Vorbereitung auf den Trauerfall

von Heidemarie Klabacher

Salzburg, 11. August 2008. Wenn ich heute beim Spazierengehen nicht auf die Linien zwischen den Pflastersteinen trete, wird morgen mein Flugzeug nicht abstürzen. Wenn ich die Schuhe meines verstorbenen Ehemannes nicht zusammen mit den Hemden und der Wäsche weggebe, wird er wiederkommen: Das ist "magisches Denken". Kinder denken so - oder Verzweifelte.

Darf man nun das Stück einer verzweifelt Trauernden banal nennen, die im Schreiben den Tod ihres Ehemanns und - kurze Zeit später mit der Bühnenfassung - auch noch den Tod der Tochter zu verarbeiten hat? Die Frage allein umfasst schon das ganze Dilemma um das Gastspiel des "National Theatre of Great Britain" mit der grandiosen Vanessa Redgrave bei den Salzburger Festspielen.

Joan Didion, Jahrgang 1935, Prosa-, Dreh- und Sachbuchautorin, Journalistin und Essayistin aus Kalifornien, hat mit "The Year of Magical Thinking" ein berührendes persönliches Dokument vorgelegt. Nach dem Tod ihres Ehemannes 2003 ist ein Prosatext entstanden, der in den USA als Kultbuch zur Trauerarbeit gilt. Als es zwei Jahre später darum ging, eine Bühnenfassung zu erstellen, war inzwischen auch die Tochter der Autorin mit nur 39 Jahren verstorben: Es musste ein eigenständiges neues Werk geschrieben werden.

Den Tod verstehen
Und nun also hatte das Erfolgsstück vom Broadway, samt National Book Award für die Prosafassung, echtem Schicksal und großen Namen, Premiere bei den Salzburger Festspielen - und alles erinnert an das Tagebuch einer Betroffenen, entstanden auf einem Wochenend-Selbsthilfe-Seminar. Es fehlt dem Text an jeglicher künstlerischer Distanz, die über die Aufarbeitung des persönlichen Schicksals hinausginge. Das Problem scheint der Autorin bewusst zu sein, denn sie dreht den Spieß einfach um - und warnt ihr Publikum: "Es passierte am 30. Dezember 2003. Vielleicht scheint Ihnen das lange her zu sein, aber das ändert sich, wenn es Ihnen passiert. Und es wird Ihnen passieren. Die Einzelheiten werden andere sein, aber es wird Ihnen passieren. Um ihnen das zu sagen, bin ich hier." Ja, und sie sagt es uns.

Gut eineinhalb Stunden lang sitzt Vanessa Redgrave in grauer Hose und weißem Pulli vor grauem Hintergrund auf einem Gartenstuhl und erzählt. Erzählt in durchwegs rasendem Sprechtempo vom Herzanfall des Gatten, vom Sozialarbeiter in der Notaufnahme, vom nicht-Begreifen und vom bewusst-Verdrängen wollen. Erzählt von der Tochter, die im anderen Krankenhaus im Koma liegt, und die sie mit der Kraft ihrer Gedanken am Leben halten muss - wenigstens sie. Erzählt von der Konzentration, die es erfordert, alles zu vermeiden, was die Erinnerungen an glückliche Tage weckt.

Sprachmusikalisches Trommelfeuer
Eine "Kantate für eine Sprechstimme" nannte Vanessa Redgrave das Einpersonen-Stück bei einer Pressekonferenz in Salzburg. Eine sprachmusikalische Behandlung des Textes war bei der Aufführung freilich nur auf der Ebene des Sprechtempos zu spüren: Allegro scheint das Grundtempo zu sein. Steigerungen zum Presto, artikuliert mit atemlosen Staccato, kommen vor allem angesichts der Gefühle von Ohnmacht gegenüber der Krankenhauswirklichkeit zum Einsatz. Das ist sprechtechnisch freilich virtuos.

Das englische Trommelfeuer im Salzburger Landestheater ist allerdings nicht übertitelt - und selbst wer brauchbares Englisch mitbringt, hat Schwierigkeiten zu folgen. Auf der Ebene der Sprachmelodie bedient sich Vanessa Redgrave fast durchgehend des immer gleichen monotonen, kaum modulierten Klangs, der selten bis zum Forte ausschlägt oder sich im Piano in sich zurückzieht. - Wenn das geschieht, steht freilich für Augenblicke die Welt still.

