Die Stadt der Blinden - Kay Voges inszeniert José Saramagos Roman am Schauspielhaus Hamburg als Stroboskoplicht-Apokalypse
Haus der Hunde
von Jan Fischer
Hamburg, 16. März 2019. William Golding sagte einmal, dass Sex ihm als Motiv zu trivial erschienen sei um damit eine Geschichte über Gut und Böse zu erzählen – darauf angesprochen, dass in "Herr der Fliegen" keine Mädchen oder Frauen vorkämen. Wenn man Kay Voges' Inszenierung von "Stadt der Blinden" im Deutschen Schauspielhaus sieht, möchte man ihm nicht unbedingt recht geben. Denn die Geschichte des Literaturnobelpreisträgers José Saramago ist eine Geschichte, die, ähnlich wie "Herr der Fliegen", versucht, anhand eines Abstiegs in die Tierseele hinter der dünnen Tünche der Zivilisation etwas über Gut und Böse, über Moral und Unmoral herauszufinden. Sex gibt es aber reichlich, und Voges hat eine diebische Freude daran, diesen zu zeigen. Beispielsweise während einer Vergewaltigungsszene, Oralsex in Nahaufnahme in HD auf eine riesige Leinwand projiziert.
Blut und Scheiße
Die Geschichte geht so: In einer Stadt greift plötzlich Blindheit um sich, die Betroffenen sehen nur noch einen weißen Nebel. Die Blindheit scheint ansteckend zu sein, deshalb werden die Betroffenen in Quarantäne gesperrt – die Geschichte konzentriert sich auf eine kleine Gruppe, die in einer verlassenen Irrenanstalt eingesperrt wird, abgesichert vom Militär.
Bei Voges ist das ein zweistöckiges Haus hinter einem Bauzaun mit Stacheldraht, das sich auf der Bühne dreht und so aus unterschiedlichen Perspektiven einsehbar ist, dazu sind mehre Leinwände daran angebracht, auf denen Live-Bilder aus dem Haus gezeigt werden.
Videoüberblendungen auf Pia Maria Mackerts Bühnenbild für "Die Stadt der Blinden" in Hamburg © Marcel Urlaub
Unter den Blinden im Haus geht die Zivilisation bald flöten: Es gibt nicht genug Essen, Körperhygiene ist nicht möglich, die Wasseranschlüsse funktionieren nicht. Die Kloschüssel zu treffen ist auch nicht leicht, wenn man noch nicht so lange blind ist und wer fliehen will, wird erschossen. So wälzen sich die 21 Schauspieler und Schauspielerinnen auf der Bühne bald in einer Mischung aus Scheiße und Blut, überall liegt beschmutztes Klopapier, und die Kameras halten genüßlich drauf, während das Haus sich dreht und die Apokalypse ihren Lauf nimmt.
Wie die Tiere
"Die Angst da draußen ist so groß, dass die Sehenden die Blinden töten", berichtet einmal ein Neuankömmling denjenigen, die schon länger im Haus sind. Je weiter alles fortschreitet, desto mehr werden die verdreckten, blinden Hausbewohner zu Tieren, bis sich schließlich Riivalitäten zwischen dem oberen und dem unteren Teil des Hauses entwickeln, weil vom Militär keine Essenslieferungen mehr kommen. Die Frauen aus dem unteren Teil des Hauses prostituieren sich schließlich widerwillig für den oberen Teil, um Essen zu besorgen.
Sandra Gerling als einzig Sehende unter den Blinden, die sich von der besorgten Ehefrau zu einem verzweifelten Racheengel und dann zur Führerin einer Gruppe entwickelt © Marcel Urlaub
Die einzige Sehende in der Gruppe, die ihre Blindheit nur vorgetäuscht hat, um ihrem erblindetem Mann beizustehen, beobachtet den Abstieg der anderen. "Wir sind wie eine andere Rasse. Hunde. Wir erkennen uns am Bellen", sagt sie während einem ihrer Zwischenmonologe. "Es wäre wirklich besser, blind zu sein" während eines anderen. Schließlich ersticht sie die Vergewaltiger, das Haus brennt ab, und die Überlebenden fliehen in Standardsituationen der Postapokalypse (Essen suchen, überall Leichen) etwa 20 Minuten lang, während unregelmäßiges weißes, sehr helles Licht aufblitzt, sodass ihre Nachbilder dem Publikum auf der Netzhaut bleiben, so lange, bis alle – inklusive Publikum – wieder sehen können.
