Hassknechte in der deutschen Dunkelkammer

von Katrin Ullmann

Hamburg, 16. Februar 2019. Wer will hier leben? Wer will hier Kind gewesen sein? Und wer will hierher zurückkehren? In dieses Haus, das Muriel Gerstner und Selina Puorger gebaut haben? Portalfüllend steht es auf der Bühne des Schauspielhauses. Rundum, die Wände, die Decke, der Boden, schwarz. Es ist ein Haus wie ein Sarg. Nein, viel liebloser, viel rauer als ein Sarg. Düster, todverheißend. "Verwandtschaft bedeutet den Tod", heißt es bei Thomas Bernhard auch. Aber diese Figuren, diese Verwandten, diese einander ausgelieferten Hass-Geschwister sind so gar nicht totzukriegen.

Hass, Häme, Hitler-Verehrung

Drei Thomas-Bernhard-Texte hat Karin Henkel für ihre Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus ineinander gewoben. "Die Übriggebliebenen" heißt die theatrale Bernhard-Wucht, die die Regisseurin gemeinsam mit der Dramaturgin Rita Thiele aus den Stücken "Vor dem Ruhestand", "Ritter, Dene, Voss" und dem Roman "Die Auslöschung. Ein Zerfall" destilliert hat. In allen drei Texten geht es – kurz und grob gesagt – um Familien. Um männerdominierte Geschwisterkonstellationen, um ziemlich beunruhigende Elternhäuser, um lebenslangen Hass, Demütigung und in großen Teilen auch um faschistisch-nationalistischen Fanatismus. Auf der Theaterbühne werden diese Schnittmengen durchgespielt. Aus einer dröhnenden Düsternis offenbaren sie sich klar und deutlich, manchmal fast didaktisch, meist aber stichwortgenau.

Uebriggebliebene2 560 Lalo Jodlbauer u"Fürst Metternich" zu Himmlers Geburtstag: Lina Beckmann, Angelika Richter, André Jung, Angelika Richter, Jan-Peter Kampwirth, Gala Othero Winter spielen Thomas Bernhard © Lalo Jodlbauer

Drei Dreierkonstellationen werden angerissen: Drei Brüder jeweils, die in das Haus ihrer Kindheit zurückkehren. Gezwungenermaßen. Oder aus Gewohnheit. Alle drei stecken sie sofort wieder fest in ihrer Vergangenheit, dominieren die Dynamik unter den Schwestern, schüren Hass, Häme und Hitler-Verehrung. Langsam steigt der Zuschauer ein in die Parallelwelten, die sich in Karin Henkels Inszenierung ein- und dieselbe Dunkelkammer teilen. Bald entblößen die beiden Beinahschauspielerinnen (Bettina Stucky, Gala Othero Winter) ihre defizitäre Ohnmacht gegenüber ihrem unberechenbar philosophierenden Bruder Ludwig (Lina Beckmann), und genauso bald zeigt sich Gerichtspräsident Höller (André Jung) in SS-Uniform und Feierlaune anlässlich Himmlers Geburtstag, den seine Schwester Vera (Angelika Richter) eilfertig mit Fürst-Metternich-Sekt ausrichtet. Während der "Auslöschung"-Protagonist Franz-Josef Murau (Tilman Strauß) – im Wechsel mit einem zehnköpfigen Kinderchor – erstmal und vor allem seine kunstvoll aufgebahrten Unfallopfereltern umstreift.

Kühl und technisch

Als Geschichte bleibt jede Familienaufstellung – eine hassenswerter als die andere – geordnet für sich. Allein die Textebenen verzahnen sich. Das Timing ist fein abgestimmt: Spricht Rudolf etwa von seiner Erkältung, setzt der aus der Anstalt nachhause geholte Ludwig am Nachbartisch mit einem "Ich bin nicht krank" ein. So gesellt sich an diesem Abend Krankheit zu Krankheit, Kindheit zu Kindheit, Elternhaus zu Vaterland, Gedankengut zu Denken, Unfall zu Tod und Selbstgemachtes zu Eingekochtem. Das ist sprachlich einleuchtend und macht ein paar große Bernhard'sche Themenwelten auf – doch leider auch gleich wieder zu. Denn das Stück, die Stücke wollen, sollen ja zu Ende erzählt werden. Und dafür lässt Henkel dann ihr großartiges Ensemble meist die Texte an der Rampe sprechen. Kühl. Technisch. Sprachgenau.

