Man kann die Welt nicht durch Gräuel verschönern

von Gerhard Preußer

Köln, 15. März 2019. Die Kanaille ist eine Frau. Oder doch nicht? Sie heißt ja Franz. Ersan Mondtags Inszenierung von Schillers "Räubern" ist ein Geschlechterverwirrspiel. In dem Bruderzwist zwischen Karl Moor, dem idealistischen, wilden Räuber, und Franz Moor, dem materialistischen "kalten, trockenen Alltagsmenschen" sind alle Hauptrollen geschlechterverkehrt besetzt.

Schillers wüste Fabel vom Vater Moor, der auf Betreiben des jüngeren Sohnes Franz den älteren Karl enterbt, von dessen mordbrennendem Räuberleben, Franzens Versuch, auch den Vater auszuschalten, und seinem vergeblichen Bemühen, Karls Verlobte Amalia zu gewinnen, bis schließlich Karl zurückkehrt, den gefangen dahinschmachtenden Vater befreit, Franz sich selbst tötet und Karl die ewig ihn liebende Amalia umbringt, weil sie keinen Verbrecher lieben darf – das alles wird getreu erzählt.

Der Intrigant im Empirekleid

Franz (Sophia Burtscher) trägt ein Empirekleid in zarter Mädchenfarbe, sie kann mit noch so männlich großen Schritten über die Bühne stampfen, die Füße auf den Tisch legen, sie bleibt doch eine Frau. Karl (Lola Klamroth) trägt zunächst eine dunkelgrüne, samtig schimmernde bodenlange Robe. Sie kann noch so gekonnt mit dem Degen fuchteln und kasernenhofmäßig brüllen, man sieht doch eine Frau. Herbe, sogar bösartige dominante Frauen zu sehen, ist man gewohnt, zumindest auf der Bühne.

Raeuber2 560 Birgit Hupfeld uUnter den Augen der Ahnen: Sophia Burtscher als Franz Moor hat es auf Jonas Grundner-Culemann als Amalia abgesehen @ Birgit Hupfeld

Erst an Amalia (Jonas Grundner-Culemann) wird der Sinn der Verwirrung deutlich. Sie ist ein schwaches Mädchen in einer stabilen Männerphysis. Ständig muss sie weinen, legt die Hände in den Schoß und schließt die Knie eng aneinander. Wie hier ein männlicher Schauspieler auf klischeehafte weibliche Bewegungsmuster zurückgreifen muss, macht deutlich, wie erfahrungslos zusammenphantasiert diese Frauenfigur bei Schiller ist.

Zugespitzt wird dieser erhellende Widerspruch von Darsteller und Figur zwei Mal: Einmal als Franz Amalia umwirbt, dabei auch zu Mitteln körperlicher Gewalt greift, sie würgt und schlägt, aber dann am Ende sich auffordernd hinlegt, den Rock hochschiebt und Amalia am Hosenlatz zu sich herabzieht. So könnte es aussehen, wenn bei unveränderter Physis der Geschlechter die Machtverhältnisse sich umgekehrt hätten. Dann wird am Schluss Amalia zu Karl gebracht, nackt, mit einem Sack über dem Kopf. Seht her, so wirkt Nacktheit, wenn die Geschlechtermacht sich ändert.

Morden im schönen deutschen Herbstwald

Doch Geschlechtertausch ist nicht das einzige Thema dieser Inszenierung. Auf der Bühne steht links ein Haus, das gedreht wird, damit man einen biedermeiermäßig eingerichteten Wohnraum sieht, und hinten dräut ein gemalter Wald mit riesigen Fichten. Rechts steht ein quadratisches Wasserbecken unter einer Projektionswand. Dort oben prangen schöne Landschaftsbilder vom Elbsandsteingebirge, Caspar David Friedrichs Gemälden nachgestellt.

Im Video munkelt und mordet die Räuberbande im schönen deutschen Herbstwald. (Doch keine Räuberinnenbande ist das, nur ein Männerbund mit einer Quotenfrau, Kate Strong, und eben der Hauptmännin.) Der Wald als Metapher für deutsche Sentimentalität und Brutalität prägt die Inszenierung ebenso. Entscheidend für die emotionale Wirkung der Inszenierung ist auch die Musik (Max Andrzejewski). Vier Sängerinnen begleiten viele Szenen mit überwiegend textfreiem a capella Gesang, spröde und dissonant harmonisiert, aber immer in perfekter Abstimmung zur Grundstimmung der Szene.