Einfache Metapher
Saramagos Geschichte basiert auf einer einfachen Metapher: Da die Blinden nicht "sehen", was Recht und Unrecht ist, fallen sie auf das Niveau von Tieren zurück. Bei Voges tasten die Blinden sich, verschmutzt, geisterhaft, durch das immer schäbiger werdene Haus, kacken und kotzen auf den Boden, pissen in die Ecken, vergewaltigen, stehlen, betrügen – und die Sehende ist dazu verdammt, sich das anzuschauen und eine lange Zeit lang ihren Zustand zu verbergen, aus Angst, erschossen zu werden oder von ihrem Mann gerennt zu werden. Verdammt dazu, kaum helfen zu können aus Angst, entdeckt zu werden.
Verschachteltes Labyrinth
An Kay Voges "Stadt der Blinden" ist vieles beeindruckend. Der Schnitt und die sanfte, aber effektive Lenkung des Zuschauerblicks durch die Bilder der Kameras. Die Arbeit mit den Projektionen, auf dem Bühnenbild die – bei der "Stadt der Blinden" durchaus angemessen – hell, dunkel, gedoppelt, manchmal in Fehlfarben über die Leinwände oder gleich das ganze Bühnenbild flackern. Das Bühnenbild, das als sichtbehindertes, verschachteltes Labyrinth vertrackte Blickwinkel und Bilder erlaubt. Die klaustrophobische Engführung zur Verwahrlosung.
Die kompromisslose Drastik, die absolute Abgefucktheit der Bilder. Das Ensemble, das – mit Ausnahme der Sehenden – gute zwei Stunden lang nicht nur blind spielt, sondern ständig in Bewegung und Aktion ist und sich dabei dem Dreck, dem Kunstblut, den drastischen Szenen Oralsex – aussetzt und dabei gerne mal nackt oder halbnackt ist. Sandra Gerling als die Sehende, die eine faszinierende Transformation von besorgter Ehefrau zu verzweifeltem Racheengel bis zur Führerin der Gruppe hinlegt. Der Nachbildeffekt am Ende, auch, wenn der zeitlich um die Hälfte hätte gekürzt werden können.
Formal kompromisslos
Mit Voges ist jemand jemand am Werk, der schauen möchte, was auf einer Theaterbühne geht und was nicht, der vermutlich auch provozieren will. Einige – allerdings nicht viele – Zuschauer verlassen auch den Saal. Denn Saramagos Roman ist auf seine Art nicht weniger drastisch, wenn, dann mehr, weil er den Abstieg langsamer erzählt und mindestens ebenso gnadenlos. Er ist auch formal nicht weniger kompromisslos – größtenteils ist der Romane eine Textfläche, die kaum durch Absätze und gar nicht durch Anführungszeichen bei wörtlicher Rede stukturiert wird.
Voges Umsetzung davon sind einerseits die Nachbilder am Ende, andererseits aber die ständigen Aktionen, die überall im Haus passieren – eine installative Handlungs- oder Aktionsfläche, wenn man so will. So gelingt Voges mit seiner postapokalyptischen Hausparty der Körperflüssigkeiten eine kluge Übertragung – mit einem Ensemble, das viel erdulden muss, aber eine beindruckende Leistung dabei hinbekommt.
Stadt der Blinden
von José Saramago
Regie: Kay Voges, Kostüme: Mona Ulrich, Bühne: Pia Maria Mackert, Bühnenbildmitarbeit: Mara Henni Klimek, Director of Photography: Voxi Bärenklau, Videoart: Robi Voigt, Komposition: Paul Wallfisch, Live-Kamera: Philip Jestädt, Marcel Urlaub, Live-Videoschnitt: Martin Langhof, Live-Grading: Severin Renke, Video: Alexander Grasseck, Peter Stein, Antje Haubenreisser, Soundsampling: Dominik Wegmann, Ton: Shorty Gerriets, André Bouchekir, Christian Jahnke, Dramaturgie: Bastian Lomsché.