Uebriggebliebene3 560 Lalo Jodlbauer uExperten für grandiose Spracheskapaden und Kriechgänge: Lina Beckmann und Jan-Peter Kampwirth © Lalo Jodlbauer

Vermutlich ist es das, was den Abend dann so statisch, so mechanisch wirken lässt. Diese fast eifrige Genauigkeit, die Ernsthaftigkeit, mit der die intertextuellen Bezüge aufgezeigt werden. An diesem Abend dürfen Assoziationen keine Assoziationen bleiben, alles Gedachte muss unbedingt ausgesprochen werden. Auslassungen sind nicht erlaubt. Schließlich ist die Sprache die eigentliche Hauptperson. Die präzise Textarbeit ist Karin Henkel zu verdanken, manche der Sätze hallen nach, als hätten die Schauspieler sie soeben mit ihrer Stimme aufgeschrieben. Doch Raum für schräge Interaktionen, für feinsinnigen (Bernhard'schen) Witz lässt Henkel den Darstellern kaum. Da bleiben die liebevolle Komik, die Klaus Bruns in seine Kostüme verarbeitet, ein paar grandiose Spracheskapaden von Lina Beckmann und ein Jan-Peter Kampwirth, dem es als Verbrennungsopferschwester Clara auf faszinierende Weise gelingt, im Gehen zu kriechen. Aber all das reißt den Abend nicht wirklich ins Unterhaltsame oder ins Launig-Groteske.

Die Übriggebliebenen
nach Texten von Thomas Bernhard
"Vor dem Ruhestand", "Ritter, Dene, Voss" und "Auslöschung. Ein Zerfall"
Fassung: Karin Henkel, Rita Thiele
Regie: Karin Henkel, Bühne: Muriel Gerstner, Selina Puorger, Kostüme: Klaus Bruns, Leitung Maske und Haartrachten: Susan Kutzner, Maskenbildnerinnen: Isabel König, Wiltrud Jüchter. Elisa Zarniko, Licht: Annette ter Meulen, Sound: Arvild J. Baud, Ton: Christian Jahnke, Matthias Lutz, Christoph Naumann, Video: Marcel Didolff, Alexander Grasseck, Dramaturgie: Rita Thiele.
Mit: Lina Beckmann, Jean Chaize, Brigitte Cuvelier, André Jung, Jan-Peter Kampwirth, Angelika Richter, Tilman Strauß, Bettina Stucky, Gala Othero Winter.
Premiere am 16. Februar 2019
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

Für Falk Schreiber vom Hamburger Abendblatt (17.2.2019) macht Karin Henkels Kopplung der drei Bernhard-Dramen Sinn, denn in allen dreien gehe "es um ungesund ineinander verflochtene Geschwisterbeziehungen". Henkel verknüpfe die Geschichten in "Die Übriggebliebenen" geschickt, überspiele mit ihrer Raffinesse jedoch auch, "dass ihre Inszenierung vor allem aus Schauwerten besteht, die nicht viel mehr sind als ein Kratzen an der Oberfläche." Fazit: "Bilder wie den dunkelromantischen Kinderchor, der mehr Stimmung transportiert als Haltung."

Stefan Grund schreibt in der Welt (18.2.2019, 1:25 Uhr), Karin Henkel ordne "die Figurenkonstellationen, nutzt strukturelle und inhaltliche Ähnlichkeiten" der drei Bernhard-Dramen. Die Verbindung der drei Stücke hat ihn überzeugt, dadurch gewinne der Abend erstens "an Tiefe, indem er die Perspektiven von Tätern und Opfern einander gegenüberstellt und so ein Gesamtbild zeichnet, das beängstigender wirkt, als es eine einzige radikale Sicht könnte. Zweitens macht Karin Henkels Requiem deutlich, wie stark der politische Diskurs erneut von Schatten der NS-Zeit vergiftet ist."

