Der Regisseur an der Playstation

von Wolfgang Behrens

23. Januar 2019. Auf S. 106 des anzuzeigenden Buches musste der Rezensent dann doch einmal laut aufseufzen. Der Regisseur Armin Petras sagt da: "Schleef ist der größte Unbekannte der deutschen Theatergeschichte. Egal welchen Zuschauer man fragt, kein Mensch kennt Schleef, niemand. Weder im Osten noch im Westen." Er hat ja recht, es ist schon so. Es gibt im Hinblick auf den Theatermann und Universalkünstler Einar Schleef eine Art Insider-Kreis: diejenigen, die ihn erlebt und mit ihm gearbeitet haben; diejenigen, die sich von seinen Arbeiten haben entzünden lassen; diejenigen, deren eigene Arbeit von ihm inspiriert ist. Die Schleef-Rezeption ist seit dem frühen Tod des Künstlers im Jahr 2001 weitestgehend in dieser "Gemeinde" verblieben, größere Kreise hat sie kaum gezogen.

Gut hundert Seiten später liefert der Lektor, künstlerische Berater und spätere Erbe Schleefs, Hans-Ulrich Müller-Schwefe, eine indirekte Begründung für dieses Verharren in der Unbekanntheit. Müller-Schwefe spricht da von den immer neuen Anläufen und Varianten, mit denen Einar Schleef in seinen Tagebüchern die Ereignisse des 17. Juni 1953 zu fassen suchte, die sich "als letztendlich nicht fassbar" erweisen. "Notwendigerweise verfehlt die Niederschrift das Wesentliche und Eigentliche. Jeder Versuch entwickelt dennoch eine eigene Dringlichkeit. Gerade in dem Verfehlen steckt die Wahrheit."

Cover VordemPalastTatsächlich haftet auch einem der ganz zentralen Bereiche des Schleef'schen Schaffens – seinen Inszenierungen nämlich – etwas dezidiert Ereignishaftes an, das sich der Dokumentation entgegenstellt. Das teilen Schleefs Aufführungen natürlich mit aller Theaterkunst, doch das Problem stellt sich hier verschärft, weil sich die raumsprengende und die unmittelbare Konfrontation mit dem Publikum suchende Arbeitsweise Schleefs im Videoformat mitunter nur noch lächerlich ausnimmt.

Die Erinnerung an diese Inszenierungen ist daher zu einem guten Teil auf die mündliche und schriftliche Weitergabe verwiesen. Aber wer kennt nicht diese Situation: Während sich die Zeugen eines ästhetischen Ereignisses in ihrer Begeisterung gegenseitig immer höher schrauben, wenden sich die nicht gleichermaßen erleuchteten Gesprächsteilnehmer irgendwann glasigen Auges ab – sie können nicht mitrasen, weil sie den Zugang zur eigentlichen Ereignisqualität nicht finden. Und so verbleibt der Ruhm der Inszenierungen im Kreise derer, die sie gesehen haben – und das waren im Zweifelsfall gar nicht so viele.

Enorme Dringlichkeit

In dem jüngst zu Schleefs 75. Geburtstag erschienenen suhrkamp spectaculum-Band "Vor dem Palast. Gespräche über Einar Schleef" wird ein sehr kluger Weg eingeschlagen, um dem Insider-Kreis-Dilemma zu entkommen. Denn die Herausgeberin Corinne Orlowski, Jahrgang 1990, hat keine der Inszenierungen Schleefs gesehen – sie befragt ihre 22 Gesprächspartner also, ohne in die Gefahr zu geraten, gemeinsam Erlebtes auf für andere hermetische Weise wieder hochzuholen. Stattdessen hat sie "interessiert, warum mit seiner [Schleefs] Kunst derart starke Emotionen und Reaktionen verbunden sind. Ich wollte herausfinden, warum seine Kunst polarisiert, wollte wissen, was das Inspirierende, aber auch Abstoßende für die Menschen war, die ihn kannten, die mit ihm arbeiteten, die ihn schätzten."

