Zu Wien haben wir noch nie gehört!

von Thomas Rothschild

Bregenz, 8. März 2019. Vorarlberg ist Österreichs westlichstes Bundesland. Es hätte auch anders kommen können. Bei einer Volksabstimmung votierten 1919 rund 80 Prozent der Wahlberechtigten für einen Beitritt Vorarlbergs zur Schweiz. Es wäre der (nach heutiger Zählung) 27. Kanton der Eidgenossenschaft geworden, von den deutschnationalen Gegnern des Plans ironisch "Kanton Übrig" genannt. Die Angelegenheit hat sich im Sand verlaufen. Geblieben aber ist den Vorarlbergern eine nicht nur räumliche Distanz zu Wien, sondern auch das Bewusstsein einer besonderen Eigenart.

Die neue Intendantin des Vorarlberger Landestheaters Stephanie Gräve, gerade ein halbes Jahr im Amt, hat den von Theaterleitern häufiger angekündigten als eingelösten "Regionalbezug" ernst genommen und – mit einem Budget, das halb so hoch ist wie im benachbarten Konstanz – zwei Stücke zum Thema in Auftrag gegeben, die jetzt in Bregenz uraufgeführt wurden. Ihre Autoren sind der Österreicher Thomas Arzt und der Schweizer Gerhard Meister.

27kanton 560 c Anja Koehler uLauter vernüftige Leute: Rahel Jankowski, Luzian Hirzel, Felix Defèr, Bo-Phyllis Strube, Elke Maria Riedmann, David Kopp © Anja Koehler

Thomas Arzt gehört neben Ferdinand Schmalz, Ewald Palmetshofer, Gerhild Steinbuch und Thomas Köck zu einer zwischen 1978 und 1986 geborenen Generation österreichischer Dramatiker*innen, deren Stücke allesamt von renommierten Bühnen aufgeführt werden. Es steht also gar nicht so schlecht um das gegenwärtige Literaturtheater wie gelegentlich behauptet wird. "Die Verunsicherung" spielt in der Gegenwart, im Kaiserstüberl, das die Bühnenbildnerin Carolin Mittler mit Radios, Grenzpfählen, Biergläsern und einer überdimensionalen Zielscheibe eher herbeireden lässt als aufbaut. In der Gegend treiben sich Landvermesser umher und verunsichern die Bewohner.

"Niemand will hier ernsthaft einen Anschluß!"

Psychologisierung wird konsequent vermieden. Die antinaturalistische Kunstsprache führt die Linie fort, die von Horváth zu Werner Schwab führt: "Vorarlberg ist im Ausnahmezustand, über Nacht. Da werd ich weitergeleitet, direkt nach Brüssel. Sag ich, ist das von euch beauftragt, im Regionalentwicklungsplan, oder was?“ Gelegentlich sprechen die Figuren in Mikrophone, die auf der Bühne bereitstehen.

Mehrmals erscheint der Schriftzug "Erinnere dich, Vorarlberg" auf den Wänden. Wiederholt wird auch das Wort "Anschluss" geäußert. Gemeint ist zunächst der Anschluss Vorarlbergs an die Schweiz, aber in Österreich denkt naturgemäß jeder an den Anschluss ans Deutsche Reich, den manche, die nicht wahrhaben wollen, dass er von einer Mehrheit der Österreicher gewollt war, unter Anführungszeichen schreiben. Bei Thomas Arzt sagt Uschi zu der verwirrten Roswitha: "Niemand will hier ernsthaft irgendeinen Anschluss. Wir sind EU."

Grenze zum Kabarett

Am Schluss kommt der Kanzler wie der Revisor bei Gogol. Michel gibt zu Bedenken: "Sollten wir ihn doch begrüßen, was? Und einladen, zu einem kleinen spontanen Bürgerforum. Gäb da nämlich ein paar Fragen noch, die ich hätt. Und ein paar Wünsche." Und Gsiberger ergänzt: "Zum sozialen Abbau, zum Beispiel." Die Passage spielt an auf einen Besuch von Bundeskanzler Kurz in Vorarlberg, bei dem eine öffentliche Diskussion in einem Bürgerforum mit einem kleinen Skandal zuende ging. Das Premierenpublikum quittierte sie mit Lachen.

