Unendlich lebensfeindlich

von Jens Fischer

Bremerhaven, 16. Februar 2019. Unwirtlich prunkende Wartehallensitzbänke vor einer Alu-Lamellenwand. Hereingesetzt in dieses trostlose Bild: drei namenlose Figuren, ausdruckslos starrend, in sich versunken wartend. Nie wird der Ausruf erschallen, dass ein Flugzeug, Zug oder Bus zur Abfahrt bereitsteht und sie abholt aus ihrem monadisch isolierten Zustand. Den Ausweg muss das müde Trio selbst visionieren und beschreiten. Also zuerst mal klären, warum das Leben aus dem Lot ist – und dem Publikum des Stadttheaters Bremerhavens erzählen, was Alexandra Badea dazu in ihrem Stück "Extremophil" so alles mit sachlich poetischer Sensibilität notiert hat. Und das ist ein Aufstand gegen äußere Verzweiflung und innere Leere.

Sich zum Schweigen bringen

Ähnlich fühlte sich bereits "Zersplittert" (zur nachtkrtitik von Thomas Dannemanns Inszenierung in Hannover) an. Darin hatte die Autorin einige Prototypen der globalisierten Arbeitswelt vorgestellt, in der Fremd- und Selbstausbeutung das von Sinn befreite Dasein bestimmen. Nun hat sie erneut Fakten, Folgen und Formulierungen zu aktuellen Zeitgeistschmerzen gesammelt.

Zu Gehör kommen innere Monologe, in denen drei Darsteller aus der Distanz der zweiten Person Singular beschreiben, wie sie zunehmend unfähiger werden, "die eigenen Frustrationen zum Schweigen zu bringen". Einander abwechselnd reißen sie auf der Bühne die Augen auf, drehen sich sitzend zum Publikum oder gehen an die Rampe und reden los. Stur geradeaus gegen die vierte Wand, als wäre sie ein Spiegel zur Selbstbefragung. Es gehört zum dramatischen Konzept, auf Interaktionen zu verzichten.

Extremophil 560 c Manja Herrmann u 01Beruflich erfolgreich und doch in totaler Trostlosigkeit, das extremophile Trio: Frank Auerbach, Max Roenneberg, Elif Esmen in "Extremophil" © Manja Herrmann

Nur eine Ausnahme gönnt sich Regisseur Tim Egloff. Mit einer gewissen Zwangsläufigkeit beruflich erfolgreich, aber privat unglücklich geworden, die Zwiesprache mit einem kritisch wohlgesinnten Lebensgefährten hineinimaginierend, übernehmen die Schauspieler ab und an diese Parts in den Soli der Kollegen. Lebhafte Dialoge sind das jedoch nicht, eher klanglich dezente Ergänzung der Monodramen.

Von Angesicht zu Angesicht

Die asketische Aufführung erlaubt sich nur noch als Prolog und zu Szenenwechseln weitere theatrale Kürzestablenkungen: Schultern rucken vor und zurück im Rhythmus sanft martialischer Beats, Oberschenkelmuskeln zucken und Arme zittern – eine Choreografie innerlichen Rumorens.

Da ist also der zynisch-wichtigtuerische PR-Manager (Frank Auerbach). Mit der Hoffnung auf die Veränderbarkeit der Welt ging er einst in die Politik und wollte mit seinem Gang durch die Institutionen das System verändern, aber es hat ihn verändert. Er wird Image-Beauftragter, Pressesprecher und Redenschreiber eines Ministers, hat die Welt also nicht besser gemacht, sondern belügt und betrügt sie jeden Tag mit Werbung für seinen Chef. Die Unzufriedenheit fickt er sich in homosexuellen Affären vom Leibe, die er seiner Familie verschweigt. Mit seiner aktuellen Hassliebe Ahmat, ein linksradikaler Anti-Globalisierungsaktivist, streitet der Politprofi leidenschaftlich über seinen Verlust jedweder Integrität. Und fühlt sich dabei allein im "eigenen Abgrund", von Angesicht zu Angesicht mit den innersten Wünschen. Auch eine Mikrobiologin (Elif Esmen) fühlt sich in der "tiefsten Tiefe" ihrer Abgründe. Sie erklärt aber erstmal den Stücktitel: Extremophile Organismen würden sich der Lebensfeindlichkeit ihrer Umgebung anpassen – wie die Protagonisten des Stücks.