Till Briegleb schreibt in der Süddeutschen Zeitung (19.2.2019): Komisch sei die Parallelerzählung von Bernhards Roman "Auslöschung" und den Stücken "Ritter, Dene, Voss" und "Vor dem Ruhestand" wirklich nicht. Obwohl dessen antifaschistische Hass-Satiren von den meisten seiner Leser und Leserinnen "vermutlich als beißend komisch rezipiert" würden. Die Fassung kranke an "Überambition mit statischen Folgen". Die Verwebung der Texte führe zu einer "extrem komplizierten Stichwortmaschinerie", die dem Konglomerat "jede Leichtigkeit" stehle. Es wirke, als sagten die Schauspieler*innen ihre Texte vor allem auf. Nur Lina Beckmann verfalle ins Gegenteil und verkaspere ihren Ludwig Wittgenstein durch "Dauergrimassieren". So entstehe ein "Aggressionsglossar zu Thomas Bernhard", das "leider akademisch bitterernst und ziemlich sauertöpfisch" wirke.

Bernd Noack schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung (online 18.2.2019, 17:06 Uhr ): Man blicke in einen "grausigen Abgrund" bei Henkels komplizierter Zusammenführung von zwei Stücken und einem Roman, am Ende bleibe von der "verheerenden Wiederholungswucht" Bernhards nur so "eine Art Best-of des bekannten Schlechten". Dreimal gehe es um die Lüge, und man habe das kapiert nach den ersten Szenen. Karin Henkel sei "viel zu sehr damit beschäftigt", das "Erzählknäuel im Spiel zu halten", als dass sie "mit dem Sampler-Einfall eine neue, andere Sicht auf die Werke des alten Meisters ermöglichen" könne. Man werde nicht schlau aus dieser literarischen Fleissarbeit. "Alles relativ brav, künstlich, uninspiriert, humorlos hauptsächlich."

 

 

Kommentare  
Übriggebliebene, Hamburg: sensationelle Idee
Auch mir ist aufgefallen, dass die Schauspieler bei diesem mutigen und intelligenten Abend viel an der Rampe gesprochen haben, aber wie ich bei der Premierenfeier von Beteiligten gehört habe, hat das mit der schwierigen Akustik der Bühne zu tun. Manchmal sind es auch die Sachzwänge, von denen man als Außenstehender keine Ahnung hat, und nicht nur die Absichten bzw. Intentionen einer Regisseurin, die zu einer Spielweise führen. Vielleicht hätten in diesem Fall Microports gut getan? Mich hat das nach vorne Sprechen der Schauspieler nicht gestört, sondern ich war froh, dass ich jeden Satz gut verstanden habe und der Witz durchaus rüberkam. Die Idee der Regisseurin, diese 3 Bernhard Stücke in einem Raum spielen zu lassen, ist eine Sensation und hat mich schlichtweg begeistert! Vielleicht hat bei der Premiere noch nicht jeder Schauspieler souverän mit seinen Texten umgehen können, aber das war für mich Nebensache. Ich schau mir diesen großartigen Abend auf alle Fälle noch einmal an!!!
Übriggebliebene, Hamburg: fast Musical
Ich verstehe nicht, wie man für diesen sehr komplexen Abend mehr Unterhaltsamkeit oder weniger Statik einfordern kann. Wenn Sie Bernhard lesen oder andere Aufführungen betrachten, müsste Ihnen aufffallen, dass diese viel reduzierter, viel „statischer“ inszeniert sind. Da stehen die Figuren z.B. einen Akt lang am Bügelbrett und sprechen...dagegen ist die Arbeit von Karin Henkel fast Musical. Ich meine das im positiven Sinne, eben auch wie sie die SchauspielerInnen zu sprachlicher Genauigkeit und Komik geführt hat. Lina Beckmann war noch nie so gut!
Übriggebliebene, Hamburg: Empfehlung
Ich kann mich #1 und #2 nur anschließen. Unterhaltungstheater hatte ich aber auch nicht erwartet. Davon gibt es ohnehin inzwischen auch auf gut subventionierten Theaterbühnen schon viel zu viel. Ich fand die Inszenierung auch nicht mechanisch oder statisch und stellenweise durchaus witzig im Bernhardschen Sinn.
Ein anspruchsvoller, aber toller und intensiver Theaterabend, den man sich auf jeden Fall noch ein zweites Mal ansehen kann. Das Ensemble war beeindruckend. André Jung war fantastisch und Lina Beckmann einfach grandios.
Übriggebliebene, Hamburg: Bernhard
Liebe Frau Ullmann, man kann nur annehmen, dass Sie sich noch nie eingehender mit Thomas Bernhard beschäftigt haben! [...]
Zum Glück ist der Abend von Karin Henkel und ihrem großartigen Team weit weg von diesen Begriffen!! Es ist ein phantastischer Abend!