Mit: Ali Ahmad, Irene Benedict, Patrick Berg, Muriel Bielenberg, Antonia Dreeßen, Ralf Drexler, Carlotta Freyer, Sandra Gerling, Josefine Großkinsky, Rosemary Hardy, Jonas Hien, Christoph Jöde, Markus John, Matti Krause, Philipp Kronenberg, Greg Liakopoulos, Jannik Nowak, Maximilian Scheidt, Julia Schubert, Jakob Walser, Michael Weber.
Nur im Film: Andreas Beck, Linda Zervakis.
Premiere am 16. März 2019
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause
www.schauspielhaus.de
Voges inszeniere den Abend "mit einer wilden, bisweilen auch fragwürdigen Entschlossenheit, das Grauen wirklich bis in alle Winkel auszuleuchten", so Maike Schiller im Hamburger Abendblatt (18.3.2019). "Fäkalien, Blut und Kotze überall, auf den Körpern, auf den Böden. Die mit vorgestreckten Armen Umhertastenden erinnern an eine Horde Zombies." Theater als Live-Film, alles passiere parallel und im Moment. Voges spiele gekonnt mit der Überwältigung und Überforderung der Sehenden. Das Ensemble gehe an Grenzen, beeindrucke nicht nur emotional, sondern auch logistisch. "Der Abend ist konzentriert, handwerklich enorm präzise und formal nahezu perfekt gebaut." Allerdings scheine sich die Inszenierung an der Drastik der Vergewaltigungsszene zu weiden.
"Voges hat sich entschieden, für die Höllenfahrt großes Kino zu zeigen als Vergrößerung und Vergröberung dessen, was die Schauspieler auf der Bühne verhandeln", schreibt in der Welt (18.3.2019). Saramago sei in seinem Roman ja auch nicht zimperlich.
Kay Voges gelinge etwas Erstaunliches: "Er schafft es, in der Erzählung dieser apokalyptischen Parabel Schönheit und Grauen zugleich zu erfassen", schreibt Katrin Ullmann in der taz (19.3.2019). "Mitten im um sich greifenden Elend, mitten im Schmutz und Hass, der sich in der Gefangenschaft jener Blinden grausam schnell ausbreitet, hält Voges die Kamera zwar auf die dreckige, menschliche Realität, schafft aber zugleich auch alptraumhaft schöne Tableaux vivants." Zumindest im ersten Teil des Abends funktionierten die Romanerzählung und der Live-Film. Später verhake sich Voges leider in überflüssigen Ausführlichkeiten.
Gespielt werde mit immenser Einfühlung, mit viel Schweiß, Emotion und Tränen. "Denn dem enormen technischen Aufwand und dem expressiven Soundteppich von Paul Wallfisch zum Trotz feiert ein ausgeprägt drastischer Naturalismus fröhliche Urständ", schreibt Irene Bazinger in der FAZ (20.3.2019). "Der multimediale Bilderrausch ist von Kay Voges kalkuliert ekelhaft inszeniert, aber konsequent gedacht." Voges zeige eindrucksvoll spannendes, spektakulär ausgebautes Überwältigungstheater.
Was Voges den Zuschauern an Gewalt zumute, sei getragen vom Zorn eines Propheten, "der den Menschen ein schlimmes Schicksal zeigt, um sie vom rechten Glauben an die Menschlichkeit zu überzeugen", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (20.3.2019). "Man mag Voges' Schock-Pädagogik und die wenig komplexe Moral seiner Botschaft, dass Menschen auch unter schlimmsten Umständen ihre Würde wahren sollten, als Holzhammermethode ablehnen." Aber seine Überwältigungsregie sei überzeugend konsequent und schlüssig in ihren anstrengenden Mitteln. "Sie macht die Grausamkeit realer Politik, an die man sich als abstrakte mediale Normalität aus Syrien, dem Kongo oder China zu gewöhnen droht, in einem Maße nachvollziehbar, wie es selten zu erleben ist im Theater."
