Du kommst hier nicht rein

von Tobias Prüwer

Leipzig, 9. Februar 2019. Das ist der Rhythmus, bei dem man mit muss: Der Abend schlägt von Sekunde eins eine Triangel aus Kraftwerk, Trio und Giorgio Moroder an. Wie ein Metronom gibt das den Takt der Inszenierung vor. Der Beat pocht drängend aus dem Off und ein menschliches Stimmenorchester hebt zum Musiktheaterkonzert mit wippenden Zuschauerfüßen an.

"Disko" nennt Wolfram Höll konsequent sein für die Nebenspielstätte Diskothek konzipiertes Auftragswerk. Auch sein dritter am Schauspiel Leipzig uraufgeführter Text verweigert sich der Eindeutigkeit. Doch bergen dieses Mal erratische Schichten aus Satzverkettungen ein dunkles Geheimnis. Als der Beat in der auf Maß und Klang durchkomponierten Sprache – einzig sie wiederzugeben ist Absicht von Regisseur Ivan Panteleev – abklingt, zeigt sich eine dünne Narration.

Disko 3 560 RolfArnold uEin bisschen Gold und Silber, ein bisschen Glitzerglitzer: Daniela Keckeis, Roman Kanonik, Anne Cathrin Buhtz, Julia Berke, Thomas Braungardt, Anna Keil © Rolf Arnold

Wohl inspiriert von den Songs Murder on the Dancefloor (Sophie Ellis-Bextor) oder Murder at the Disco (The Vettes) hat Höll ein Blutbad auf die Tanzfläche verlegt, wo vom besorgten Bürger bis Flüchtling, Single, Flüchtlingshelfer und Islamist alle nacheinander sterben. Das bekommt man erst am Schluss wirklich mit, als die szenischen Fetzen zur Story werden sollen.

Türsteher als Weltenlenker

Davor sind das Herstellen von Zugehörigkeit sowie "sehen und gesehen werden" in all ihren Erscheinungsformen Thema. Am Ort, wo einst tatsächlich im auf sächsisches Schickimicki getrimmten Laden Schauhaus getanzt wurde, wird die Disko zum Mittelpunkt einer narzisstischen Welt. In einer Zeit, wo Diskothek längst vom Wort Club abgelöst wurde. Und es ist ein Club, ein geschlossener Gemeinschaftsbereich, der hier seine Türen nicht für jeden öffnet. Das wird sofort deutlich. Die Bühne ist abgegrenzt in einen Bereich vor der Tür und die eigentliche Disko hinter einem Vorhang und Türsteher. Der entscheidet, wer reindarf. Der Türsteher als Lenker der Welt.

Während die draußen Bleibenden sich auf Fahrrädern abstrampeln, schwitzen die drinnen auf Laufbändern. Ellipsenartig vorgetragene Sätze über Einschluss und Ausschluss, alltägliche Tretmühlen, Smalltalk und Flirtversuche entwickeln sich zu kleinen Tableaus, Splitter, die die Realität spiegeln. Alle Anspielungen sind nicht zwingend, aber in ihrer losen Beschaffenheit von gewisser Leichtigkeit. Tatsächlich erscheint die Idee charmant, sich das Land als Disko vorzustellen, in das erstmal gar nicht alle reinkommen. Und wer den Konkurrenzkampf auf der Tanzfläche oder am Tresen nicht besteht, muss eben das Handtuch werfen.

Disko 2 560 RolfArnold uDer lange Lauf zur Party. Daniela Keckeis, Thomas Braungardt, Anne Cathrin Buhtz, Andreas Herrmann, Roman Kanonik © Rolf Arnold

Das lässt sich zumindest mühelos in das Wackel- und Zappeltheater hineindeuten, das nur auf den Beat setzt. Akustische und textliche Verdopplungen erzeugen Verdichtung vor Bedeutung. Die sieben Spielenden sind reine Bebilderungen des Textes, schöne Illustrationen. Aber im Kern geht es nur um ihr Stimmenzusammenspiel als Klangteppich (Musik: Jan-S. Beyer). Mal sprechen sie Textfragmente, erzeugen unplugged Loops, dann agieren sie als A capella-Orchester oder menschliche Beatboxen. Mit einer sprachlos machenden Genauigkeit, ja beeindruckender Musikalität bringt das Ensemble den Abend über die Bühne, verhaspelt sich kein Mal, ja: rockt ihn.

