Dem Tal auf den Grund gehen

von Georg Kasch

Dresden, 9. März 2019. Freital ist überall. Das Festzelt, dessen weiße Plane sich bis hinter die Publikumstribüne zieht, mit seinen Bierbänken und der fiesen Mucke im Hintergrund, könnte in jedem Kaff stehen. Hier sitzen sie zusammen, die Alten und die Jungen, die mit den Jobs, die Arbeitslosen, die Punks und Grufties. Sie alle kippen Runde um Runde, singen Trinkverse wie "Nach Hause gehen wir nicht, bis dass der Tag anbricht", während drei kindliche Kellner für Nachschub sorgen. Das Bierzelt als Utopie: Hier kommt zusammen, was sonst einander oft nicht mal mehr einen Guten Tag wünscht.

Ist Freital aber wirklich eine Stadt wie jede andere? Der Ort, um den sich Dirk Lauckes Stück "Früher war alles" für die und mit der Bürgerbühne des Dresdner Staatsschauspiels dreht, ist ja nicht nur eine sächsische Große Kreisstadt, die erst 1921 aus mehreren Dörfern gegründet wurde, weil die Region wegen der Industrialisierung rasant wuchs – eine Schlafstadt, sagen die einen, Heimat, sagen die anderen. Sondern seit 2015 auch ein Symbol für einen Teil Deutschlands, der sich auf bedrohliche Weise vom demokratischen Konsens zu verabschieden scheint.

frueherwaralles 560 sebastianhoppe uAufruhr unter Bürgern © Sebastian Hoppe

Davon aber will Laucke nur am Rande erzählen. Im Zentrum stehen nicht die Rechten, sondern Bürger einer Stadt, die fast alle Zugezogene sind: erst Heimatvertriebene aus den einstigen Ostgebieten wie Breslau, später Arbeitsnomaden innerhalb der DDR, dann Spätaussiedler aus der Sowjetunion, zuletzt die Flüchtenden von 2015. Drei Episoden montiert Laucke: In der ersten eckt Till überall an, macht sich mit zwei Kumpeln auf den Weg quer durch die Republik, endet aber nicht in der Freiheit, sondern in der Maloche in einer bruchreifen Zuckerfabrik. In der zweiten, bald nach der Wende, werden im Edelstahlwerk hunderte Arbeiter entlassen. Weggehen und die neuen Chancen nutzen? Bleiben und streiken? Währenddessen reibt sich die Jugend auf im Kampf gegen Neonazis, Polizei und Depressionen. Im dritten Teil lädt eine alte Frau zwei Flüchtende aus Eritrea zu sich ein, während der Mob kocht.

Hier, in dieser so zärtlichen wie komischen Episode, ist Regisseur Jan Gehler ganz bei sich. Denn einerseits gehört die Sprachverwirrung zwischen der alten Frau Senner sowie Benyam und Teodros zu den witzigsten Momenten des Stücks. Zum anderen geht hier die Besetzung mit Laien auf, weil Ilse Karsch (Jahrgang 1941) mit der Autorität ihres Alters und die 7./8.-Klässler Leon Voigt und Florian Göttert mit unbefangener Souveränität eine Spannung entfesseln, die einen vergessen lässt, dass man in einer Bürgerbühnenproduktion sitzt.

frueherwaralles 560b sebastianhoppe uBretter, die das Arbeiterleben bedeuten © Sebastian Hoppe

Die Dresdner Bürgerbühne, 2009 unter Wilfried Schulz gegründet und seitdem ein Vorbild für viele Nachahmer, ist längst eine Institution. In vielen Projekten stehen Menschen auf der Bühne, die das, was da verhandelt wird, selbst erlebt haben. Gehler hat in "Früher war alles" die Rollen mit echten Freitalern besetzt, um die Grenze zwischen dem eigenen Erlebten und dem der anderen zu verwischen, wie es im Programmheft heißt – allerdings sind Geschichtengeber und Spieler nie identisch. Der Gedanke ist schön, erscheint einen Moment lang zwingend – bis man die 19 Laien in ihren Rollen erlebt und zu selten Menschen sieht, weil viele von ihnen nur Behauptungen abliefern, Sätze wie Parolen skandieren. Das ist in seiner Überzeichnung oft komisch, manchmal aber auch nur mühsam.