Raeuber1 560 Birgit Hupfeld uIm Bannkreis der alten Führer und Väter: Das Bühnenbild entwarf sich Regisseur Ersan Mondtag selbst @ Birgit Hupfeld

Und zwischen Teich und Haus steht überlebensgroß die Statue des Vaters Moor mit zum patriarchalischen Herrschergruß erhobenem rechten Arm: ein Relikt der antisozialistischen Revolutionen, ein Pseudo-Stalin oder -Ceaușescu. Das Urbild dieses monumentalen Abbildes ist sein gerades Gegenteil: ein kleiner, dicker Schlottergreis im weißen Nachthemd, eine weichliche Heulsuse, nur gut für einige Scherze (Bruno Cathomas).

Hier wird die tragische Schmonzette auch mal heiter. Wenn Vater Moor die Statue am Strick, den Franz ihr umgelegt hat, selbst zu Boden zieht, sich selbst greinend vom Sockel holt, gibt es Gelächter. Politische Freiheit ist das dritte Thema des Abends. Karl und seine Räuber führen das Wort "Freiheit" immer im Munde. Am Ende muss Karl aber einsehen, dass sein extremistischer Freiheitskampf gescheitert ist. Man kann die Welt nicht durch "Gräuel verschönern" und nicht "Gesetze durch Gesetzlosigkeit" aufrecht halten.

Carolin Emckes Freiheitsdiskurs

Dieser Gedanke wird weitergeführt in einem Text von Carolin Emcke, den Thelma Buabeng im Video spricht. "Was ist nur aus Euch geworden? Wie habt ihr Euch selbst entstellt?" Die Frage richtet sich an Karl und seine freien Räuber. "Am Grund der Gewalt findet sich keine Begründung." Emcke will keinerlei Rechtfertigungen für menschenfeindliches Verhalten zulassen. "Frei sein" sagt sie, "kann nur heißen, sich immer wieder zu entdecken und befreien zu wollen und dabei nach anderen Ausschau halten, zu widerstehen mit einem Wir, das durchlässig und wandelbar ist." So endet die vielseitige, fast hyper-überdeterminierte Inszenierung mit einer ruhigen Rezitation zwischen kritischer Überlegung und emotionalem Appell.

 

Die Räuber
von Friedrich Schiller
mit einem Monolog über die Freiheit von Carolin Emcke
Regie: Ersan Mondtag, Bühne: Ersan Mondtag, Kostüme: Josa Marx, Video: Florian Seufert, Musik: Max Andrzejewski, Licht: Rainer Casper, Dramaturgie: Beate Heine.
Mit: Bruno Cathomas, Lola Klamroth, Sophia Burtscher, Jonas Grundner-Culemann, Nikolay Sidorenko, Simon Kirsch, Johannes Meier, Nicolas Lehni, Kate Strong, Elias Reichert, Ines Marie Westernströer, Thelma Buabeng.
Sängerinnen: Marie Daniels, Zola Mennenöh, Taya Chernyshova/Thea Soti, Mascha Corman/Rebekka Ziegler.
Premiere am 15. März 2019
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.schauspiel.koeln

 


Kritikenrundschau

Einen "mit großartigen Ideen, tollen Bildern und schönen Worten vollgestopften Theaterabend" hat Wolfgang Höbel für Spiegel Online (16.3.2019) in Köln gesehen. Auf "Plausibilität und psychologische Genauigkeit" lege Mondtag keinen Wert, "alles wird hier im selben Ton abgehandelt – dunkel war's, der Mord ging schnelle; Atmosphäre ist alles, die Handlung Schall und Nebelrauch". Fazit: "Es ist keine radikale Neudeutung eines kanonischen Texts, kein entschlossenes Schiller-Dementi, das Ersan Mondtag mit der Kölner 'Räuber'-Seance gelingt, sondern ein eher diffuses Plädoyer zur Aussöhnung der zornigen Massen und der Geschlechter."

