Familie Braun - In Halberstadt bringt Sebastian Wirnitzer Manuel Meimbergs bissige Neonazi-Satire auf die Bühne
Zweifel an der Heimatfront
von Georg Kasch
Halberstadt, 21. Februar 2019. Was machen zwei Nazis, die hauptberuflich PEGIDA-Schilder malen und rassistische Do-It-Yourself-Videos für ihren Youtube-Kanal drehen, mit einem schwarzen neunjährigen Mädchen? Auf Ebay versteigern? Verschenken? Aussetzen?
Das ist die Grundsituation in "Familie Braun", 2015 ein Überraschungshit fürs ZDF: Eines Tages steht Malaika bei Thomas vor der Tür und liefert Lara ab, die gemeinsame Frucht eines One-Night-Stands, weil sie selbst nach Eritrea abgeschoben wird. Wie sehr Lara mit kindlichen Fragen und unnachgiebigem Charme das Weltbild der beiden Nazis ins Wanken bringt und aus Thomas einen liebenden Vater macht, zeigte Drehbuchautor Manuel Meimberg in acht kurzen, absurd zugespitzten Episoden, selten länger als fünf Minuten. Handlung und Charaktere bleiben bei aller Unwahrscheinlichkeit angenehm uneindeutig: Jederzeit könnte die Spannung, die Drehbuch und Maurice Hübners Regie erzeugen, in Gewalt umschlagen, aber auch in Sex – ständig knistert es merkwürdig zwischen Thomas und Kai. Kein Wunder, dass Lara irgendwann fragt: Seid ihr schwul?
Nazis in Bedrängnis: Eric Eisenach als Thomas Braun, Jonte Volkmann als Kai © Ray Behringer
Beides scheint auf der Bühne nur in Momenten auf. In seiner Stückfassung lässt sich Meimberg wesentlich mehr Zeit, um Thomas’ Wandlung vom Saulus zum Paulus stärker zu motivieren, etwa indem er dessen Exfreundin Julia einbaut. Damit nimmt er Tempo raus, gewinnt aber an Glaubwürdigkeit. Anders als Edin Hasanović, der in der Serie als Nazi etwas deplatziert wirkte, prollt Eric Eisenach als Thomas beim Try Out in Halberstadt lange rum, wirkt zwar ziemlich irritiert von Lara, aber auch abgrundtief genervt. Erst allmählich sieht man es in ihm arbeiten.
Bittere Pointe
Try Out? "Familie Braun" ist keine Uraufführung, sondern eine Art Praxistest. Vermutlich ist es dem Nordharzer Städtebundtheater nur so gelungen, die Rechte vom Verlag zu bekommen. Dass das Stück zur Serie jetzt ausgerechnet in Halberstadt herauskommt (und nicht etwa in Quedlinburg, dem Schauspiel-Hauptsitz am Nordharzer Städtebundtheater) ist selbst eine Pointe – eine ziemlich bittere. 2007 hatten hier vier Neonazis fünf Schauspieler verprügelt; die Polizei arbeitete dilettantisch, man könnte auch sagen: Sie wollte nichts gesehen haben. Ähnliches ließe sich vom Richter des anschließenden Prozesses sagen. Fast hatte man den Eindruck, das Theater sei die einzige Institution mit Mut – als Reaktion startete es die Initiative gegen Rechts "Auf die Plätze!".
Jetzt also das Satyrspiel zur Tragödie. Andrea Kaempf hat eine schön deutliche Boulevard-Bühne aufgeschlagen, auf der alles ist, was man so braucht: Küche, Couch, Basteltisch mit Kamera, Nazidevotionalien (sogar das Bücherregal, in dem sich die Dosen mit den berühmten Halberstädter Würstchen stapeln, verbiegt sich zum Hakenkreuz). Vor allem gibt es einen großen TV-Bildschirm, der zum Publikum gerichtet ist. Auf dem spielt Regisseur Sebastian Wirnitzer alles ein, was vor der Tür passiert oder nicht im Raum gezeigt werden kann: Gewaltausbrüche, Polizisten, Laras Mutter, später die WG-Bewerber. Das spart Live-Personal und ist eine Verneigung vor der Serie, verhindert aber vor allem Blackfacing oder ähnliche Bemühungen der Maske, wenn etwa eine Schauspielerin alle weiblichen Nebenrollen übernehmen würde.
Star des Abends: Ananya Bönisch © Ray Behringer
Mit Ananya Bönisch hat Wirnitzer zudem eine so hinreißend sympathische, einnehmend kindliche Lara zur Verfügung, dass Meimbergs Entwaffnungskonzept durch Naivität auch auf der Bühne funktioniert. Wie Eric Eisenachs emotionale Mauer zu bröckeln beginnt, ist ebenso sehenswert wie Jonte Volkmanns ziemlich blöder, aber leidenschaftlicher und körperlich dauergespannter Kai, ein im Grunde bedauernswerter Loser. Anne Wolfs Julia bleibt hingegen etwas blass. Und die Idee, Stefan Werner Dick sowohl als Julias Freund Hamid als auch als Lehrer Beerenkamp zu besetzen, geht nicht auf: Während er den kleinen Schritt vom Waldorf-Grinsen zur deutschnationalen Fratze großartig vollzieht, ist sein türkischer Best Buddy mit schlimm angemaltem Bart und merkwürdiger Klebrigkeit eine grenzwertige Karikatur.
Lachen oder würgen
Aber der Drive stimmt, die Pointen sitzen. Wie schon in der Serie muss man N-Wörter im Dutzend ertragen und auch damit rechnen, dass das Publikum an Stellen lacht, wo’s einen eigentlich würgen müsste. Aber dafür erlebt man, wie ein vermeintlich Verlorener zu denken, noch wichtiger: zu fühlen beginnt.
Übrigens liegt auf jedem Sitzplatz ein "FCK NZS"-Sticker. Beim Premierenapplaus forderte der Regisseur das Publikum mit Nachdruck dazu auf, sie zu benutzen. Wirnitzer spielte in Halberstadt mal zwei Jahre im Ensemble, kehrte seitdem mehrfach als Regisseur zurück. Er kennt die Stadt, die Region, weiß, dass es mit Theater allein nicht getan ist. Selbst wenn es so überzeugend gelingt wie hier.
Familie Braun
Try Out von Manuel Meimberg
Regie: Sebastian Wirnitzer, Bühnenbild und Kostüme: Andrea Kaempf, Video: Stefan Ulrich, Dramaturgie: Daniel Theuring.
Mit: Eric Eisenach, Jonte Volkmann, Ananya Bönisch / Samara Broß, Anne Wolf, Stefan Werner Dick, Swantje Fischer; im Video: Benita Sarah Bailey, Jan Rosenbladt, Johannes Rieger, Max An, Arnold Hofheinz, Bertram Beier, Daniel Theuring, Benedikt F. Schörnig, Christian Fischer, Jens Jürgens, Charlotte Hohlstein, Gabriel Seltenheim.
Premiere am 21. Februar 2019
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.harztheater.de
"Ein Ereignis", findet Renate Petrahn den Abend in der Volksstimme (23.2.2019): "zum Hingucken, zum Hinhören und vor allem zum Nachdenken." Die Regie sei spannungsreich, das Ensemble zeige eine geschlossene Leistung, "insbesondere Eric Eisenach und Jonte Volkmann überzeugten in ihren Rollen", Ananya Böhnisch liefere "ein Meisterstück" ab.
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