Widerpart als Witzfigur

Szenisch findet Gehler, der ja einer jener Regisseure ist, die aus Nichts Theater machen können, manch elegante Lösung: Aus den Bierbänken werden spielerisch Autos, Zuckersäcke, Barrikaden, aus den "Die Mauer muss weg"-Rufen übergangslos "Die Mauer ist weg", aus den Panikschreien der Eritreer Babyplärren. Dass etliche Momente dabei eher betulich dahinplätschern, liegt sicher an den ungleich verteilten Spielertalenten. Aber auch daran, dass Laucke Konflikte selten zuspitzt. In seinem Versuch, durch die Jahrzehnte von den Widerständigen zu erzählen, von denen, die einen anderen Weg gehen als die (gefühlte) Mehrheit, geraten ihm die Widerparts entweder als Witzfiguren oder nur als undeutliche Masse, vor denen die Helden kaum an Kontur gewinnen.

Dabei ist es wichtig, exemplarisch vom Osten zu erzählen, ohne in Klischeefallen zu tappen. Laucke hat den richtigen Stoff gewählt, eine lakonische, knappe Sprache gefunden. Jetzt müsste er nur noch die Konflikte zulassen.

 

Früher war alles
Geschichten von Träumen und Abwicklungen aus Freital
Uraufführung
von Dirk Laucke
in Kooperation mit der Großen Kreisstadt Freital
Regie: Jan Gehler, Bühne: Sabrina Rox, Kostüme: Claudia Irro, Carlotta Oetter, Musik: Vredeber Albrecht, Licht: Olaf Rumberg, Dramaturgie: Sylvia Sobottka.
Mit: Stefan Vogl, Beate Lamm-Göttert, Steffen Petrenz, Florian Göttert, Leon Voigt, Ilse Karsch, Mathilda Kaufhold, Arnd Strobel, Felix Fischer, Louis Förster, Thomas Hoegg, Jörn Gottschlich, Janka Haubold, Arnd Joachim Strobel, Luise Hemmann, Caroline Preußner, Jonathan Werner, Steffen Petrenz, Louise Hemmann.
Premiere am 9. März 2019
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

"Laucke arbeitet in seinem Text die unterschiedlichen Haltungen heraus, benutzt dabei einen sehr knappen Stil – kein Wort zuviel. Die Akteure auf der Bühnen tragen diese Texte mehr vor, lauschen Ihnen nach, als dass sie sie naturalistisch erspielen würden. So entsteht der Eindruck einer Suche nach einem So-geworden-sein – durchaus passend. Je näher dabei die gespielte Zeit an die eigene heranreicht, desto spannungsreicher dieser Vortrag", so Stefan Petraschewsky von mdr Kultur (10.3.2019). "Braucht die Welt so ein Stück? Ja! – Was Laucke und Regisseur Jan Gehler hier zeigen, ist ein deutsches Geschichtspanorama. Ein Erklärstück mit humanistischer Botschaft. Aber vor allem ist es eine Gelegenheit, die der Theaterraum hier auch bietet, eine Stadtgesellschaft auf ein gemeinsames Ziel hin einzuschwören: Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern und Schwestern, das aus der Geschichte lernend aus einer schwierigen Situation das Beste zu machen sucht."

Dirk Laucke zeige in seinem Stück grundsympathische Freitaler, schreibt Michael Bartsch in den Dresdner Neuesten Nachrichten (11.3.2019).  Die Gangs zünden aber nicht so recht in "einem sonst gut komponierten und vor allem dem 'Volk' abgelauschten Text." Gehler fordere die Authentizität der Figuren heraus, "lässt sie vor allem sich selbst und keine Rolle spielen". Fazit: Wie es früher war, "lässt der Titel dieses die Erwartungen an hohe Brisanz nicht ganz erfüllenden Stückes offen".

Gehler setze seine Protagonisten in ein Festzelt, so Katja Solbrig (Sächsische Zeitung, 11.3.2019). Zu Schnaps und Bier lässt es sich leichter von früher erzählen. Als ideal in seiner Schlichtheit erweise sich das Bühnenbild von Sabrina Rox. Das Kapitel "Ziemlich beste Freunde" gerate zum schwierigsten, weil diese Zeit noch kaum vergangen sei. "Text und Regie bemühen sich um eine Darstellung, die möglichst alle Seiten zu Wort kommen lässt." 

Dass Gehler die fremdenfeindlichen Proteste als Schattenspiel hinter der Zeltplane mit sächsischem Wortbrei inszeniere, sei  nachvollziehbar, findet Antonie Rietzschel in der Süddeutschen Zeitung (12.3.2019). "Allerdings verschwimmen dadurch die Deutungsmuster über den Hass, der sich Bahn brach." Dass auf die Proteste die Terroranschläge der "Gruppe Freital" folgten, deren Mitglieder teilweise aus der Mitte der Gesellschaft kamen – "all das wird auf der Bühne nicht klar benannt". Hier offenbare sich die Schwierigkeit des Stückes, das "den Ort nicht erneut einer Stigmatisierung aussetzen, sondern eine versöhnliche Botschaft senden möchte".

 

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