(Teile des Kommentares entsprechen nicht unserem Kommentarkodex https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=12&Itemid=102 und wurden gekürzt. Mit freundlichen Grüßen, die Redaktion)
Übriggebliebene, Hamburg: didaktisch
Es war ein didaktischer und damit langweiliger Theaterabend.
Übriggebliebene, Hamburg: Bernhardsche Komödie
Thomas Bernhard ist eben auch Komödie.
Das fällt unseren nördlichen Nachbarn aber traditionell schwer.
Karin Henkel's Abend fühlt sich im explizit Düster-Tragischen deutlich wohler.
Ich fands schade, weil die Bernhardsche Komödie letztlich tiefer und menschlicher ist, als der Ernst.
Auch schrecklicher....
Übriggebliebene, Hamburg: Kritikenspiegel SH
Die Kritiken aus Schleswig-Holstein in den KN (Ruth Bender, 19.2.), den
LN (Michael Berger, 19.2.) und dem Flensburger Tageblatt (Sabine Oehmsen, 22.2.) sehen diesen Abend ganz ähnlich, wie es der obige Pressespiegel und die Nachtkritik ausweisen. Ich werde an späterer Stelle noch auf den einen oder anderen Punkt davon eingehen bzw. einige Textstellen daraus exemplarisch in den Thread stellen. Ganz vergröbert gesagt, auch ich sah am Premierentag vor allem das Problem des zu didaktisch geratenen Theaterabends, was sich an so mancher Pausenbemerkung bzw. Zuschauerreaktion nach dem Abend auch ganz gut illustriert fand, als zB. mein etwa 25-jähriger Nachbar zu seinen Eltern begeistert davon sprach, daß man an so einem Abend mehr über die historischen Mechanismen gen Nazitum und "Wehret den Anfängen !"
lerne als in Schule oder Studium. Es wurde schlichtweg den Vielen, die sich teilweise auch öffentlich als DIE VIELEN artikulieren, zu leicht gemacht, auf etwas zu zeigen, vor dem man sich zu hüten habe, ohne gleichzeitig erschüttert zu werden von den Abgründen eigener Denk- und Fühlenseinsamkeiten, welche Bernhards Protagonisten nunc stans zu ereilen pflegen, von scharfen Querschnitten beispielsweise castorfschen Zuschnittes (man hätte zB. soetwas wie den Dialog der Schwestern aus "Die bleierne Zeit", so ein "Du wärest BDM gewesen""
bzw. heutige und hiesige Markenmacherideologien irrlichternd dazwischenfahren lassen können, die Stockwerke des Hauses noch einmal befragend, denn die Dreizahl spielt einerseits eine Rolle, andererseits füllt diese sich kaum mit Leben) ; vor allem aber hätte Regie und Dramaturgie wohl eine Fallhöhe schaffen müssen, wie sie der
Zerrissen- oder Hinundhergerissenheit der sich in Monologe nach außen hin verstrickenden Berrnhardschen Protagonisten entspricht, beispielsweise dadurch ,die Ludwigrolle eben auch als Identifikationsangebot an das Publikum stark zu machen, auch durch den Reiz des eigenen Sprachduktus, Wittgenstein sprach von Verhexungskraft der Sprache, davon, daß die Sprache feiere; gerade den Ludwig von Lina Beckmann finde ich eben auch vertan -ganz so, wie ich es bei Herrn Briegleb lese-, was besonders schwer wiegt, da "Ritter. Dene, Voss" den Takt des Dreierabends meineserachtens am stärksten formt, zumal auch ein Problem mir zu sein scheint, daß der dramatisierte Prosatext am meisten in den Schatten gerät (gegenüber den beiden Dramen-Strichfassungen, wobei eben "Ritter, Dene, Voss" dominiert), leider verstärkt von der schwachen Resonanz durch die beiden Französisch sprechenden Zwillingsschwestern, die den Spieler im oberen Stockwerk weiter isoliert (sollte die Isolation doch nicht äußerlich, sondern von innen her kommen wohl). Letztendlich wirkt der Abend, so einseitig wie er vorliegt, fast so, als hätte Berhard vornehmlich Lehrstücke geschrieben, und das ist schade; immerhin aber gäbe es wohl auch etwas zu entdecken und weiterzuarbeiten am Ansatz Karin Henkels, denke ich, sollte sehr akzentuiert etwas vermißt werden; es ist ein Verdienst des Abends, Falk Schreiber schreibt, daß Bernhard selten geworden ist im deutschsprachigen Bühnenraum, an dieser Stelle ernsthaft eine Beschäftigung mit Thomas Bernhard angeregt zu haben, frei nach dem Motto: "Wie visionär auf das Heute hin war Bernhard wirklich ?"
