Als Plattenläden nicht mehr helfen konnten

von Valeria Heintges

Zürich, 26. Januar 2019. Die Bestseller-Trilogie "Das Leben des Vernon Subutex" von Virginie Despentes ist ein "Abgebrüll" auf die Grande Nation, wie der "Spiegel" schrieb. Es ist auch ein Roman über die Musik, von den 60ern- bis heute. Bei der Uraufführung des Werks im Zürcher Theater Neumarkt ist alles da: Das Geräusch, das ein Plattenspieler macht, wenn die LP nur noch leer vor sich hindreht. Das Sampling an den Turntables, das schlierende Geräusch, wenn eine Passage zurückgedreht wird und dann noch einmal zu hören ist. Der subversive Kommentar der Frank-Zappa-Titel, Klänge von CDs, das Grölen zu eingespielten Liedern, das Zucken zu Techno oder Metal, die Karaokesession, die Seite auf Facebook, wo man Freunden per Post Musiktipps gibt. Und der Discosteg, der manche Tänzer besser präsentiert als die anderen.

Seriendramaturgie in der Zwielicht-Zone

Der Steg zieht sich ekstatisch gezackt in Blitzform für die Uraufführung von "Das Leben des Vernon Subutex" durch das Zürcher Theater Neumarkt und endet an einer Seite in einem glitzernden Rund mit Neonröhren-Gloriole (Bühne: Alexander Wolf, Justus Saretz). Dieser Vernon Subutex hat in seinem Plattenladen "Revolver" die Freunde cooler Musik versammelt. Despentes' Erzählung wimmelt vor Bandnamen und Songtiteln. Die werden leider zu oft wie (Film-)Musik eingesetzt, die – unnötig aufdringlich – dem Publikum sagt, was es jetzt zu empfinden hat. Keine gute Idee, wenn ein Theater durch Einbauten akustische Probleme hat und auch gute Ohren auf schlechten Plätzen stellenweise nur Wortsalat hören.

VernonSubutex 1 560 MauriceKorbel uEin Popzeitalter-Jesus, der die Schuld der Welt auf seinen Vinylscheiben trägt? Martin Butzke als Vernon Subutex am Neumarkt in Zürich  © Maurice Korbel

CDs und Musiktauschbörsen wie Napster brechen dem Plattenladen das finanzielle Rückgrat. Als alle Scheiben verkauft, alle Devotionalien vertickt sind, bleibt Subutex nichts anderes übrig, als eine Art Couchsurfing bei Freunden, Bekannten und alten Bandkollegen zu starten und ihnen zu erzählen, er komme gerade aus Kanada. So würde eine Nacherzählung des Romans wohl beginnen. Aber sie würde schnell jeden Rahmen sprengen, denn Despentes hat sich ihre Schreibtaktik bei Serien abgeschaut und spannt in der Trilogie einen Handlungsbogen, der voller "Cliffhanger" und Volten Subutex gleichzeitig zum Obdachlosen und zur Internetberühmtheit macht, der im Besitz wertvoller Videocassetten ist, und später zum Guru einer Art Sekte aufsteigt, bevor alles zusammenbricht und ein Vertrauensbruch und späte Rache Vernon selbst zum Star einer Serie werden lassen.

Verwischter Gesellschafts-Schnitt

Diese Handlung kann man fast nicht kürzen, und so gönnt sich Peter Kastenmüller gegen Ende seiner Neumarkt-Intendanz ein Monstrum von Theaterstück mit einer weit über vier Stunden dauernden Fassung, die sich mit dem Label "Uraufführung" schmücken darf. Acht Schauspieler in 19 Rollen spielen eine Handlungszeit von den 80er-Jahren – und Rückblenden noch viel weiter zurück – bis zur Gegenwart. Despentes, die selbst eine Karriere als Pornodarstellerin hinter sich hat, lässt alle im Genuss und in Drogen ertrinken. Doch setzt die Bühnenfassung viel zu sehr auf Sex and Drugs and Rock'n'Roll und wischt fast oberflächlich darüber hinweg, dass die Trilogie auch einen messerscharfen Schnitt durch und in die französische Gesellschaft macht. Der ist so aktuell, dass der dritte Band das Attentat auf das Bataclan verarbeitet und der Unmut, auf dem die Gelbwesten-Bewegung gedeiht, durch die ganze Trilogie wabert.

VernonSubutex 2 560 MauriceKorbel uGlitzer-Menschen im sozialen Erdrutsch-Gebiet © Maurice Korbel

Der Text bleibt in der Fassung von Kastenmüller und Dramaturgin Inga Schonlau sehr nahe am Original, widmet sich ausführlich dem ersten und nach der Pause stark gerafft dem zweiten und dritten Band. Doch Despentes' rotzfreche Literatur wirkt auf der Bühne gebremst und distanziert, die Schauspieler scheinen vorzulesen, wenn sie sozusagen Regieanweisungen oder von sich in der dritten Person sprechen, darüber viel zu sehr ins Deklamieren geraten und dabei den Steg hinauf- und hinunterlaufen. Sobald sie jedoch Futter für ihr Spiel bekommen, greifen sie es sofort dankbar auf. Miro Maurer zeigt dann die Verlogenheit des gewalttätigen, homophoben und ansonsten stramm linken Patrice – mehr als eine Lederkluft und eine E-Zigarette braucht er dafür nicht. Jan Bluthardt erscheint ungeheuer wandelbar, mal in sexy Rot als hochfeminine Obdachlose Olga, bei der jede Geste sitzt, mal mit Bo(hémien)bo(urgeois)-Haarschwänzchen als verlogener Filmproduzent Dopalet, der auch dreckigste Mittel gegen seine Feinde einsetzt und sich nicht einmal beim Sex vom Leid anderer abhalten lässt. Sarah Sandeh stattet Pornostar Pamela mit einem spannenden Mix aus Naivität und Intelligenz aus; ihre Aisha hingegen bedient scheinbar das Klischee der kopftuchstarken Muslima, um diesem dann umso nachdrücklicher den Boden zu entziehen.