Ausbruchsstrategien

Was auch diese Frau gar nicht wollte. Als Wissenschaftlerin wünschte sie, Lebewesen in der Tiefsee zu erforschen, träumte gleichzeitig auch vom Einfamilienhausglück mit Kind, Hund und Freund. Den aber hat sie bereits entsorgt nach seiner harschen Kritik an ihrer Entscheidung, bei einem multinationalen Konzern einzusteigen, der Bodenschätze am Meeresboden ausbeuten will.

Extremophil 560 c Manja Herrmann u 02Die Meeres-Biologin erklärt: Extremophile Organismen passen sich der Lebensfeindlichkeit ihrer Umgebung an © Manja Herrmann

Schließlich äußert sich noch ein IT-Freak (Max Roenneberg). Online-Spiele sind seine Leidenschaft, entwickeln wollte er solche Gut-gegen-Böse-Abenteuer – steuert nun aber für die US-Army weltweit Drohnen zur Pulverisierung potenzieller Terroristen. "Man hat dein Leben beschlagnahmt, du holst dir deinen Tod zurück", resümiert er nach einer Art Selbstmordversuch und sagt: "Du nimmst dein Leben wieder in die Hand." Das ist die ratlos geäußerte Ausbruchsstrategie. Wohl eine Aufforderung zu reflektiertem Handeln.

Aber was war nochmal das Problem? Wahrscheinlich taugt Entfremdung am besten zur Verschlagwortung des Stücks. Auch wenn nicht so sehr der Welt-, sondern der Selbstbezug des Personals gestört ist. Also der Eindruck bei dem extremophilen Trio vorherrscht, nicht mehr autonom den Alltag zu steuern. Ganz im klassischen Sinne von Kalle Marx. Entfremdung ist, wenn das Leben die Arbeit und die Arbeit weder genussvoller Ausdruck, noch Verwirklichung der Persönlichkeit ist. Alle drei Figuren haben sich vom Selbst abgekoppelt, indem sie ihre Ideale der Karriere geopfert haben. Sie vermissen ein Triumphgefühl. Alles wirkt schal. Nutzlos. Geradezu Klischees der Inauthentizität des modernen Individuums.

Authentisch in der Jugend

Authentisch scheinen für Badea nur die im jugendlichen Furor entwickelten Überzeugungen. Dieses Motiv führt sie als Anklage durch die Reden der Figuren: Das hast du früher gewollt, das machst du heute und mit diesen Lebenslügen rechtfertigst du, vom Pfad deiner Tugend abgekommen zu sein. Zur Strafe müssen halt alle beziehungslos und ohne Selbstbestätigung auf Wartehallensitzbänken vor einer Alu-Lamellenwand Platz nehmen. Die Schauspieler machen aus der Textlast das Beste. Artikulieren beeindruckend präzise, agieren beklemmend intensiv und verhelfen dem Abend zu schönster Klarheit.

Extremophil
von Alexandra Badea
Deutsch von Frank Weigand
Inszenierung: Tim Egloff, Bühne & Kostüme: Cornelia Schmidt, Dramaturgie: Peter Hilton Fliegel.
Mit: Frank Auerbach, Elif Esmen, Max Roenneberg.
Premiere am 16. Februar 2019
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.stadttheaterbremerhaven.de

 

Kritikenrundschau

 "Eine beklemmende Studie der Selbsterkenntnis" mache Tim Egloff aus dem Stück, schreibt Sebastian Loskant in der Nordsee-Zeitung (18.2.2019). Die Denkstrukturen in Badeas Stück lassen sich mühelos auf unseren eigenen Alltag übertragen. Egloff unterstütze das, indem er die Stimmen der Sehnsuchtsfiguren von den Mitspielern hören lässt. Ein klassischer, sehr eindringlicher Theaterabend.

 

mehr nachtkritiken