Die Übriggebliebenen, Hamburg: befremdlich
Ich muß sagen, daß mich die verhaltene Reaktion speziell zu diesem Abend in dem dazugehörigen Thread schon ein wenig überrascht, denn, Spannung hin oder her, es handelt sich bei ihm gewiß nicht um ein 08/15-Projekt, das nicht diskutabel wäre, handelt sich vielmehr um einen, wie man das so nennt, vom Zuschnitt her sehr wohl mutigen, weil nicht im Anflug selbstgängerischen, Abend, der dann aber erstaunlicherweise meineserachtens der Kritik Bernd Noacks (siehe Pressespiegel) eine gehörige Berechtigung verleiht. Es gibt, auch in diesem Thread !, durchaus positive Stimmen zu dem Abend, mindestens in den drei von mir genannten werden die Schauspieler gelobt und nur die Regie "hergenommen" (Susanne Oehmsen berichtet sogar von einzelnen Buhrufen für die Regie, die ich im zweiten Oberrang allerdings nicht vernommen habe; dort fiel der Abend aber keineswegs durch), und mich interessiert schon, ob sich dieses Positive noch verständlicher auch in (argumentative) Sprache kleiden ließe. Man könnte doch wohl zum Beispiel bei Michael Bergers Fazit in den Lübecker Nachrichten ansetzen, wenn es dort heißt: "Man fühlt sich letztlich nicht betroffen von dieser Bernhard-Essenz.Die redundante Sprache, die vertrackten Konstellationen mögen Hinweise auf die privaten Kalamitäten und die Weltsicht des 1989 gestorbenen Autors geben. Kaum etwas weist bei den "Übriggebliebenen" darüber hinaus. Das Zeug zum Klassiker hat Bernhard, neben Peter Handke der bedeutendste deutschsprachige Dramatiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wohl doch nicht. Daß die Schauspieler bei der Premiere gefeiert wurden, haben sie sich allerdings reichlich verdient." Offen gestanden finde ich es in einer Kritik, die Bernhard so exponiert (es hätten ja auch Dürrenmatt und Frisch, Hacks und Müller, die Jelinek auch, Botho Strauß gewiß , wohl auch Schimmelpfennig, genannt werden können), ausgesprochen befremdlich, wenn eine Inszenierung dazu an seinem, was auch immer das sei, Klassikerpotential gemessen wird, bedenke ich nur, wie massiv die Anwürfe Bernhards gegen Klassikeraufführungen immer wieder gewesen sind (da geht bezüglich der Griechischen Tragödien und ihrer Relevanz für das Heute schon schnell mal die Rede vom "Blut und Bodenspiel aus der griechischen Antike als einen regelrechten Schmarrn") oder nehme das "Didaktische" immerhin so ernst, daß es in ihm inhaltlich ja gerade nicht um eine (weihevolle gar) klassische Kontinuierung zu schaffen ist, sondern um etwas, das man gerne in einiger Zeit nicht mehr als aktuell und virulent, schon gar nicht als klassisch !, verstanden wissen will; hätte mir der Abend noch besser gefallen als er es tat, hätte ich einer solchen Brille auf eine Bernhardinszenierung sehr wohl einen zynischen Anstrich unterstellen müssen, mindestens aber mein "SO WHAT ??!" entgegenzubringen (bezüglich eines mir nicht aufgehenwollenden Maßstabes, eines in meinen Augen verfehlten Sprachspiels). Nicht selten ist es -meiner Erfahrung zufolge- allerdings, daß gerade im Zuge der Wahl meineserachtens verfehlter Messlatten Begriffe fallen,
hier der Klassikbegriff, denen sich dann doch wieder gut nachhorchen und nachspüren läßt, um mittelbar auf etwas zu stoßen, frei nach dem Motto "Man kommt nicht von irgendwo an dieser Stelle auf den "Klassikbegriff" , an dieser Stelle auf soetwas wie eine KLASSIKERINSZENIERUNGANMUTUNG durch die Inszenierung. Tatsächlich geht doch da so mancherlei in diese Richtung, von der klassischen Aufteilung des Hauses in drei Ebenen via dessen Hermetik, also Unentrinnbarkeit unter anderem, bishin zu dem auftretenden Chor, und mich wundert es sogar ein wenig, diesen recht naheliegenden Befund so recht in keiner Kritik von "Die Übriggebliebenen" wiederzufinden.
Und was überhaupt für ein Haus das ist ??

