Geschichte strickt

von Tobias Prüwer

Leipzig, 27. Januar 2019. "Wir Menschen sind immer in Geschichten verstrickt. Zu jeder Geschichte gehört ein darin Verstrickter." Die Worte des Geschichtenphilosophs Wilhelm Schapp hätten über der "atlas"-Uraufführung hängen können, die das merkwürdige Gebilde von Zeit(-ge-)schichten unters Brennglas legt. Unablässig variiert Thomas Köcks Auftragswerk fürs Schauspiel Leipzig Fragen nach dem Verhältnis von Zeit und Geschichte und den Menschen darin. Regisseur Philipp Preuss übt sich in Zurückhaltung und holt den Leipziger Stadtraum als Projektionsfläche mit in die Inszenierung.

Die Neun Richtung Connewitz eröffnet den Abend. Das Publikum schaut über die leere Bühnenfläche hinweg durch drei große Schaufenster auf den Innenstadtring. Nacheinander erscheinen die vier Spielenden zu Elektro-Streicher-Beat-Musik aus dem Off. An einem Mikroständer erzeugen sie mit Sprudelwasser, Eiswürfeln, Gläsern und ihren Mündern Geräusche, die mit Loop- und Halleffekten durch den Raum treiben. Der erste Satz: "Was heißt es, aus der Zeit zu fallen?" Warum stolpert man nicht viel mehr, stürzt? In die Meditationen über Zeit, denen erst Geschichte Struktur und Ordnung gibt, purzeln allmählich narrative Mosaiksteinchen. Schemenhaft setzt sich ein Bild aus miteinander Verstrickten und ihren Geschichten zusammen, das bis zum Ende vage, gespenstisch bleibt. Während die Schaufenster die Welt des Realen hereinbrechen lassen.

Vietnamesisch-deutsche Lebenslinien

"Delay". An einem Flughafen gestrandet, beginnen die Erzählungen. Am nichtssagenden Transitort laufen die Fäden irgendwie zusammen. Hier begegnen sich Vergangenheit, Gegenwart und vielleicht auch Zukunft. Es geht um vietnamesische Boatpeople, die 1979 in der BRD Aufnahme fanden, und die mediale Ausschlachtung ihres Schicksals. Dazu tritt die Geschichte von "Vertragsarbeitern" aus Vietnam, die die DDR aufgrund ihrer Arbeitskraft gern in die Produktion einspannte, die aber ziemlich rechtlos im "Bruderstaat" leben mussten. Als dritte Zeitzone schieben sich die Wendeereignisse und die Wiedervereinigung dazwischen, als "Wir sind ein Volk" auch auf dem Leipziger Ring aus tausenden Mündern erschallte.

atlas 560 RolfLudwig uDamals-heute Drinnen-draußen: Denis Petković, Sophie Hottinger © Rolf Arnold

"Atlas" ist ein starker Text über ein Knäuel vietnamesisch-deutscher Lebenslinien, aus dem trotzdem Behutsamkeit spricht. Aktuell bleibende Ereignisse wie die Flucht übers Wasser und das Leiden Ertrinkender werden ebenso touchiert wie Rassismus und der Ausschluss, den die Anrufung von Wir-Kollektiven wie "Volk" immer mit produziert. Die Regie drängt sie dem Publikum nicht extra auf, sie drängen sich von selbst auf. Aufgrund seiner Konstellation hätte an dem Abend viel schiefgehen können. Ein Stück, das vor allem von seinem Text lebt, trifft auf einen Regisseur, dessen Stil auf überwältigende Bilder setzt und dem keine Regieidee zu viel ist. Hätte. Denn so minimalistisch hat man Philipp Preuss in Leipzig noch nie arbeiten sehen. Bis auf einen blauen Trabbi, den er auf dem Bürgersteig entlang fahren lässt, vertraut er nur auf seine Schauspieler und die Macht des Zuschauer-Blicks in den realen Straßenraum.

Halb Spiegel, halb Fenster

Ausdrucksvoll, aber nicht überbetonend erschafft das Darstellerquartett als Kollektivleistung eine gut verständliche Textfläche. Bewegungen durch den Raum, kleine gestische Unterstreichungen oder Handlungen wie Kleiderwechsel lenken davon nicht ab. Immer wieder bewegen sich einzelne Spielende vor die Tür. Sie sprechen direkt vor den Fenstern, dann von der gegenüberliegenden Straßenseite, während sich Passanten und Fahrzeuge durchs Bild schieben. Die ausgestrahlten Glasscheiben lassen halbtransparent die Zuschauerblicke hindurch, spiegeln aber auch den Innenraum samt Tribüne. So bekommen die Szenarien etwas Unwirkliches oder wirken wie Heimsuchungen aus der Geschichte.

