Das Echo des Unerzählten

von Christian Rakow

Berlin, 8. Februar 2019. Ein Pavian war auf der Bühne auch noch nicht zu sehen. Zumindest nicht dem Archiv von nachtkritik.de nach, das ja nun auch schon zwölf Jahre Theatergeschichte speichert. Der äffische Held heißt Jeany und wird vom Tiertrainer an der Hüftleine geführt. Und Jeany wäre gewiss die Sensation dieses Abends gewesen, wenn es nicht noch Jonas Dassler und Aram Tafreshian gegeben hätte.

Aber der Reihe nach. Regisseur Oliver Frljić hat sich für seine zweite Arbeit am Maxim Gorki Theater (nach der Politsatire Gorki – Alternative für Deutschland) Franz Kafkas Erzählung "Ein Bericht für eine Akademie" vorgenommen, in dem ein Affe namens Rotpeter den "Hohen Herren" von der Akademie über seine Menschwerdung berichtet. Bis auf die "Durchschnittsbildung eines Europäers" hat er es gebracht und ist damit der Star im Varieté.

Freiheit durch Unterwerfung

Kafkas Menschaffen-Monolog hat auf Bühnen Konjunktur, schon weil so eine Mischkreatur wie Rotpeter auch abseits des Varietés bestes Schauspielfutter abwirft. Hier kann man dem Tierischen im Menschlichen nachspüren und nebenher die Bürgerkarikatur auskosten. Dabei zeigt der "Bericht" natürlich auch die Geschichte einer viehischen Verwertungskette, die den Affen aus seinem Leben in der afrikanischen Goldküste herausreißt und in den Hagenbeck'schen Zoo verpflanzen will. Rotpeter bleibt im Würgegriff der Gewalt nur die Anpassung, Angleichung, Gleichmacherei: Freiheit durch Unterwerfung unter die Dressur, die im Kern Folter ist. Hier sieht man schon, was Frljić an dem Stoff reizt. Der Regisseur, der zu den derzeit provozierendsten und bilderwütigsten Theatermachern Europas zählt, hat sich noch immer für die Rückstände gesellschaftlicher Bildungsprozesse interessiert und für den dunklen Grund der politischen Tat.

Frljić erzählt den Abend "nach Motiven" der Kafka-Erzählung, mixt weitere Kafka-Texte sowie Fremdtexte mit hinein. Als Ausgangspunkt dient ihm die in der Kafka-Rezeption gängige Lesart, dass im "Bericht" die schmerzhafte Assimilation des Juden Kafka an die nichtjüdische Gesellschaft verarbeitet sei. Von hier springt Frljić zum Holocaust, wo nicht mehr Assimilation infrage steht, sondern es um Auslöschung geht, wo die Knechte des Regimes als die eigentlichen Tiere erscheinen. Frljićs Version des  "Berichts für eine Akademie" wird so zu einer Posse über Verarbeitung oder besser die Nichtverarbeitung fundamentaler deutscher Schuld.

Schüsse aus der Schrotflinte

Es gibt Kurzschlüssiges und Halbgedachtes an diesem Abend. Der peinliche Prolog, der das KZ von Treblinka mit der industriellen Massentierhaltung assoziiert (von Sesede Terziyan im Duktus der Hochschullehrerin doziert), wirkt, als habe Frljić auf der Zielgeraden der Proben noch etwas Zündstoff gesucht. Dabei liegt die Stärke seines "Berichts" gerade im Offenen, nur Angerissenen. Wo Frljić sonst bisweilen mit dem Dampfhammer rammt, gibt's diesmal Schüsse aus der Schrotflinte. Die Zeichen sausen wie kleine Bleikugeln. Denn der Abend weiß, dass alle politischen Großgleichnisse an der Paradoxie der Kafka-Geschichte scheitern müssen. In einer der eindrucksvollsten, zart melancholisch hingehauchten Szenen begegnet Jonas Dassler als literarische Figur Rotpeter seinem Autor Franz Kafka (verkörpert von Mehmet Ateşçi), und sie debattieren die Grenzen des Verstehens: "Das Echo des Unerzählten ist das, was mich interessiert."

Bericht2 560 UteLangkafel uJonas Dassler als Rotpeter © Ute Langkafel

Womit wir bei dem Trumpf dieser Inszenierung wären: die Spieler! Jonas Dassler gibt die meiste Zeit den zivilisierten Affen Rotpeter. Und wie! Mit gut gestopfter Pfeife im Ledersessel vor riesiger Bücherwand (Bühne: Igor Pauška) zaubert er Noblesse her. Dann wieder packen ihn die äffischen Instinkte, er zuckt, federnd überspringt er Hindernisse, zügelt sich, enthemmt sich, verschenkt sich, mäßigt sich. Ein faszinierender Auftritt. Tierisch gut.

