Der Schatten großer Frauen

von Stefan Forth

Hamburg, 23. Februar 2019. Wenn es eine Frau gibt, die Donald Trump in Sachen Angriffslust ebenbürtig ist, dann wohl diese: die wütende Violet Weston. Tablettensüchtig, krebskrank, perspektivlos. Karin Neuhäuser gibt diese bösartig verzweifelte Präriebewohnerin in der Hamburger Inszenierung von Tracy Letts' viel gespieltem Text "Eine Familie" als selbstgerechtes Wrack. Am Schluss dieses zerstörungswütigen Abends wird sie eine rote Baseballkappe tragen, die auffällig dem Markenzeichen des derzeit amtierenden US-Präsidenten ähnelt. Make America great again – wenn schon im eigenen Leben nichts mehr wiedergutzumachen ist.

In dieser Familie ist eigentlich schon von Anfang an alles kaputt und verkorkst – bis auf die Fassade in Gestalt eines gutbürgerlichen zweigeschossigen Hauses, adretter Mittelstandskleidung und formschön wallender Haarpracht, notfalls als Perücke. Aber sonst: zwei der drei erwachsenen Töchter aus der Stadt geekelt, die dritte neurotisch verquast und heimlich mit ihrem unehelichen Halbbruder liiert, der Ehemann allzeit bereit, sich das Leben zu nehmen (was er zu Beginn dieses well made plays auch prompt tut).

Der Regisseur probiert was Neues

Der Selbstmord des Familienoberhauptes wird zum Auslöser für ein Zusammentreffen der verstreuten Sippschaft im notorisch überhitzten Stammsitz, in dessen Verlauf alte Wunden aufgerissen und neuere Lebenslügen aufgedeckt werden. Alles hochgradig konfrontativ, tempo- und wortreich. Ohne Punkt und Komma reden sie an diesem Abend im Thalia Theater. Und das ist schon einigermaßen erstaunlich, denn Hausregisseur Antú Romero Nunes hatte in Hamburg zuletzt mit aufregend sinnlichen Inszenierungen ohne großes Geschwafel Maßstäbe gesetzt, mit einer poetisch musikalischen Annäherung an den Orpheus-Stoff etwa und einer verspielt kraftvollen Odyssee.

EineFamilie 3 560 ArminSmailovic uEndlich in Ruhe fernsehen © Armin Smailovic

Mit "Eine Familie" scheint er beweisen zu wollen, dass er auch ganz anders kann: konventioneller, gradliniger, ganz im Dienste einer Geschichte. Schon die Bühne von Matthias Koch zeichnet realistisch und konkret ein Milieu: Links unten in der Küche brutzelt immer mal wieder eine Mahlzeit in der Pfanne, der Kuchen auf dem ausziehbaren Holztisch daneben sieht echt lecker aus, in der Badewanne wird gerne mal ein bisschen geplanscht, und die Bücherregale des gescheiterten Dichtervaters sind für die Überlebenden weitaus weniger interessant als die beiden flimmernden Fernseher. Wenn unten mal nichts mehr los ist, wird in den Schlafzimmern ein Stockwerk drüber weitergestritten.

Richtung Abgrund

Im schummrigen Licht (Die Fenster sind über weite Strecken mit schwarzer Folie abgeklebt) werfen große Frauenfiguren ihre Schatten. Ihnen gibt Regisseur Nunes Raum. Aus einem überzeugenden Ensemble sticht Cathérine Seifert heraus. Als vermeintlich toughe Tochter Barbara scheint sie zunächst die einzig würdige Gegenspielerin ihrer Mutter zu sein – bis sich herausstellt, dass sie in Wirklichkeit eine Widergängerin des matriarchalen Monsters ist. Wie diese Schauspielerin ihre Figur in fulminantem Furor immer stärker Richtung Abgrund treibt, wie von der menschlichen Kulisse einer heilen, linksliberal bildungsbürgerlichen Welt am Schluss nur noch eine Ruine im türkisfarbenen Bademantel bleibt, wie sie schließlich in Gestik, Mimik und Sprache mit der Violet Weston der Karin Neuhäuser zu verschmelzen scheint – das ist große Theaterkunst.

So gelingen Nunes mit seinem Team immer mal wieder berührende Momente und Bilder, während die Handlung der Broadway-Hitmaschine "Eine Familie" verlässlich vor sich hinsurrt. Etwa wenn Karin Neuhäuser "Bums-Musik" von Janis Joplin auflegt, in Strumpfhose und schwarzem Mieder zu "Cry Baby" einen Totentanz auf die Bühne bringt und anschließend die Depressionsdichterin Emily Dickinson zitiert. Eine Trauerende, die selbstgerecht und narzisstisch ihre Verzweiflung zelebriert. Schauderhaft gut.

