geht es eher robust als subtil zur Sache, dafür aber sehr kurzweilig."

 

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