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Nun ja, "das kann man mögen oder ablehnen" klingt zunächst nach einer bloßen Geschmacksfrage, zum Beispiel, wie man es mit der Explizitheit der Bilder , ua. bei den Gewaltdarstellungen, hält (einige Kritiken, so vor allem Maike Schiller, von der sich im übrigen (Hamburger Abendblatt vom 13.3.2019) noch ein Vorpremiereninterview mit dem Regisseur finden läßt, thematisieren dies -auch im Zusammenhang mit dem einen oder anderen Fall des vorzeitigen Verlassens der Vorstellung seitens des Publikums-), die Behauptung des zweiten Teils
ihrer Schlußaussage zur Inszenierung , "Kalt läßt diese Inszenierung niemanden", durch Susanne Oehmsen geht da um einige Grade drüber hinaus und bildet mit dem oben vorangestellten, ebenfalls behauptenden !, Einleitungssatz letztlich den Rahmen einer positiven, sogar eigentlich im Ergebnis sehr positiven Kritik, denn hören wir es wirklich so oft aus einer Kritik heraus, daß viel Gesprächsbedarf bestehe, sich auftue ?? Lese ich den Einleitungssatz zum Pressespiegel, den Nachtkritik hier zusammengestellt hat, so kommt mir dieser eigentlich auch so vor, als gingen die einzelnen KritikerInnenstimmen an dieser Stelle (produktiv oder nicht) recht weit auseinander; in der Konsequenz lese ich aber darunter keinen Verriß und vielmehr ziemlich ähnliche, letztlich durchweg positiv konnotierte Quintessenzen, und beziehe ich mich nochmals auf obigen Einleitungssatz Susanne Oehmsens muß ich darüberhinaus feststellen,
daß es scheinbar dann doch nicht so war, daß diese Premiere ganz oben auf den Zetteln der TheaterkennerInnen gestanden ist bzw. solche nicht die Redaktionsarbeit beispielsweise der Kieler Nachrichten oder Lübecker Nachrichten bestimmen durften, denn, was einen SH-Pressespiegel angeht, finde ich lediglich die hier umrissene Oehmsen-Kritik und einen NDR-Vorbericht (Landesprogramm) vom 15.3.2019, bislang jedenfalls, und auch überregional fehlen da noch einige Stimmen (Deutschlandfunk, Deutschlandradio Kultur, Frankfurter Rundschau etcpp.). Zu meinen eigenen Erfahrungen mit diesem Abend dann später; soviel aber kann ich sehr wohl an dieser Stelle schon anmerken, daß man sehr wohl Gelegenheiten hat an diesem Abend, wie ich finde, und nicht minder, wenn dieser sich in einem so zu setzen beginnt, anhand dieses Abends, allerlei (teilweise sehr unterschiedlich gelagerte) Erfahrungen zu machen, die im Ansatz jenes Diktum vom "Gesprächsbedarf" verständlich werden läßt, wenn auch wohl als "Gesprächsmöglichkeit", denn, so wenig Spielraum diese Inszenierung dem Publikum geben mag im Zuge der schnurrenden Maschinerie des laufenden Abends, so viel Spielraum dürfte es für phänomenologisch grundierten Erlebnis- bzw. Erfahrungsaustausch danach geben, ob ich den Abend (selbst) nun sonderlich mochte oder nicht (mich ließ er zunehmend erkalten und garnicht sonderlich anders empfinden als bei "Die Übriggebliebenen").
Was fällt mir zum Anfang ein ?