27kanton 560a c Anja Koehler uDie Verunsicherung: Luzian Hirzel, Rahel Jankowski, Bo-Phyllis Strube © Anja Köhler

Gerhard Meister ist Schweizer und sechzehn Jahre älter als Thomas Arzt. Stephanie Gräve hat schon an ihrer früheren Wirkungsstätte, in Bern, seine Fassung der Schutzflehenden von Aischylos aufführen lassen. Mehr noch als "Die Verunsicherung" bewegt sich "Lauter vernünftige Leute" an der Grenze zum Kabarett. Die Radios stehen immer noch auf der Bühne und sind nun mit kleinen österreichischen Flaggen besteckt, die später gegen Schweizer Fähnchen ausgetauscht werden.

Kollektiver Opportunismus

Das Stück beginnt im Jahr 1919 und es schneit. Aus dem Schnürboden fallen zuerst Handschuhe, dann Besen zum Schneekehren. Das kleine Ensemble steht in Winterkleidung in einer Riege frontal zum Publikum und teilt sich den Text, den Gerhard Meister ohne Rollenzuschreibung vorgegeben hat. Die Vorarlberger werden, entgegen der historischen Wahrheit, tatsächlich zu Schweizern. "Zu Wien haben wir noch nie gehört. Mit Wien haben wir nichts zu tun. Kommunisten und Juden. Und Juden und noch einmal Juden, das ist Wien."

1938 stellt sich die Reue ein: "Wir hätten niemals Schweizer werden dürfen!"  Weiter geht der kollektive Opportunismus über 1945 ("Das ist typisch für Wien, dass die Russen nun dort sind") bis zur Gegenwart, in der in Gerhard Meisters Fiktion die Vorarlberger endgültig Schweizer geworden sind ("In einem Land zu leben, das die Atombombe hat, das gibt einem sofort das Gefühl, man sei jemand und das ist ein gutes Gefühl").

Die straffe Regie von Patricia Benecke erlaubt keine Durchhänger, besticht durch die Perfektion von Timing und Rhythmus, die unverzichtbar ist bei Meisters wie eine Musikkomposition mit Wiederholungen und Variationen aufgebautem Text. Das Ensemble kommt der Regie in den beiden nur durch die "Hausaufgabe" verbundenen, stilistisch so unterschiedlichen Kurzdramen mit erkennbarer Spielfreude entgegen. Es hat innerhalb kurzer Zeit zu einer erstaunlichem Homogenität gefunden. Das Ergebnis zeigt: es hat sich gelohnt. Für Vorarlberg. Und fürs Theater.

 

Der 27. Kanton
Eine Doppel-Uraufführung
DIE VERUNSICHERUNG von Thomas Arzt
LAUTER VERNÜNFTIGE LEUTE von Gerhard Meister
Regie: Patricia Benecke, Bühne und Kostüm: Carolin Mittler, Musik: Ivo Bonev, Dramaturgie: Christa Hohmann
Mit: Felix Defèr, Luzian Hirzel, Rahel Jankowski, David Kopp, Elke Maria Riedmann, Bo-Phyllis Strube.
Premiere am 9. März 2019
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, eine Pause

https://landestheater.org

Kritikenrundschau

"Schöne Bilder, einige humorvolle Passagen und das Schauspiel der sechs Darsteller sind das Plus dieser Doppelinszenierung von Patricia Benecke. Auf der anderen Seiten stehen inhaltliche Unschärfen und teilweise unpassende inszenatorische Mittel", schreibt Lisa Kammann in der Neuen Voralberger Tageszeitung (12.3.2019).

Christa Dietrich von den Voralberger Nachrichten (9.3.2019) hat Zweifel, ob die Bühne das richtige Podium zur Erörterung des Themas ist. Der Auftrag habe Arzt und Meister motiviert, "möglichst viele Themen in den Beiträgen zu verwursten". Das gehe zu Lasten der trotz aller satirischen Einschübe notwendigen Differenzierung. Man lache über die Witze mit den irrationalen Chauvinisten und Opportunisten, habe am Ende aber auch nicht mehr erfahren, als in jeder kurzen Zusammenfassung über Anschlussbestrebungen 1919 und 1938 stehe. "(A)uf den Punkt bzw. ein paar nachthaltige Punkte kommt der Abend nicht."

"Es ist kein besonders schmeichelhaftes Landesporträt, das Meister da zeichnet, aber über weite Strecken unterhaltsam und manchmal auch erhellend." Mit der Zeit werde es aber doch allzu vorhersehbar, schreibt Rolf App im St. Galler Tagblatt (14.3.2019) Arzt' Stück hingegen besteche durch leicht kafkaeske Unheimlichkeit und bleibe bis zum Schluss rätselhaft. "Unheimliches geschieht, und die Regisseurin Patricia Benecke setzt es unheimlich in Szene."

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