EineFamilie 4 560 ArminSmailovic uWer soll hier noch aufräumen? © Armin Smailovic

Lustig kann Nunes natürlich auch. Die Pointen des Textes sitzen. Dazu kommt ein wenig verträglich dosierter Slapstick – etwa wenn Björn Meyer als Halbbruder Little Charles mit seiner geliebten Halbschwester Ivy eine waghalsige Übung im Bodenturnen mit Auflauf in der Hand vollführt. Kein Wunder, dass der Leichenschmaus im Chaos endet.

Unterhaltsam ist dieser Abend allemal, ein Stadttheaterspaß mit starken Schauspielern – aber viel mehr leider auch nicht: Regisseur Nunes bleibt damit hinter seinen Möglichkeiten zurück. "Wenn das ganze Gelaber durch ist, dann gehen alle wieder zurück in ihren eigenen Scheiß", sagt Karin Neuhäusers Violet Weston einmal. Und tatsächlich landet man nach diesem überraschungsfreien und einigermaßen erwartbaren Ausflug in die flirrende Hitze einiger Augusttage in der US-amerikanischen Prärie erstaunlich schnell wieder in der Realität einer kalten, klaren Hamburger Februarnacht. Zum Glück gibt es Theaterabende, von denen mehr bleibt.

 

Eine Familie
von Tracy Letts
Regie: Antú Romero Nunes, Bühne: Matthias Koch, Kostüme: Gwendolyn Jenkins, Musik: Johannes Hofmann, Dramaturgie: Emilia Linda Heinrich.
Mit: Anna Blomeier, Marina Galic, Felix Knopp, Andreas Leupold, Björn Meyer, Karin Neuhäuser, Toini Ruhnke, Günter Schaupp, Gabriela Maria Schmeide, Sylvana Seddig, Cathérine Seifert, Rafael Stachowiak.
Premiere am 23. Februar 2019
Dauer: 3 Stunden, 30 Minuten, eine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

"Wenn es immer noch zutrifft, dass die Familie der Kern der Gesellschaft ist, dann kann einem nach diesem Abend angst und bange werden", findet Anke Dürr auf Spiegel Online (24.2.2019). Karin Neuhäuser sei "besser als die Streep". Aber auch das ganze Ensemble habe sich zusammen mit Nunes "dieses Stück auf eine bemerkenswerte Art und Weise zu eigen gemacht".  Vieles sei dazu erfunden, so dass das Ganze nun dreieinhalb Stunden dauere – "die einem, und das ist nicht so häufig im Theater, aber deutlich kürzer vorkommen". Das Vorurteil, Stücke wie "Eine Familie" seien konventionell, widerlege Nunes und sein Team: "Es kommt drauf an, was man draus macht."

"Karin Neuhäuser ist das Zentrum dieses weiblich bestimmten Irrenhauses, und sie ist in Hochform", schreibt Maike Schiller im Hamburger Abendblatt (25.2.2019). Stark sei, wie Nunes mit kleinen Zeichen die Unausweichlichkeit zerstörter Beziehungen sichtbar werden lasse. "Der Abend ist ein Fest für die Schauspieler – und liefert dazu einen so ausführlichen wie schaurigen Einblick ins Trump-Land, wo die Familie bekanntermaßen ein Wert an sich ist."

"Ein Stück wie eine RTL-Soap, aber mit besseren Darstellern", so Michael Berger in den Lübecker Nachrichten (26.2.2019). "Alle sind ständig im Angriffs- oder Verteidigungsmodus. Das wird in Nunes’ Inszenierung mal tragisch, meist aber slapstickhaft aufgeführt im Stile einer Screwball-Komödie." Das Ende sei vorhersehbar "– wegen der so zahlreichen wie betagten Vorbilder aus den US-amerikanischen Dramatikerwerkstätten. Offenbar ist doch nicht jede unglückliche Familie so einzigartig wie von Tolstoi behauptet." Die von Tracy Letts erfundene tauge jedenfalls bestens für eine RTL-Soap.

 "Der Abend funktioniert. Nicht mehr und auch nicht weniger," schreibt Katrin Ullmann in der taz (9.3.2019). "Das Timing stimmt meist, die abendfüllende Zerfleischung nimmt geradezu technisch ihren Lauf." Neurose um Neurose werde ausgetobt, wunde Wunden mit Salz bestreut, "dazu und dazwischen röhrt regelmäßig Janis Joplin: Der Dramenverlauf gleicht einer Einbahnstraße. Und Nunes steuert sie brav entlang. Immer geradeaus, wie sich das gehört, auf den Abgrund zu. Doch er fährt wie mit angezogener Handbremse. Vom Steuer aus versucht er, ein Feuerwerk zu zünden, dessen Raketen aber auf halber Höhe belanglos verpuffen."

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