Naja, ich erinnerte mich zunächst noch lebendig an eine Kritikerinnenstimme zur Inszenierung von Tracy Letts ("Eine Familie",
23.2.19, Thalia-HH) bezüglich des Vorhanges, und ich fand einen solchen (mit dem Schriftzug "Stadt der Blinden") auch hier, allerdings vor diesem Vorhang noch einen hohen Drahtzaun, wie er wohl geschlossene Anstalten, Kasernen, Gefängnisse, kurzum: für die Öffentlichkeit nicht bestimmte Areale umgibt. Sollte im späteren Verlauf wegen des Lärms, der "Hystrerie", der Aufmerksamkeitslenkung
durch die Kamera und sehr bald auch durch die in der Tat zuballernde
Ladung an Schauwerten zu auch ansonsten durchwirkender Beschallung, die Beobachtung den Saal verlassender Personen, es waren auch im 2. Oberrang einige, nicht sehr viele, trat noch hinzu, die Reflektion des Geschehens oder gar V-Effekt-(zeit-)adäquate "Interpretation" des Erlebten gen Unmöglichkeit gehen, so bestand zum Anfang noch alle Muße, sich mit diesem "Zaunsymbol" auseinanderzusetzen, wenngleich freilich ohne irgendeine Anschauung dessen, was einen so erwarten würde. Insofern wundere ich mich, wie das gelegentlich so geht, zunächst ein erstes Mal darüber, von dieser ersten Verunsicherung in den Kritiken nichts zu lesen. Eine 4. Wand, die das Publikum vom Geschehen auf der Bühne trennt, nun ja, das kennt man wohl, aber ein Zaun, hinter dem erst gespielt wird, gar von Schauspielern, die quasi durch uns in Haft genommen scheinen, scheint etwas Anderes zu sein. Leistet sich unsere Gesellschaft Schauspielende in einer gewissen Analogie zur Quarantäne ? oder symbolisiert dieser Zaun irgendwie auch den Charakter der Unternehmung, als "Auftragswerk" "Die Stadt der Blinden" in Bühnenrealität zu übersetzen, der offenbart möglicherweise, daß auch jenem Dogma 2013 hier Grenzen , Zäune, mindestens offene Ausforschungsnotwendigkeiten, mithin "Probleme" genannt, wie Steine im Weg liegen mögen. Zwar wird dieses Dogma in verschiedenen Kritiken (dankenswerterweise !) genannt, aber dabei irgendwie auch unterschlagen, in wie vielen Punkten diese Inszenierung eklatant gegen diese "Regeln" verstößt: von wegen, zB. Paragraph 4, daß ein Kameramann der größte Feind dieses neuen Kino-Theaters wäre (und eine Zufallskamera geboten, fast so, als müßte man als eigentlichen DOGMA-Film "Lisbon Story" von Wenders betrachten, ein Film, der bislang kaum als Wendersches Meisterwerk gelten durfte), oder nur Livemusik begleiten dürfe, und auch einen vorher abgedrehten Film, die Nachrichtensendung zum Anfang, können wir finden, der ebenfalls das besagte "Keuschheitsgelübde" verletzt !
Nun ja, diese Regeln so 1:1 ernst zu nehmen, fällt wohl ohnehin den wenigsten ein, und die besagten "Steine" im Weg fordern wohl den einen oder anderen Kompromiß. Aber, zweifach nach Goethe, auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man etwas schönes bauen (zitiert nach der Cafeteria im Cafe-Turm der "Psychatrie" in Gehlsdorf -Rostock-, wo dieser Spruch an der Wand prangt), wenn man nur auf der Bühne nicht spart an großem und kleinen Himmelslicht, Donnerschlag und Gewittereffekten. Das Ragout heißt dann etwa "Im Ergebnis zeigen wir das, was der Roman auch zeigt, und vergleichbar schonungslos !" Und dieses Ragout wird kritikerseits allgemein goutiert, als konsequent übersetzt, wobei die Frage danach, wie man so zu besagten Ergebnissen gelangt ist, seltsam unterbelichtet bleibt. Und was fällt mir zur "Mitte" des Stückes ein ? Eine Frage vor allem: "Wo habe ich bloß die ganze Zeit hingesehen, auf welchem Wege ist das hier plötzlich alles so schmutzig und unrein geworden ??"
jene Personen, die gingen, schienen weniger beleidigt, erbost, gekränkt als es sonst der Fall ist, so nahm ich das wahr jedenfalls, und auch das Unmutsstöhnen bei den "Gewaltszenen" war kaum zu vernehmen, nichts "Borniertes" in dieser Hinsicht (die, die gingen, hatten schlicht genug gesehen; was mir mitunter ja sehr verständlich war, so daß ich mich kurz auf ihren Abgang besinnen konnte).
Und das Ende ? Was ist meine Frage, mein Statement zum Ende ?? Eigentlich dies: Es wäre überwältigend (schön) gewesen und für meine Begriffe irgendwie genau meiner Stimmung entsprechend, hätte das Publikum dann die Ruhe im Saal ausgreifen lassen, um dann still, gesetzt, auf sich verwiesen den Saal wie nach dem Abspann eines Kinofilmes beifallslos zu verlassen; leider machten sich viele, der Konvention folgend, klatschend "frei", aber der Zaun war ja auch zuvor eingerissen worden..
