Erziehung zum Unglück

von Dorothea Marcus 

Duisburg, 10. Mai 2007. Die Duisburger "Akzente" haben sich in diesem Jahr die Werteordnung unserer Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben. "Woran glauben" ist das Motto der seit 1977 bestehenden kleinen Ruhrgebietskonkurrenz zum Berliner Theatertreffen. Neben Einladungen für Thomas Ostermeiers "Hedda Gabler" und "Das Produkt", den Zürcher Yasmina-Reza-Renner "Der Gott des Gemetzels", produzierten die "Akzente" in diesem Jahr gemeinsam mit dem Mülheimer "Theater an der Ruhr" Jakob Michael Reinhold Lenz' Tragikomödie "Der Hofmeister"; Roberto Ciulli und sein Bühnenbildner Gralf-Edzard Habben haben sie in einen düsteren, schwerblütigen Totentanz verwandelt.

Gustchen würde den Kaiser von Russland abblitzen lassen und lässt sich doch vom erstbesten Hauslehrer verführen. Ihr Geliebter Fritz würde sich wie Romeo für sie umbringen - aber nach Halle zum Studieren will er doch lieber alleine gehen. Zum Schluss, wenn Fritz im Gefängnis gewesen und Gustchen wegen ihres Bastardkindes in den Teich gesprungen sein, doch von ihrem cholerischen Vater gerettet wird, findet sie sich mit Fritz in einer modernen Patchworkfamilie zusammen: "Dieser Fehltritt macht sie mir nur noch teurer", freut der sich. Eigentlich also wird alles gut – bloß auf dem Weg dahin passieren allerlei verworrene Scheusslichkeiten.

Blutrünstige Tragödie mit wuchernden Randfiguren

Jakob Michael Reinhold Lenz, jener rätselhafte, unbehauste Dichter, schrieb den "Hofmeister" mit 23 Jahren. Obwohl Schullektüre und Prototyp des "Sturm und Drang", wird es auf deutschen Bühnen so gut wie nie gespielt - ein eigenartiger Zwitter zwischen Burleske und blutrünstiger Tragödie, in der Nebenepisoden und Randfiguren wuchern, Babies mutwillig fallen gelassen werden, sich die Majorsgattin mit einem austernfressenden, teuflischen Grafen (Simone Thoma als humpelnder, mädchenhafter Greis) vergnügt, der Hofmeister Läuffer sich entmannt und dafür als tugendhaftes Vorbild gefeiert wird.

Im Bühnenbild von Gralf-Edzard Habben geht alles Elend der Welt von falscher Erziehung aus: eine überdimensionale Schultafel, davor eine Wanne, ein Bett und Schulpulte. Hier soll der partyversessene Hofmeister den Sohn des aufbrausenden Majors drillen, damit der endlich Latein lernt und ein ordentlicher Soldat wird – stattdessen verführt Läuffer die Haustochter. Bei Ciulli ist der Hofmeister eher smart und glatt als liederlich (Peter Kapusta), der Vater (Klaus Herzog) mehr quäkend-selbstmitleidig als cholerisch und der Sohn ein Geisterkind. Die vielleicht 60-jährige Rosemarie Brücher gibt es als rätselhafte Projektionsfläche: das Kind um das sich alles dreht, undressierbar, alterslos, autonom und stumm.

Marionetten verwandeln sich in Clowns

Von komödiantischen Elementen ist kaum etwas zu spüren: bedrohlich unterbrechen Philipp Glass’ schneidende Gitarrenvariationen die Szenen. Wie von schwarzer Erziehung ferngesteuerte Marionetten geistern die verlorenen Söhne und Töchter durch das Stück, sprechen verlangsamt und sinken zwischendurch in die Wanne wie der sterbende Marat. Eine für Ciulli ungewöhnlich brutale Inszenierung: Klatschend schmeißt der Hofmeister sein Kind an die Schultafel, wo es einen fleischigen Blutfleck hinterlässt. Triumphierend lächelnd trägt Wenzeslaus, Läuffers Einflüsterer, die Blutschüssel fort, über der sich Läuffer entmannt hat: die Aggression des entmündigten Bürgers hat sich gegen ihn selbst gerichtet.

Einzig der Student Pättus (Steffen Reuber) mit hochgetürmter Wattefrisur und Blumenhöschen bringt etwas komödiantisches Hippiefeuer in die unterschwellige Dämonik, ein übermütiger Muppetshow-Hofnarr und liebreizende Witzfigur: der einzige, der eine vermeintliche Freiheit auslebt. Wofür ihn ein Lottogewinn am Schluss belohnt.

Abgesang auf die Aufklärung

Aber bei Ciulli gibt es kein Happy End. Die Marionetten verwandeln sich traurige Clowns, dem Tod ganz nah. Der Vater, vom Verlust seiner Tochter gepeinigt, rasiert sich den Schädel blutig und malt sich Clownswangen auf; das gerettete Gustchen (Dorothee Lindner) wird zur abgehalfterten Witzfigur, nackt unterm Küchenmieder. Und auch wo die Liebe zwischen dem kastrierten Hofmeister und einem naiven Dorfmädchen wie zwischen Fritz und Gustchen siegt, bleibt ein Schlachtfeld zurück.

Ciulli inszeniert wieder einmal einen Abgesang auf die Aufklärung, atmosphärisch stark, manchmal schwerfällig – nur: Was genau wird hier eigentlich angeklagt? Leidet die Welt wirklich zuerst an falscher autoritärer Erziehung?

 

Der Hofmeister
von Jakob Reinhold Michael Lenz
Inszenierung: Roberto Ciulli, Ausstattung: Gralf-Edzard Habben.
Mit: Stefffen Reuber, Simone Thoma, Dorothee Lindner.

www-theater-an-der-ruhr.de

 

Mehr über Roberto Ciulli und seine Theaterarbeit im Lexikon.

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