Patrick Bahners von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.3.2019) schreibt, das weib­li­che Mo­ment, das Mond­tag an den Cha­rak­te­ren der Brü­der her­ausprä­pa­riere, sei ei­ne Art Selbst­schutz­me­cha­nis­mus: "Bei Frau­en ist das Agie­ren von vorn­her­ein ein Re­agie­ren, weil sie in ein Ohn­macht­ge­fäl­le nicht hin­ein­ge­bo­ren, aber hin­ein­ge­stellt wer­den." Di­let­tan­ten des Ge­fühls­le­bens führe Mond­tag vor, "Ge­fan­ge­ne au­to­di­dak­ti­scher Theo­ri­en des Be­frei­ungs­schlags. Aber die See­lenz­er­glie­de­rung, die über­all auf Ver­satz­stü­cke stößt, er­zeugt ih­re ei­ge­ne Rüh­rung." Thelma Buabengs Schlussmonolog sei "nicht die Mo­ral der Ge­schich­te, kein Ver­schnitt von Ma­xi­men, der den Fa­mi­li­en­ro­man der Moors nach­träg­lich zur Pa­ra­bel er­klä­ren wür­de", sondern: "ein ganz an­de­rer Text, des­sen di­rek­ter Duk­tus aber doch mit dem Or­nat der aka­de­mi­schen Psy­cho­lo­gie Schil­lers ver­wandt ist, als wä­re ein Hand­schuh um­ge­stülpt wor­den", so Bahners: "Viel­leicht kann man die­se Mon­ta­ge so deu­ten: Nach der Be­wäl­ti­gung je­der Ge­schich­te muss sich die Mo­ral nicht als Lek­ti­on ein­stel­len, son­dern als et­was Neu­es, das sich wie­der von selbst ver­steht."

"Wohin Ersan Mondtag mit seiner Schiller-Lesart letztlich will, bleibt an diesem überlangen Abend schleierhaft – aber man kann im mythendunklen deutschen Wald eben auch auf den Holzweg geraten", schreibt Hartmut Wilmes in der Kölnischen Rundschau und dem General Anzeiger (17.3.2019). Immerhin: "Während am Konzept so einiges knirscht, brilliert Mondtag als sein eigener Bühnenbildner." Und Sophie Burtscher sei als Franz Moor "fechtend, giftend, lockend, fluchend und wütend stets ein Mistkerl der Sonderklasse".

Diese "Räuber" seien ein "verkrachter, aber äußerst faszinierender Abend", findet Christian Bos im Kölner Stadtanzeiger (18.3.2019). Mondtag stelle den Text aus, mätzchenfrei und im historischen Kostüm, "ganz nach den Wünschen ästhetisch konservativer Theatergänger". Dabei gelängen Mondtag "Momente großer Intensität". Allerdings verliere die Aufführung zunehmend an Sogkraft. Das angeklebte Emcke-Ende provoziere sogar Buhs: "Man lässt sich heutzutage halt nicht mehr gerne in die moralische Anstalt einweisen."

Gerade die Tatsache, dass es für die Inszenierung weitgehend gleichgültig sei, "ob da nun Männlein oder Weiblein agieren", lasse die Geschlechtswandlung als eher irritierenden Gimmick ins Leere laufen, schreibt Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung (19.3.2019). "Mal deklamatorisch, mal unterspielt bis an den Rand der Gleichgültigkeit, liefert Mondtags Lesart weder einen durchgehenden Stil, noch einen alles überspannenden dramatischen Bogen." Menden schließt: "Was bleibt, ist ein mit vielen, zum Teil durchaus interessanten Ansätzen übersättigter Theaterabend, der einen seltsam unbefriedigt zurücklässt."

"Ersan Mondtags dreieinhalbstündiger verbitterter Versuch, Friedrich Schillers ‚Räuber‘ in ein ästhetisch aufgepepptes Korsett zu zwängen, bleibt nur als lähmend surreale Kitschoper im Gedächtnis", fasst Bernd Noack in der NZZ (19.3.2019) seinen Eindruck zusammen. Der Regisseur klebe "seltsam konsequent" am Originaltext und verkleistere doch die Geschichte "im romantisch-gruseligen Zwielicht". Der "(unfreiwillig) komischste Effekt" der "rundum verunglückten Inszenierung" für den Kritiker: wenn Mondtag "am Ende die Statue seiner selbst wie ein Saddam-Hussein-Monument stürzen" lässt.

 

mehr nachtkritiken