Was heißt, aus der Zeit fallen, und wer fällt hier? Kann man nicht verstrickt sein? Ganz geht die Narration nicht auf, es bleiben Lücken, die im Einzelnen nachhallen sollen. Die Lebensgeschichten und Geschichtsreflexionen sind Gespinst, opak wie die verdoppelten Blicke durch und Wiederspiegelungen auf den Schaufensterscheiben. Als zum Schluss das Licht erlischt und nur noch der Straßenverkehr vorüberzieht, ist das Publikum auf sich selbst geworfen.

atlas
von Thomas Köck, Auftragswerk des Schauspiel Leipzig
Uraufführung
Regie: Philipp Preuss, Bühne & Kostüme: Ramallah Aubrecht, Dramaturgie: Katja Herlemann, Licht: Carsten Rüger.
Mit: Ellen Hellwig, Sophie Hottinger, Denis Petković, Marie Rathscheck.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
Premiere: 27. Januar 2019, Schauspiel Leipzig, Diskothek

www.schauspiel-leipzig.de

 

Kritikenrundschau

"DDR und BRD, Nord- und Südvietnam, Tochter, Mutter und Großmutter bespiegeln sich stets gegenseitig in Thomas Köcks 'atlas'. Und entwickeln so, völlig unaufdringlich, eine kluge Reflexion über historische Bedingungen und Wiederholungsstrukturen. Darüber, wie Zeiten - und ihre Protagonistinnen und Protagonisten - Menschen einfach auszuschließen scheinen aus ihren Geschichtsläufen", schreibt Christine Wahl auf SPON (28.1.2019). "Weil Köcks Stück zudem auch sprachlich hochklassig ist, tut der Leipziger Uraufführungsregisseur Philipp Preuss gut daran, ihn weitgehend eingriffsfrei wirken zu lassen."

Als "ein Panorama der Geschichte, wie sie gewesen sei und von vielen nicht mehr erinnert werde heutzutage" beschreibt Michael Laages auf Deutschlandfunk Kultur (27.1.2019) den Abend. Es gehe auch darum, wie erinnert werde.

Steffen Georgi von der Leipziger Volkszeitung (29.1.2019) erlebte eine "wortsatte Inszenierung: fast puristisch konzentriert und in der Sprache selbst genau und schlafwandlerisch zugleich. Was einerseits wie eine Séance wirkt, folgt andererseits einem klaren Blick beim erzählerischen Ineinanderfließen der Perspektiven und Zeitebenen." Bemerksenswert sei auch, wie die Tonspur als maßgeblicher Inszenierungsbestandteil integriert werde.

Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung und Frankfurter Rundschau (7.6.2019) sah diesen Abend bei den Autorentheatertagen am DT Berlin und vergleicht ihn mit "Mitwisser" von Enis Maci: "Beide Texte sind postdramatisch, feiern die Formulierungs- und Denkfähigkeiten ihrer Autoren, kommen ohne echte Dialoge aus, beackern fleißig die Metaebene und springen wie satanische Kryptologen durch Raum und Zeit. Weil das Ganze irgendwie dennoch welthaltig sein soll, spritzt man die Kunstprodukte inhaltistisch mit authentischen Begebnissen der finsteren Art auf." Zu Protesten deutsch-vietnamesischer Aktivist*innen bei dem Gastspiel schreibt Seidler: "Sie halten das Stück für eine „Neuauflage kolonialer Tradition“, weil sich weiße Menschen einer vietnamesischen Familiengeschichte bedienten, sich damit schmückten und bereicherten. So kunstfern diese Argumentation auch sein mag, die Wut ist welthaltig und lässt sich durchaus nachvollziehen."

 

Kommentare  
Atlas, Leipzig/ATT Berlin: spröde
Mit großen Vorschusslorbeeren reiste „atlas“ von Thomas Köck in der Regie seines österreichischen Landsmanns Philipp Preuß zu den Autorentheatertagen an: Die Uraufführung hat am Wochenende nicht nur die Jury der Mülheimer Theatertage überzeugt, sondern auch noch den Publikumspreis abgeräumt.

Tatsächlich ist Köcks Drei-Generationen-Panorama über Migrant*innen zwischen Vietnam, dem geteilten und wiedervereinigten Deutschland einer der stärkeren Texte des Festivals. Er beginnt philosophisch-raunend mit Wortspielen zum Thema „aus der Zeit fallen“ und zeichnet mit großer Sensibilität das Porträt seiner Figuren: die Großmutter, die zu den Boat People der 1970er Jahre gehörte, ist bis heute von den Erlebnissen auf ihrer Flucht traumatisiert. Die mittlere Generation litt unter den prekären Bedingungen als „Vertragsarbeiter“ im sozialistischen „Solidarität durch Ausbildung“-Programm der DDR und noch mehr unter den rassistischen Übergriffen nicht nur in Rostock-Lichtenhagen nach der Wiedervereinigung.

Philipp Preuß geht den Text sehr behutsam an. Die Inszenierung ist minimalistisch und spröde. Die szenischen Mittel sind so sparsam, dass „atlas“ eher wie ein Hörspiel wirkt. Die anderthalb Stunden ziehen sich trotz des lesenswerten Textes deshalb ziemlich in die Länge.

Der zentrale Effekt seiner Inszenierung, dass die vor der Leipziger Diskothek auf der Ringstraße vorbeifahrenden Autos Teil des Abends werden, kommt beim Gastspiel in der Box des Deutschen Theaters nur sehr eingeschränkt zur Geltung. Video-Aufnahmen mit großem Wahlplakat der Linken sind ein notdürftiger Ersatz. Der zweite große Nachteil dieses Gastspiels ist, dass in der kleinen Box an diesem heißen Sommertag ein stickiges Sauna-Klima herrschte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/06/05/atlas-schauspiel-leipzig-kritik/
Kommentar schreiben