Nachkriegsdeutsche Leugnungsakrobatik

Rotpeter heiratet bei Frljić in die Familie Hagenbeck ein. Mit bestechendem Ernst im Aberwitz begegnet Lea Draeger als Tochter Hagenbeck dem äffisch wilden Jüngling. Am Traualter probieren sie den Zungenkuss und verkrampfen sich, die Zungen wie an Eisblöcken gefroren. Svenja Liesau stellt dazu einen Pfarrer von höheren grimassierenden Gnaden vor. Auch sie, wie alle hier, ein Spielteufel der Extraklasse. Aram Tafreshian wird als gleichfalls affenartiger Vater Hagenbeck den Hochzeitstoast sprechen, der der hohen Schule nachkriegsdeutscher, nachkolonialer Leugnungsakrobatik entspringt, ein Toast mit runtergelassenen Hosen. Entflammt krabbelt er ins Publikum, wo weiter deklamiert und gepimmelt wird, die Leute johlen, es herrscht Feststimmung.

Bericht3 560 UteLangkafel uMehmet Atesci, Sesede Terziyan, Aram Tafreshian, Nika Mišković, Vidina Popov, Svenja Liesau, Jonas Dassler © Ute Langkafel

Und dann kommt Jeany, der echte Pavian. Bewundernswert entspannt hockt er neben Jonas Dassler, lauscht gemütlich seinen Elaboraten des Rotpeter. Nur wenn Dassler unwirsch und laut wird, stutzt er kurz. Später sieht man Jeany wieder. In einem Käfig, der dem Berliner Reichstag nachempfunden ist. "Der Käfig ist die Essenz dieser Welt", heißt es einmal im Geiste Foucaults und Agambens. Wer einsperrt, bestimmt, wer einsperrt, herrscht über die Zeichen, über die Menschen. Aber die Kunst, wenn sie glückt, verwirrt alles, vermischt die Zeichen, kehrt das Innen nach Außen, sprengt die Käfige. In seinen besten Momenten war dieser Abend herrliches Narrenspiel. Und wenn der Käfig nicht gesprengt wurde, so wurden seine Stäbe doch mächtig gebogen.

Ein Bericht für eine Akademie
nach Motiven der Erzählung von Franz Kafka
Regie: Oliver Frljić, Bühne: Igor Pauška, Kostüme: Sandra Dekanić, Licht: Jens Krüger, Ton: Hannes Zieger, Dramaturgie: Johanna Höhmann.
Mit: Mehmet Ateşçi, Jonas Dassler, Lea Draeger, Svenja Liesau, Nika Miškovi, Vidina Popov, Aram Tafreshian, Sesede Terziyan, Pavian: Jeany (Filmtierschule Harsch), Tiertrainer: René Harsch.
Premiere am 8. Februar 2019
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

"Frljics 'Bericht' geht nicht weit über eine obskure, tierisch wilde, komisch antiquierte Homestory hinaus", schreibt Bernd Noack auf Spiegel Online (9.2.2019). Der Abend könne sich nicht entscheiden zwischen surrealer Sause und geistig ernsthafter Tiefenforschung. Der Star des Abends, Jonas Dassler, reiße die Sache an sich. "Perfekt jongliert er mit den Zweifeln und Gefühlen seiner Figur, überzeugend. Aber eben irgendwie auch einsam."

Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (10.2.19) erlebte leider nur einen "gepflegten, stimmungsreich ironischen Unterhaltungsabend". Allenfalls "hauchdünne Kritik" an der Zivilisationsgeschichte und deutscher Erinnerungspolitik werde angerissen.

Einen Abend über fehlgeleitete "Vergangenheitsbewältigung" und die Erschütterung des Humanismus hat Patrick Wildermann vom Tagesspiegel (11.2.2019) im Gorki erlebt. Oliver Frljić glücke eine "bestürmend offene, undogmatische Kafka-Version". Großes Lob fällt auf Jonas Dasslers Gestaltung des Menschenaffen, "an dem das sogenannte Vorleben noch reißt, dem das Unheilvolle der zivilisatorischen Verbiegung im Leibe sitzt".

"Der Mensch ist schlecht, sehr schlecht, so lautet die Moral aus Kafkas Geschichte an diesem Abend. So richtig will der allerdings nicht in Fahrt kommen, obwohl die Schauspielerinnen und Schauspieler – allen voran der gerade auch als Berlinale-Star gehandelte Jonas Dassler – viel geben, um ihm Wirkung zu verleihen", so Simon Strauß in der FAZ (11.2.2019). Über weite Strecken bekomme man nur "selbstsicher inszeniertes Behauptungsvarieté" geboten. Strauß resümiert: "Ein Abend, der viel zeigen will, aber wenig erzählt."