Es ist richtig, der zivile Umgang leidet angesichts der sinnlichen Einschränkungen und der von außen kommenden Reglementierung, das ist logisch und in mancher realen sozialen Konstellation erwartbar und zu beobachten. Auch die Spaltung in Machtgruppen, die oben und die unten, ist zwar ein vereinfachtes Gut-Böse-Schema, aber nicht nur hier eine immer wieder verwendete Konstellation.
Anstatt vordergründig auf fragwürdig einseitige Sprache zu setzen und so manchen von dem Besuch dieses herausragenden Stückes abzuschrecken wäre es meiner Meinung nach angemessener, herauszustellen, wie sich in der unteren Gruppe in entscheidenden Situationen ein humaner Widerstand Bahn bricht: Eine der Frauen stirb in Folge der Vergewaltigung und wird in einer zärtlichen Handlung von den anderen Frauen gewaschen oder: als das Essen von oben von einem Freiwilligen geholt wurde, ist der erste Impuls einiger Männer, zu nehmen was sie kriegen können, durch eine einzige Ansage, die „Frauen essen zuerst“ eingedämmt. Der Hoffnungsschimmer entfaltet sich also nicht erst in der Schlussszene.
Für mich ist Die Stadt der Blinden die eindeutig in Form und Inhalt stimmigste und in seinem politischen und humanitären Gehalt wichtigste Inszenierung am Schauspielhaus in dieser Spielzeit, der ich eine umfassende Wirkung (nach einer guten pädagogischen Vorbereitung auch bei älteren Schülern) wünsche.
Den etwas müden Aplaus in meiner Vorstellung führe ich auf den noch unverarbeiteten Eindruck beim Publikum nach diesen zweieinhalb intensiven Stunden zurück. Ich schicke dem auf diesem Wege ein lautes Bravo hinterher.
Das liest sich wie ein Plädoyer für die Abschaffung des (Schauspiel-)Theaters?
Peter Ibrik
Begriffe -hier teile ich wohl die Richtung des Briegleb-Einwandes-
unterkomplexen Moral-Lesart irgendwie auch Vorschub geleistet
durch die Art und Weise, wie die auf Bildproduktion fixierte Regie
teilweise empfindlich das Spielerische , das Schauspiel(er)theater einkassiert bzw. verunmöglicht und schauspielerische Energien auf vorausgedachte Bildmomente verdünnt, so daß auch von der zwangsläufigen Entwicklung der Romanvorlage im Sinne einer irgendwie stringenten Entwicklung , geschweige denn von "Spannungsbögen", kaum etwas übrig bleibt; der Regisseur nimmt sich von Bildeinfall zu Bildeinfall das von seinen Akteuren, was er braucht, und gibt dem Haus immer mehr etwas von einem Puppenhaus (wer das Dogma 2013 liest, findet diesen Regiestil und diese Form der Kameraführung gerade als den worst case dargestellt im Grunde; auch verträgt sich das Diktum
des neunten Dogmaparagraphen explizit nicht mit der entschiedenen Mikrokosmik des Romanes - zumindestens Kritiken, die an dieser Stelle das Dogma bemühen, sollten darauf eingehen, auch wenn, wie gesagt, die Paragraphen sich eher wie ein Scherz ausnehmen). Was der "Morallesart" leider auch zuarbeitet, ist tatsächlich jene sehr zeitgeistige Präsentation des Bösen als etwas, was hier offensichtlich den Männern vorbehalten ist; zudem ist der V-Effekt hier eher Verwässerungsefffekt: der Naturalismus , den Irene Bazinger beinahe moniert, beißt sich immer wieder empfindlich mit willkürlichen Setzungen, worüber die eine oder andere Figur plötzlich nachzusinnen in der Lage ist , von einer Sekunde vom Panik- in den Selbstanalysemodus wechselnd und zurück, ohne irgendeine Phase durch "Grautöne" zu gewähren; geradezu Gebrauchsnaturalismus und Antipsychologie wechseln, auch das Individuelle letztlich garnicht aufkommen lassend für das Gefühl.
