Die Droge Sucht

von Michael Laages

Kassel, 24. Januar 2019. Es wirkt wie die Fortsetzung einer der schillernden Berliner Revuen der späten 20er Jahre, von "Es liegt in der Luft" etwa: 1928 ließen die Autoren Marcellus Schiffer und Mischa Spoliansky die Diseusen Margo Lion und Marlene Dietrich Arm in Arm und ziemlich grenzdebil durchs Kaufhaus und die Modewelt delirieren. Auch im neuen Theatertext von Rebekka Kricheldorf treten nun zwei ziemlich beste Freundinnen auf. Sie versuchen einander sozialhygienisch korrekt den Alkohol auszutreiben, die Dramatikerin hat ein auf den ersten Blick eher banales Experiment vom Zaun gebrochen.

Golden Girls in Zwangs-Katharsis

Annika ist der Ansicht, dass Lily zu regelmäßig zu tief in die Gläser blickt. Sie hat sich darum entschlossen, Gutes zu tun – und die Freundin erst in die Trinkerinnen-Katharsis zu treiben und sie dann im Entzug abzuliefern. Weil sie das aber allein nicht schaffen wird, ruft sie zwei weitere Bezugspersonen aus Lilys Umfeld zu Hilfe – Frans, die früher mal "beste Freundin" war und heute Lyrikerin ist, und Tante Marlene, die Lilys Familienbande vor langer Zeit verließ, um möglichst frei zu leben an irgendeinem lieblichen Ende der Welt. Der Plan ist radikal: Während sich Lily sich über den Besuch all dieser freundlichen Frauen freut, wird die Tür verrammelt und die Gelegenheitstrinkerin so lange in die Mangel genommen, bis sie das eigene Problem eingesteht und bereit ist für die Suchtklinik. Dass der Plan nicht aufgehen wird, ist allerdings schon recht bald absehbar – denn die drei Samariterinnen sind sich selbst nicht wirklich einig über Sinn, Zweck und Durchführbarkeit der Rettungsaktion.

Intervention2 560 Marina Sturm uRahel Weiss (Lily), Michaela Klamminger (Annika), Anna-Sophie Fritz (Frans), Eva-Maria Keller (Marlene) © Marina Sturm

Dass das Objekt der wohltätigen Zwangsbeglückung nicht umstandslos mitwirken wird, war noch absehbarer – wer stellt sich schon gern der eigenen Sucht? Darüber hinaus blättert aber schnell auch der Lack ab bei den Helferinnen – ist nicht Frans, die Freundin von früher, tief in allerlei Psychosen hinab gestürzt nach der Trennung von Lily? Der Krach der beiden hatte übrigens ein fettes Motiv – im Vollsuff hatte sich Lily den Freund von Frans unter den Nagel gerissen. Und kann sich Frans das radikal-revolutionäre Einzelgängertum heute nicht auch nur deshalb leisten, weil "die Gesellschaft", Steuerzahlerin und Steuerzahler wie Du und ich also und die Krankenkasse, die regelmäßigen Drogen-Entzüge finanziert? Ist Tante Marlene etwa keine gescheiterte Aussteigerin und gerade kein "happy Hippie"? Ihr Kunsthandwerk jedenfalls muss sie längst mühevoll und sehr prekär im Bauchladen am Touri-Strand verticken. Auch die Lebenslüge der heiligen Annika wird schließlich lustvoll zerlegt – die brillant promovierte Meeresbiologin verpasste die Karriere, weil das Kind höchst unpassend dazwischen kam; heute führt sie dämliche Blagen im Zoo an den Wundern der Tiefsee vorbei.

Die Droge höchstpersönlich

All diese Kaiserinnen sind also nackt; nichts rechtfertigt die guten Ratschläge, die sie der in der Tat ziemlich gefährdeten Lily verpassen wollen. Vor lauter Verzweiflung sind schließlich alle drei genauso blau wie Lily. Und aus der Einlieferung wird nichts.

Sehr durchschaubar ist das; und in der Tat ein bisschen banal. Das sagt übrigens auch Kricheldorfs wichtigste Bühnenfigur: "die Droge" persönlich. Jürgen Wink, einziger Mann neben Rahel Weiss und Michaela Klamminger, Anna-Sophie Fritz und Eva-Maria Keller, stört die "Intervention" immer wieder durch eigene Interventionen – multigeschlechtlich, in Fummel und Tütü, zieht die Figur immer wieder den glänzend goldenen Vorhang vor die Szenerie und erzählt von Meilensteinen der Drogengeschichte, von Sigmund Freud und Paracelsus bis zur russischen "Krokodil"-Droge, die den halbwüchsigen Nutzern das Fleisch von den Knochen schmilzt, bis sie verfaulen … Und als sich die therapieresistente Lily als unbelehrbar geoutet hat (weil sie kein Problem damit hat, mittelmäßig zu sein und ohne Visionen und gelegentlich eben auch haltlos), bietet das Zauberwesen namens "Droge" ihr ein neues Leben an: als Inkarnation der "Liebe" vielleicht?

Intervention1 560 Marina Sturm uJürgen Wink (Die Droge) © Marina Sturm

Erst auf dieser schrägen Kommentar-Ebene gewinnt das gruppendynamische Experiment an Tiefe; wie ja Kricheldorfs Figuren oft aus eher banaler Alltäglichkeit in die philosophische Selbstbetrachtung hinüber driften. Schirin Khodadadians Inszenierung spielt mit Selbst- und Fremd-Bildern der Frauen untereinander, und sie hält auch Kricheldorfs Komödien-Maschinerie klug auf Trab in der Ausstattung von Ulrike Obermüller, die intensiv mit dem Gold spielt, der Glanz- und Sehnsuchtsfarbe. Aber komisch – auch der Rausch bleibt ein wenig zu brav und verfliegt schnell; der Exzess, der ja durchaus lauert im Stück, bricht nicht wirklich aus.

Vielleicht sind alle und ist alles zu nüchtern. Und das – das weiß nicht nur "die Droge" – ist die allergrößte Gefahr. Übrigens auch unter Männern.

 

Intervention
von Rebekka Kricheldorf
Uraufführung
Regie: Shirin Khodadadian, Bühne und Kostüme: Ulrike Obermüller, Musik: Katrin Vellrath, Lichtdesign: Christian Franzen, Dramaturgie: Michael Volk.
Mit: Anna-Sophie Fritz, Eva-Maria Keller, Michaela Klamminger, Rahel Weiss, Jürgen Wink.
Premiere am 24. Januar 2019
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.staatstheater-kassel.de

 

In unserer Video-Interview-Reihe Neue Dramatik in zwölf Positionen spricht Rebekka Kricheldorf über ihre Poetik und über Komik als Widerstand 

 

Kritikenrundschau

Sprachlich und analytisch sei das Stück "ganz oft brillant, auf Kricheldorfschem Top-Niveau", findet Bettina Fraschke in der Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen (28.1.2019). Manchmal schimmere aber auch ein VHS-Duktus durch, werde es recht platt. "Regisseurin Schirin Khodadadian und Ausstatterin Ulrike Obermüller schaffen maximale Kontraste, wenn sie Annikas Wohnung in einen schmalen hölzernen Guckkasten bauen, langer Holztisch, alles monochrom beige." 

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