In einem der plumperen Bilder der Aufführung führe Frljić vor, was er von der Emanzipation durch Bildung und Rotpeters Integrationsleistung hält: Wenn gegen Ende des Abends die Bücher der Bibliothek aus den Regalen zu Boden stürzen und ein Käfiggitter entblößen, bebildere das die wirre, in Radical-Chic-Kreisen beliebte Parole "Desintegriert euch!", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (12.2.2019). "Ansonsten spielt der Brachialregisseur Frljić erstaunlich lustig mit dem menschlichen Affen und den affigen Menschen." Höhnischer als in der Hochzeitsszene dürften die europäischen Legitimationsphrasen, etwa in der Raubkunstdebatte, selten travestiert worden sein. Der Prolog allerdings sei schlicht eine "Verharmlosung des Holocaust".

"Allein wie sicher und energiegeladen die wenigen Schauspieler, darunter der überaus brillante Jonas Dassler, der den Rotpeter spielt und derzeit auch in der Rolle des Fritz Honka in dem umstrittenen Film 'Der goldene Handschuh' auf der Berlinale zu sehen ist, die Texte darboten, war schon umwerfend," schreibt Doris Akrap in der taz (16.2.2019).

 

Kommentare  
Bericht für ..., Berlin: Tierisch gut geschrieben
Sehr geehrter Herr Rakow,

vielen Dank für den wunderbaren Text. Ich konnte förmlich zeilenwiese spüren, wie die eisernen Stäbe des Käfigs geborgen wurden. Auf nach Gorki.
Bericht für ..., Berlin: keine Handbremse
Was für ein Ausnahmetalent! Jonas Dassler schiebt zwischen Pressekonferenz und Gala-Premiere von Fatih Akins „Der goldene Handschuh“ mal eben eine Performance als Affe Rotpeter in Franz Kafkas „Ein Bericht für eine Akademie“ ein, die zu den Highlights des Theaterjahres zählt. Es ist eine Freude, diesem Energiebündel und Vollblutschauspieler dabei zuzusehen, wie er sich voll und ganz in seine Rolle wirft.

Hier wird kein Risiko gescheut und keine Handbremse gezogen. Er springt über die Tische, wälzt sich am Boden und lässt sich von den Kolonialherrn, die ihn einfangen und domestizieren, Bananen in den Mund stopfen, bis er kaum noch Luft bekommt. Diese Szene erinnert natürlich an das berühmte, hoch umstrittene Waterboarding, das Franz Pätzold in Oliver Frljićs „Balkan macht frei“ über sich ergehen lässt, auch wenn es nur eine deutlich entschärfte, quasi die Light-Version ist.

Hier sind wir beim Problem des Abends: der kroatischen Regisseur, dem im Marstall des Münchner Residenztheaters gedankenstarke, funkelnde Abende wie „Mauser“ und das zitierte „Balkan macht frei“, bleibt auch in seiner zweiten Gorki-Arbeit deutlich unter seinem Niveau. Viel zu zäh wird hier zwei Stunden lang Text abgespult. Viel zu platt und mit dem für Frljićs schwächere Arbeiten leider symptomatischen Holzhammer wird hier eingedroschen.

Die gedanklichen Kurzschlüsse des Abends sind oft geradezu peinlich, wie Christian Rakow mit Blick auf Sesede Terziyans Einstiegs-Monolog über den Holocaust und das Vernichtungslager Treblinka kritisierte. Es wird aber im Lauf des Abends nicht besser, am Schluss muss Jonas Dassler vor der Kulisse des Reichstags einen Bogen zur Migrations- und Überfremdungs-Debatte schlagen, bei dem es gewaltig knirscht.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/02/09/ein-bericht-fur-eine-akademie-gorki-theater-kritik/
Bericht für ..., Berlin: Monolog
Hallo !
Ein Monolog , der ein KZ mit Massentierhaltung in Verbindung bringt ?
Ist das tatsächlich in der Inszenierung vorhanden , oder ist das die Interpretation des Kritikers ? Also respektlos wäre das allemal , aber vor allem sehr , sehr dumm ! Ich hoffe , der Kritiker hat sich vertan !
Gruß
Bericht für ..., Berlin: Wer ist unfreier?
Igor Pauška hat Frljić eine Wand aus Büchern auf die Bühne gehievt, Sinnbild von Zivilisation und er emanzipatorischen Kraft der Bildung. Die Illusion bleiben, weil sie einzig zweckdienlich der Aufrechterhaltung der Verhältnisse dienen. Und so stürzen sie am Ende ein, wenn Dassler am Rednerpult steht, als Bundestagsabgeordneter, als der er von seinen Herren gekürt wurde, die ihm weismachen, er hätte es aus eigener Kraft und eigenem Willen geschafft. Er hält eine Rede, die den Mythos der erfolgreichen deutschen Vergangenheitsbewältigung – ein weiteres Thema, das am Abend immer mitschwingt, verknüpft mit populistischer Schlussstrichrhetorik und utilitaristisch begründeter progressiver Migrationspolitik. Gut ist, was nützt, das hat Rotpeter längst verinnerlicht, halb wissend, dass das auch für ihn gilt. Das Reichstagsgebäude ist hier ein Käfig, darin ein echter dressierter Pavian, dem gegenüber Dassler zuvor schon gebeichtet hat. Dressur und Unterdrückung hören nie auf, und sie sich immer weniger zu unterscheiden von Zivilisation und Freiheit. wer ist unfreier? Der fremde Worte absondernde Parlamentarier oder angekettete Affe, der natürlich auch dressiert ist. Seiner Natürlichkeit beraubt oder von ihr befreit? Und ist die Mär vom natürlichen Zustand nicht auch ein zynisches Unterdrückungsinstrument, ein Mittel, die/den Andere*n zur*m Fremden zu machen?