Ich bin eigentlich noch einmal ein wenig überrascht, und das schreibe ich gerne als ein mögliches Pro für eine Inszenierung (mindestens der Anlage nach) , daß ein durch sie tatsächlich umgesetztes "Bild" unter den Tisch fällt (wie die Augen des ersten Teils bzw. das eine Auge des zweiten), nicht an irgendeiner Stelle etwas von der Assoziation "Kopf"
("Riesen-Einzel-Kopf") zu lesen, obschon mir das Bühnenbild, das ich sehr mag !, vor allem einen solchen zu zeigen scheint, Kopftheater wie sonst nur Kopfkino suggerierend als Dauerzustand, losgelöst vom Rumpf, vielleicht nur noch durch frisches Blut (Kinderchor) via "Aufzug" versorgbar ?, beinahe losgelöst jedenfalls, und so ein RIESENKOPF ist nun wirklich sehr kennzeichnend für Bernhard; fast höre ich noch frisch Bruno Ganz in "Der Ignorant und der Wahnsinnige" sagen in etwa "Und so ein Kopf (unter Köpfen) ist das nicht ein erbarmungswürdiger Zustand ??"
Die Übriggebliebenen, Hamburg: resistent
Karin Henkel widmet sich in den „Übriggebliebenen“ dem Werk von Thomas Bernhard, einem der sprachmächtigsten, politischsten und humoristischsten österreichischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Dieser Abend ist entstanden aus "Vor dem Ruhestand", "Ritter, Dene, Voss" und "Die Auslöschung. Ein Zerfall". Karin Henkel und Rita Thiele haben mit dieser Textfassung ein vielversprechendes Thomas-Bernhard-Projekt geschaffen. In diesen drei Bernhard Texten geht es um Familien mit männerdominierten Geschwisterkonstellationen, beunruhigenden Elternhäusern, lebenslangen Hass, Demütigungen und faschistisch-nationalistischen Fanatismus. Die Bühne ein schwarzes Totenhaus mit drei Ebenen (Bühne: Muriel Gerstner, Selina Puorger). Die Inszenierung wird bestimmt durch manieristische Spielweisen, statische Dialog und Monologanordnungen, mechanistische Bewegungsmuster sowie eine kalte bis aggressive Sprache, was der Inszenierung Kälte und Düsternis verleiht. Nur allzu selten spürt man etwas von Bernhards sarkastisch, zynischer Groteske und der Abgründigkeit seines Humors, die seine Werke auszeichnet. Von hochkomischer, bitter-böser Schauspielkunst gibt es nur wenige Momente wie zum Beispiel, wenn sich Ludwig (Lina Beckmann) in einem Monolog des Hasses seine Lieblingsmehlspeise einen Brandteigkrapfen ins Maul stopft. Bernhards Figuren sind traumatisiert. Ihre autoritär-patriarchalische Erziehung hat ein stabiles Ich verhindert. Die Männer wandeln zwischen