Und, "Wolf", die Frage ist doch letztlich schon, worin am Ende jene "Hoffnung" bestehen soll; eine Blinde bleibt unter wieder Sehenden,
und diese mag auch nur so einer Art "Marienerscheinungsdynamik" gefolgt sein, überall Leichenberge und Verwesungsgestank, Theodizee und Anthropodizee negativ bis recht negativ beantwortet ?.. post scriptum: Ich lese letztlich aus keiner Kritik das heraus, lieber "Wolf", was Sie letztlich abgeschreckt haben hätte können aus den Kritiken, sondern sehe ziemlich durchweg positive Quintessenzen der Kritikerbewertungen des Abends (verstand deswegen ja auch das geteilte Echo in der Pressespiegeleinleitung bei der Verlinkung durch nk nicht), auch bei Maike Schiller und Till Briegleb.?
Was soll denn dann das Ganze (Theater)? Das gegen Ende tatsächlich sich zu lang hinzog und, als endlich Schluss war, sich eine gewisse Heiterkeit bei den jungen Leuten, hier im ersten Rang zumindest, einstellte. Warum auch immer. Eine Art von Gegenreaktion, gespeist vom Unglauben an das, was sie gesehen hatten? Oder einfach nur die Befriedigung, mal wieder mit dabei gewesen zu sein, bei etwas, das, zumindest in den diversen Kritiken, als spektakulär und überwältigend bezeichnet wird.
Hinaus in die kühle Hamburger Nacht!
gewissermaßen einzudämmen, indem man dem (sehenden, wie alle anderen bis auf jene "Heldin" sehenden) Publikum die Identifikation mit der
Augenarztgattin (welche, frei nach Kafkas "Die Forschungen eines Hundes", dem Volkskreis entzogen ist, oder , wie es im Mahler-Lied der Inszenierung heißt, der Welt abhanden gekommen) verwährt. Das Publikum soll an dieser Stelle, denke ich, mit der dystopisch-kritischen Masse jetzt und hier ineins fallen, die Frage, ob wir nicht "solche Sehenden", quasi die eigentlich Blinden, schon hier und heute und aktuell sind, ob nicht auch der "Sonderfallcharakter einer Dystopie" uns davon ablenken, uns blenden könnte bezüglich dessen, war wir an der kühlen Hamburger Luft und im Alltag so treiben mögen. Bei der Premiere hat das Ende für eine lange Sekunde eine Stille im Köcher gehabt, welche ich zB. letztlich auch dafür ursächlich sehe, warum Herr Briegleb letztlich zu seiner Positivbesprechung des Abends kommt, eine Stille, die ich gerne länger (gesehen ?, gehört ??) hätte, zumal: wann wird im Kino schon geklatscht ??
Wir alle sind Seher in einer Welt voller Blinder, so kommt es uns zumindest vor. Aber was machen wir aus den Erkenntnissen im Alltagskampf. Werden wir politisch aktiv, helfen wir unseren Nächsten? Zeigen wir Verantwortung?
Im Stück wird dies nur in Dialogen oder als die große Metapher, auf die man gefälligst selber stößt, behandelt. Die ureigene Qualität des Theaters, gespielte Figuren unmittelbar zu machen, für die Effekthaschei und für die Flucht ins binldgewaltige verspielt.
Der Konflikt geht leidig unter. Stattdessen will uns das Theaterstück zeigen, dass es gegen Filme konkurrieren kann. Kann es aber nicht. Es muss wieder der Mensch in den Fokus, weg mit der Dekoration.I
Komplette Rezension: stagescreen.wordpress.com/2019/06/03/eingebrannte-bilder/
Eine für Kay Voges ungewöhnlich stringente Arbeit, deren konzentrierter Plot einer klaren Eskalationslogik folgt und mich mehr überzeugte als frühere Arbeiten, die philosophische und soziologische Fragmente sampelten und mit ihrer bewussten Reizüberflutung ihre Inhaltsleere schlecht kaschierten.
Komplette Kritik: daskulturblog.com/2019/06/15/die-stadt-der-blinden-kay-voges-schauspielhaus-hamburg-kritik/