Großes Solo, hinterlassene Leere
Ein langes Crescendo der Verzweiflung etwa endet abrupt in einer Erinnerung an das blonde Haar des schwimmenden Kindes: Zwischen diesen Stimmungsextremen bekamen Tragödie und Poesie für Sekunden ihren Raum. Regisseur David Hare, ein Experte für Einpersonen-Stücke, lässt die Darstellerin zwei, drei Mal aus ihrem Gartenstuhl aufstehen und einige Schritte gehen. Einmal zieht sie die Beine an und schlingt kurz die Arme um die Knie, zweimal zeigt sie dem Publikum das Armband, das der Tochter gehört hat.

Dreimal sinkt der grauseidene Bühnenhintergrund (Bob Crowley) in sich zusammen und gibt weiteren, immer weniger strukturierten Grautönen Raum - was für Beruhigung stehen könnte. Das durchwegs helle Licht (Jean Kalman, Bobby Harrell) bleibt zunächst hell, wird nur einige Male auf Augenblicke gedämpft. Erst im letzten Teil wird die Bühne schwarz und die Darstellerin von einem Spot beleuchtet. In der Sprachbehandlung und in der Umsetzung auf der Bühne scheinen genau jene Distanz und Abstraktion zu herrschen, die der Text vermissen lässt. - Ein großes Solo einer großen Schauspielerin, das mangels poetischer Kraft des Textes aber auch eine große Leere hinterlassen hat.

 

The Year of Magical Thinking
von Joan Didion, Produktion des Lyttelton Theatre, National Theatre, London
Regie: David Hare, Bühne: Bob Crowley, Kostüme: Ann Roth, Licht: Paul Arditti.
Mit: Vanessa Redgrave.

www.salzburgerfestspiele.at

 

Kritikenrundschau

In der Süddeutschen Zeitung (13.8.2008) schreibt Christine Dössel, dass Vanessa Redgrave von Anfang an eines sei: "Königin. Eine Königin des Schmerzes." Ein langärmeliges Oberteil, dazu dezenten Schmuck, ganz Dame von Welt, spreche sie zum Publikum, "dass es Ihnen auch passieren werde. Um Ihnen das zu sagen, bin ich hier." Der Beginn verliere bald den pädagogischen Zug "zugunsten einer höchst beeindruckenden Seelenschau". An der überzeuge Redgraves Schauspielkunst, "ihre sparsamen, stets präzisen Gesten der Contenance und überspielten Verzweiflung, ihr klug-beredtes Augenspiel ... ihr Understatement als große Tragödin, die sie hier bei aller Zurückgenommenheit auch ist." Obwohl Redgraves Aura den Text zu überstrahlen drohe, habe der Abend seine bewegenden Momente. "Momente, in denen nachtschwarz aufscheint, was Leid bedeutet, was Trauer heißt."

Andres Müry (Tagesspiegel, 13.8.2008) meint, dass Redgrave erst am Ende, als die Bühne ganz schwarz wird, zu stiller Gefasstheit findet, "zu fast körperloser Durchsichtigkeit". "The Year of Magical Thinking" sei der Bericht einer "Reise durch die 'Crazyness' an einen Ort namens Trauer, den niemand kennt von uns, ehe wir nicht dort waren". Erst als er erreicht war, konnte Joan Didion das Buch schreiben. "In 88 Tagen ist es fertig, und die Tochter kann es noch lesen." Ihren Tod, den Joan Didion in die Bühnenfassung integriert, bewältigte sie anders als den ihres Mannes. "Sie hat gelernt loszulassen, das Schwierigste für eine Amerikanerin, die den Gefährdungen der Existenz stets mit extremem Kontrollbedürfnis begegnete."

In der Frankfurter Rundschau (15.8.2008) verneigt sich Peter Iden vor der Autorin Joan Didion und ihrem Werk "The Year of Magical Thinking" – "bewegender Text, wie kaum je ein anderer" – sowie vor Vanessa Redgrave, deren Salzburger Auftritt "für viele Schauspieler ein Lehrstück über ihre Kunst" sei. "Zu erleben ist, welche Genauigkeit, welche Konzentration der Einlassung auf einen Text sie verlangt, wieviel Reflexion und Mut, sich extremsten Erfahrungen zu stellen, wieviel an Einsicht in das Leben; und in den Schmerz, den es immer einschließt." Die Leistung Redgraves suche ihresgleichen: "jede Veränderung der Haltung auf dem einzigen Requisit eines Stuhls … exakt bedacht und bezogen auf Wendungen der Stimmung im Text. Trauerarbeit, vollbracht mit einer disziplinierten Vitalität, die es ermöglicht, eine enorme Spannweite gegensätzlicher Erzählformen und Emotionen zu vermitteln, vom Referieren medizinischer Details über zuweilen sogar Lacher provozierende Beobachtungen … bis zu Abstürzen in das Entsetzen über das Unwiederbringliche der vergangenen Zeit und des Menschen, der sie bestimmt hatte."

 

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