Allmachtsphantasien und Gewaltbereitschaft, während die Frauen gekennzeichnet sind durch Anpassung, ohnmächtige Rebellion und Mittäterschaft. Diese Persönlichkeitsstrukturen sind der Nährboden für faschistoide, vernichtende Vorstellungen und Wünsche. Durch die Stringenz in der Inszenierung von Karin Henkel wird deutlich, wie wir Produkte unserer Umwelt und Erziehung sind und immer noch nicht gegen faschistoide Vorstellungen und Allmachtsphantasien von Machthabern gefeit sind. Schauspielerisch überzeugten vor allem André Jung, Jan-Peter Kampwirth, Angelika Richter, Lina Beckmann, Bettina Stucky und Tilman Strauß. Insbesondere auch die Szene in der Rudolf Höller (André Jung) von faschistischem Gedankengut getragene Gewalt gegen Clara (Jan-Peter Kampwirth) ausübt. An diesem Abend sahen wir nicht „Thomas Bernhard gibt Thomas Bernhard“ aber „Karin Henkel gibt Thomas Bernhard“ und die Ähnlichkeit von menschlichem Verhalten zu unterschiedlichen Zeiten ist erschütternd. Der Mensch scheint sehr lern- und verhaltensresistent zu sein.
Übriggebliebene, Hamburg: engstirnig & erlösend
Für ihre kluge Verzahnung der drei Bernhard-Texte wurde Rita Thiele 2019 mit dem Hamburger Rolf-Mares-Preis für die beste Dramaturgie ausgezeichnet. Eine Schwäche dieses Konstrukts ist allerdings, dass sich die Figuren in den mehr als zwei Stunden nicht entwickeln: in Endlosschleife bekommen wir die Engstirnigkeit von Thomas Bernhards Figurenpersonal vorgeführt.

Die Botschaft ist schnell begriffen, die dreifache Familien-Tragödie nimmt dennoch weiter ihren Lauf: handwerklich perfekt, aber auf die lange Strecke doch etwas zäh und eintönig. So ist es eine Erlösung, als Lina Beckmann die berühmten Brandteigkrapfen, die schon Gert Voss mit so viel Abscheu herunterwürgte, in sich hineinmampft und der Alt-Nazi Höller zur Strecke gebracht ist.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/02/10/die-ubriggebliebenen-schauspielhaus-hamburg-kritik/
Die Übriggebliebenen, Hamburg: unlauter
Kennt man alle drei Werke - den Roman AUSLÖSCHUNG, die Theaterstücke VOR DEM RUHESTAND und RITTER,DENE,VOSS - so erlebt man, so ging es mir, was alles fehlt an Gedanken, Motiven, Witz, Humor und Melancholie...Unlauter und unzulässig aber ist es, dem Ludwig in RITTER,DENE,VOSS Sätze in den Mund zu legen, die nicht von Thomas Bernhard sind, nur um eine thematische Verbindung zu behaupten.
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