Die Inszenierung setzt auf Überwältigung, will das Publikum in den Flow versetzen. Das ist l‘art pour l‘art, die politische Ebene bleibt Behauptung. Wer sich vom Rhythmus wegtragen lässt, erlebt einen kurzweiligen Abend; wer nicht, empfindet die 75 Minuten als viel länger. Bis die Inszenierung zuletzt in die Versenkung abrutscht, wenn sich der Mörder auf der Tanzfläche materialisiert und plötzlich eine Geschichte erzählt wird. Sie endet mit der Tiefe eines Popsongs. Yeah, yeah, yeah.

 

Disko
von Wolfram Höll
Regie: Ivan Panteleev; Bühne & Kostüme: Yanjun Hu; Musik: Jan-S. Beyer; Dramaturgie: Georg Mellert; Licht: Thomas Kalz.
Mit: Julia Berke, Thomas Braungardt, Anne Cathrin Buhtz, Andreas Herrmann, Roman Kanonik, Daniela Keckeis, Anna Keil.
Dauer: 1Stunde 15 Minuten
Premiere am 9. Februar 2019

www.schauspiel-leipzig.de

 

Kritikenrundschau

Höll bringe die Schauspieler "zum Klingen, zum Singen, zum Skandieren, zum chorischen Deklamieren und überhaupt in Schwung", schreibt Irene Bazinger in der FAZ (11.2.2019). "Ivan Panteleevs Inszenierung ist famos durchchoreographiert und organisch einstudiert, sie arbeitet geschickt mit den Ritualen von Ausschluss und Gruppendynamik – doch kommt sie trotz Energie und Verve nicht von der Stelle." Sie werde "dem Akustikpoeten und Sprachinstrumentalisten" Wolfram Höll nicht gerecht. Die Aufführung lasse einen "herzlich kalt".

"Hölls textliches Form-Spiel überzeugt, weil es nicht als Selbstzweck experimentiert, sondern gemäß des Handlungsortes Disko-Elemente imitiert, mit den Regeln der sich schematisch alle paar Takte verschiebenden Beats der House-Musik jongliert", schreibt Dimo Rieß in der Leipziger Volkszeitung (10.2.2019). "Ein hermetischer Abend durchaus, der polarisieren mag, der aber wunderbar konsequent seine Linie findet, musikalisch präzise den Textnuancen nachspürt und jederzeit in Wort und Bild die Bedeutungsebenen gelungen verwebt."

Wolfram Hölls Text sei ist in der Botschaft klarer als sonst. "Sprachlich und formal liefert 'Disko' dazu aber wieder ein Kunst-Stück aus Sparsamkeit und Berechnung – eine musikalische Partitur." Und weiter: "Natürlich braucht es (wie immer bei Höll) die gestalterische Kraft der Inszenierung und des Musikers Jan S. Beyer, damit der an sich überschaubare Text in 75 konsequent durchrhythmisierten Minuten die kompakte, geschlossene Form erreicht – mit dem ebenfalls extrem kompakten Leipziger Ensemble", so Michael Laages auf Deutschlandfunk Kultur (9.2.2019).

Wolfram Höll habe, "aller Kitsch- und Banalitätsgefahr zum Trotz, ein zwar ungewöhnliches, aber absolut stimmiges Stück geschrieben", urteilt Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung (online 12.2.2018). "In bester Popsongtradition foltert" Höll "die Sprache, bis sie eine beschämende Wahrheit nicht mehr kaschieren kann". Schwierig sei dagegen, "dass sich Regisseur Ivan Panteleev mit einer lamettaglitzernden Uraufführung am Schauspiel Leipzig mehr der Disco als dem Diskurs verpflichtet fühlt".

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