Simon Brusis' Xavier ist leider mehr als dümmlicher hundefreund denn als tragikomische Figur angelegt, auch Hanna Eichel bleibt mit ihren Rollen unterfordert. Und Marie Bonnets Hyäne gerät schon im Buch ein wenig papieren – auf der Bühne kann sie das nicht ablegen. Über und hinter und vor all dem ist Vernon Subutex, den Martin Butzke von Anfang frustriert anlegt, den er dann in einem furiosen (und doch viel zu langen) Monolog als Bettler vor der Pause in höhere Sphären katapultiert. Er ist Hauptfigur – und gerät doch in Randlage, weil ihn die Inszenierung stärker als Opfer liest als das seine Autorin tut. Ein Abend mit Längen und starken Momenten, der unter seinen Möglichkeiten bleibt.

 

Vernon Subutex
von Virginie Despentes
Welturaufführung
Fassung von Inga Schonlau und Peter Kastenmüller
Regie: Peter Kastenmüller, Bühne: Alexander Wolf, Justus Saretz, Kostüme: Aino Laberenz, Musik: Polina Lapkovskaja, Video: Robert Meyer, Dramaturgie: Inga Schonlau.
Mit: Jan Bluthardt, Marie Bonnet, Simon Brusis, Martin Butzke, Deborah De Lorenzo, Hanna Eichel, Miro Maurer, Sarah Sandeh.
Dauer: 4 Stunden 20 Minuten, eine Pause
Premiere am 26. Januar 2019

www.theaterneumarkt.ch

 

Kritikenrundschau

Nach den vier Stunden sei "der Kopf so leicht und klar, als hätte man eine Nachtwanderung erlebt", findet Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (27.1.2019). "Wer das Epos Balzacscher Art mit einer derartigen Wirkung auf die Bühne bringt, hat einiges richtig gemacht." Martin Butzke als Hallyday-Wiedergänger der Generation Gilet jaune müsse man einfach lieben. Zwar seien kein Bild, keine Szene derart bestechend wie die Powersätze von Despentes. "Doch hier bringt Theater seine eigene Stärke an die Front: die Behauptung, dass alles möglich sei, was auch denkbar sei."

Kastenmüller setze "die beinharte Story teils in urkomischen Dialog-Clips um", so Alexandra Kedves in der Zürcher Tages Anzeiger und anderen Zeitungen der Tamedia-Gruppe wie der Basler Zeitung (online 27.1.2019). Als Regisseur "mit offenbar unbezähmbarem Hang zu choreografischen Elementen" lasse er die unstillbare Sehnsucht nach einem erfüllenden Miteinander, die aus den Romanen schreit, auf der Bühne psychedelisch nachtanzen, bis man breit wird vom Hingucken. "Dass im langen Zuschauerraum manches akustisch absäuft und auch nicht alles gut zu sehen ist: Verweist das auf unsere Verlorenheit in der diffusen Wirklichkeit, in der die Superreichen uns längst ausgetrickst haben? Jeden­falls ist unser Theater hier so tapsig und beduselt wie seine Antihelden."

"Auf der Bühne wird da eine vogelzwitschernde Hippie-Utopie in einen glitzernden Zukunftstraum überführt, im Buch gerinnt alles zum Fiasko", notiert Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (6.2.2019, 18:46 Uhr) Martin Butzkes Spiel sei ein Ereignis, er "trägt eine unendliche, poetische Müdigkeit in sich". Auf der Bühne werde aus Despentes' verheerendem "Resümee der französischen Gesellschaft als Sammelsurium von Gescheiterten oder radikalen Egoisten" die "letzte Party des verlorenen Haufens derjenigen, die noch an die eigene Freiheit geglaubt haben." Tholl selbst resümiert fix die zu Ende gehende Intendanz Kastenmüllers: Dieser sei mit hochfliegenden Plänen gestartet, und habe viel gelernt in seinen sechs Jahren in Zürich. Die aktuellen Auslastungszahlen seien die besten der letzten zehn Jahre. "Einige echte Coups sind ihm gelungen, den 'Vernon Subutex' kann man getrost dazurechnen".

 

Kommentare  
Vernon Subutex, Zürich: Lesung + schlecht zu hören
Streckenweise wirkt die Aufführung als würde man einer Lesung beiwohnen. Und diese Lesung ist sehr lang. Kürzen täte diesem Abend gut. Und noch etwas: Die Akustik ist problematisch. So wuchtig und laut die Musik über die Boxen daherkommt, so schwierig ist es, unter der Galerie den SchauspielerInnen zu folgen, die am anderen Ende des Saals unverstärkt sprechen.
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