Je klarer wird, wo Frljić hin will, desto mehr verschwimmt die Botschaft. So steht irgendwann Kafka selbst auf der Bühne, gespielt von Mehmet Ateşçi, führt Dasslers Rotpeter die eigene Spiegelung in ihm, durch ihn selbst vor, seine Metaphernhaftigkeit und zugleich deren Scheitern. „Sie stellen nichts dar. Ihre Bedeutung ändert sich ständig“, sagt der Autor seiner Figur und spricht auch über sich selbst, längst Spielball von Interpretation und Instrumentalisierung. Rotpeter dreht die Machtverhältnisse um und bleibt in ihnen gefangen. Doch das gilt auch für alle anderen, denn auch sie sind Spielball ihrer eigenen Narrative, die zudem in der Kontrolle eines Autors liegen, der das Netz spiegelt, in dem er selbst steckt. Und so taumelt dieser Genremix von einem Abend, der Slapstick mit Melodram, Farce mit Kammerspiel, Varieté mit Seifenoper mixt, der überzeichnet und reduziert, gern mal mitten im Satz den Ton wechselt, Sitcom-Klänge auf schmalzige Filmmusik treffen lässt, voran in eine verwirrende Offenheit, in der sich seine Grundthesen schärfen und im selben Moment im Fleischwolf landen. Nein, der Oliver Frljić, der am Gorki inszeniert, ist nicht milder geworden. Subtiler sicher, an der Oberfläche heiterer gewiss, doch sein Zivilisationsporträt ist so düster wie eh und je. Und der Gewissheit, die in provokanter Polemik ja auch wohnt, beraubt, steigt die Unsicherheit, schwankt der Boden umso mehr, gähnt der Abgrund noch finsterer.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/03/08/schrodingers-mensch/
Bericht für..., Berlin: Andere Menschen denken
Gesehene Vorstellung: 18. April 2019
Am Beginn werden die Zuschauer mit einem oberflächlichen und mit sehr spröden Charme vorgetragenen Prolog in Sippenhaft genommen: Jeder Deutsche sei Mitwisser der faschistischen Vernichtungslager gewesen. Das reife Publikum - ich zähle mich dazu - war 1945 noch im Kindesalter.
Dann folgen zwei Stunden schlechtes Entertainment: Ich meine, es wird um der Behauptung und der Pointe willen Knall-Chargen-Theater gespielt, die Schauspieler verraten die möglichen Figuren mit allen Mitteln schlechter Schauspielkunst, und die Arrangements werden wiederholt nach der Devise, wenn der Zuschauer einmal über einen schnellen Auftritt der Truppe gelacht hat, dann tut er es auch zum wiederholten Male, und es wird aus Mäulern erbrochen und aus einem Arsch geschissen und das Ergebnis aufgeleckt...
Die Lektüre einer Tageszeitung (z.B. der Berliner Zeitung) gibt mir mehr
gesellschaftspolitische Information und regt meine Phantasie mehr an.
Aber das Gorki-Theater hat jetzt auch zwei völlig nackte Schauspieler (ich weiß: andere haben auch...), und einer trägt seinen Pimmel durch die Zuschauerreihen spazieren , das ist vielleicht "kühn", aber Schauspielkunst ist es nicht.
Im Foyer steht eine Tafel und liegt eine Tafel auf denen steht: "Andere Menschen denken" - das liest sich wie der Verweis auf einen anderen Ort, dort werde ich künftig hingehen.
Peter Ibrik
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