Und, ja, in den Antworten ihrer Gesprächspartner teilt sich im "notwendigen Verfehlen" des Phänomens Schleef eine enorme Dringlichkeit mit. Das beginnt mit den vielen superlativischen Eingeständnissen: Carl Hegemann nennt Schleefs erste Frankfurter und zugleich dessen erste große Chor-Arbeit "Mütter" von 1986 "eine der besten Inszenierungen, die es überhaupt jemals gab". Der große Schauspieler Jürgen Holtz bekennt, Schleef sei "der Einzige, den ich je als meinen 'Meister' bezeichnet habe, weil er von mir Dinge verlangte, die vorher nie irgendjemand von mir verlangt hatte." Und der ehemalige Frankfurter Intendant sagt über die Person Schleef: "Als er in der Tür stand, erschien er wie Zeus."

Es brodelt

In den in dem Band versammelten Beschreibungen der Arbeiten von und des Arbeitens mit Schleef brodelt es unaufhörlich. Man kann hier einen Künstler kennenlernen, der sich in Denken, Anspruch und Verhalten so vollständig quer zum Theaterbetrieb stellte, dass es geradezu verwundert, dass auch nur eine seiner (ohnehin raren) Inszenierungen herauskommen konnte. Die Schauspielerin Bibiana Beglau erzählt, wie Schleef für seinen Chor alter Männer in der Düsseldorfer "Salome" (1997) mehr Geld herausholen wollte, weil er jedes Chormitglied als integralen Bestandteil seines Ensembles verstand: "Wir haben ihn bis ins Parterre schreien hören. Er hatte seinem Chor das Geld besorgt."

Schleefs spätere Chorführerin Christine Groß berichtet, dass Schleef in den Chor der Frankfurter "Mütter" buchstäblich jede Bewerberin aufgenommen habe."Nach einer Woche Proben habe ich gefragt, ob ich bleiben darf, und er sagte: 'Na, ist doch Ihre Entscheidung, nicht meine. Jeder, der geht, ist mir lieb, jeder, der bleibt, ist mir lieb." Der ehemalige Burgtheater-Intendant Claus Peymann erinnert sich, dass Schleef seine Vetragsverhandlungen beim Schwimmen in der Donau führen wollte. Und Regisseur Sebastian Baumgarten weist auf die Notwendigkeit solcher Querständigkeit hin: "Schleef probte nicht sechs, sieben Wochen wie üblich, sondern drei Monate. Der Gedanke ist richtig. Wenn ich immer sechs Wochen probe, egal, ob es etwas Performatives ist oder eine Oper oder ein Schauspiel oder eine Romanbearbeitung, dann wird immer das Gleiche herauskommen, weil die Bearbeitungszeit die gleiche ist."

Nur die Verachtung fehlt

Das Buch ist prall gefüllt mit Anekdoten und Deutungen, gibt Fingerzeige, woher Schleef seine Inspiration bezog (Bibiana Beglau etwa nennt das Playstation-Spiel "Tekken II" als Vorbild für Bewegungsabläufe in Schleefs berühmter "Sportstück"-Produktion von 1998), schlägt Querverbindungen, indem die Interviewten mit Aussagen anderer Gesprächspartner konfrontiert werden, und beleuchtet mit dem Kunsthistoriker Michael Freitag den Maler Schleef, mit Regine Herrmann (ehemals Akademie der Künste) den Fotografen und mit dem Filmregisseur Heiner Sylvester den sogar Schleefianern fast gänzlich unbekannten Filmemacher.

Wenn etwas fehlt, um dieses schön vielfältige und lebendige Bild Schleefs zu vervollständigen, dann sind es die Stimmen der Feinde und Verächter (auch wenn die nach Schleefs Tod plötzlich sehr kleinlaut wurden). Seltsamerweise sprechen viele der nicht eben wenigen Verrisse von Schleefs Inszenierungen mit einer derartigen Intensität über ihre Gegenstände, dass sich deren Ereignishaftigkeit darin fast besser abbildet als in den meisten zustimmenden Beschreibungen. Ein Band mit gesammelten Kritiken zu Schleefs Theater – das wäre ein Desiderat.

 

Vor dem Palast. Gespräche über Einar Schleef
Herausgegeben von Corinne Orlowski.
Suhrkamp Verlag Berlin, 370 Seiten, 24 Euro

 

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