Ich, Grete Beier, Mörderin - die letzte Todesstrafe Sachsens bei den 1. Schlossfestspielen Freiberg
Gretchenfrage einmal anders
von Andreas Herrmann
Freiberg, 22. August 2008.Das frisch sanierte Schloss Freudenstein, auf dem Weg zwischen Altstadt und Campus der Bergakademie gelegen, harrt der Eroberung. Vor kurzem noch Kellertreff der lokalen Punk-Szene, wird es ab Oktober als Museum und Lehranstalt Mineralienfans und Steinfetischisten aller Herren Länder anziehen, Montan-Studenten die Bedeutung des reichhaltigen Glitzerns lehren und auf die Hoch-Zeiten als größte Stadt Sachsens in Zeiten des Silberbergbaus verweisen.
Freibergs Stadtverwaltung, ihre Marketingabteilung und das Mittelsächsische Theater – unter Intendant Manuel Schöbel immer für Ausflüge gut – gebaren die Idee der Schlossfestspiele mit einem eigenwilligen Konzept: In jedem Jahr geht es genau ein ganzes Jahrhundert zurück. Eine Idee mit Charme, zum Start 2008 also die dreiwöchige "Zeitreise 1908", eine kulturelle Mixtur mit Theater, Literatur Konzert und zwei Filmnächten, und am Freitagabend eröffnet mit der Uraufführung von "Ich, Grete Beier, Mörderin. Die Geschichte eines Kriminalfalls" aus der Feder von Katrin Lange.
Das letzte Fallbeil Sachsens
Der grell-angepinselte Schlosshof ist alles andere als eine Idylle, sondern ein großes, karges, kaltes Steingeviert mit viel Hall – insofern passend zum gewählten Stoff: Der letzten, formal justizierten und öffentlichen Exekution in Sachsen. Grete Beier, 22-jähriges schnell- und leichtlebiges Töchterlein des Bürgermeisters aus dem Nachbarort Brand wurde – nachdem sie ihren ungeliebten Verlobten fast perfekt selbstmordvortäuschend und testamentfälschend alleinerbend gemeuchelt hatte – am 23. Juli 1908 per Fallbeil vor 160 auserwählten männlichen Gaffern geköpft.
Ein exzellentes Drama in lebensechter Kriminalgüte also, auf dem Katrin Langes Stück basiert. Lange nimmt sich einige überlieferte Charaktere in Originalform, erfindet passende fiktive dazu und fixiert die Geschichte im Milieu. Jenes ist das eines kriminellen Bürgermeister (Andreas Pannach), seiner bigotten Frau (Conny Grotsch) und ihrer alle bezaubernden, lebenslustigen, aber unter den Konventionen leidenden Tochter Grete (Julia Klawonn).
Kaltes Blut aus heißer Liebe
Der gutbürgerlichen Hochzeit mit dem karrieregerechten Oberingenieur Preßler (Thomas Schumann) aus Chemnitz kommt der schicke Tunichtgut Erwin Merker (David Zimmering) in die Quere, der die Gretel bis zur sexuellen Hörigkeit liebt, schwängert und dann ihren Vater erpresst. Die Familie treibt illegal ab und Gretchen in die Verlobung mit dem dicken Ingenieur. Sie aber kann von Merker nicht lassen: Kurz vor der Hochzeit vergiftet sie ihren Bräutigam und schießt ihm in den Mund, vorher Abschiedsbrief und Testament fälschend.
Das alles ergibt bis zum Mord, direkt vor der Pause, richtig gute Unterhaltung. Danach, durch Regen und kurzen Stromausfall zusätzlich strapaziert, entgleitet Regisseur Steffen Pietsch die Inszenierung. Langatmig wird per Verhör und Prozess das allseits bekannte Ende vorbereitet, dem kühnen Schwung folgt eine lange, traurige Tristesse, zu der der immer stärker werdende Regen gut passt.
Regen und Stromausfall
So wünscht man der Inszenierung einen kompletten Neustart im zweiten Teil – nicht nur ohne Regen, ohne Stromausfall und damit ohne stets dazwischen moderierenden Intendanten – sondern mit der leichtfüßigen Attitüde des allseitig moralfernen Liebeslebens vor der Pause. Mehr Mut zur räumlichen Publikumsnähe, eine moderatere Tontechnik und eine stringentere Dramaturgie böten sich als Beiwerk an, um die Spannung zu halten.
Auch auf die reichhaltigen, nur bedingt witzigen Komparseriespielchen könnte man in Gänze verzichten, ohne dass dem Abend etwas fehlen würde. Denn alle sieben Hauptakteure haben starke, klare Szenen trotz reichlicher Rollenwechsel: Andreas Pannach als wollüstiger, aber liebender Vater; Conny Grotsch als tussenhafte Klischeegattin, David Zimmering als leichtlebig-gutliebender, aber hinterfotziger Erwin Merker; Thomas Schumann als derber Oberingenieur Preßler; Ines Kramer vor allem als Preßlers Zimmerwirtin Alma Wüst und Michael Berger als harter Staatsanwalt.
Blonde Schuld mit nymphomanischen Zügen
Über allen aber schwebt Julia Klawonn als entrückte Mörderin Grete, die ihre wahrhaftige Liebe über alles stellt – und so vom Opfer zur Täterin wird: Zarte, blonde, eigenwillige Schuld mit nymphomanischen Zügen – im Gegensatz zur Historie, wo die junge Beier, dunkel und burschikos, immer nur einen liebt – ihren scheinheiligen Erpresser Hans Merkel. Mit Distanz und Verständnis für die unbeholfen-warmherzige und dennoch so kaltblütige Grete gelingen Steffen Pietsch richtig berührende Momente auf der großen, plastischen Bühne mit drei Spielebenen (Ausstattung: Ulrike Schlafmann), deren Symbolik funktioniert und über der immer das letztlich nicht szenisch bemühte Schafott thront.
Die neu aufgeworfene Gretchenfrage – wie hältst Du es mit der Liebe in Zeiten des Betrugs – wird mit einem eindeutigen Bekenntnis beantwortet. Bei diesem geht – neben dem Brautpaar – auch der darmkrebskrank seiner Verantwortung entgehende Vater drauf, Mutter und Liebhaber wandern ins Gefängnis. Die Folgen des Urteils und seines Vollzugs – 1908 folgten Proteste und Diskussionen über Angemessenheit der Todesstrafe in allen deutschen Nationalstaaten – zu illustrieren, bleibt leider nur dem Programmheft vorbehalten.
Rosige Zukunft
Zu prophezeien, dass die Schlossfestspiele eine wohlige Zukunft in der Pubklikumsgunst erfahren werden, ist relativ einfach, weil der Bergstadt – eingebettet zwischen reich gestifteter Uni und gut subventionierter Solartechnik – die rosigste Zukunft in ganz Mittelsachsen bevorsteht. Da wird ein zusätzlicher Sommertupfer in Form eines vorgezogenen Theatersaisonstarts gern gesehen. So sind auch die nächsten Spiele schon theatral fixiert: 2009 widmet man sich per "Zeitreise 1809" dem bekanntesten Elitestudenten namens Novalis ("Menschsein ist eine Kunst"), ein Jahr später folgt "Der Silbermannprozess" anno 1710. Ob allerdings der Spagat zwischen packendem Theater und lokalinspirierten Historienspiel gelingen kann, wird sich noch zeigen müssen.Ich, Grete Beier, Mörderin
Die Geschichte eines Kriminalfalls
von Katrin Lange
Regie: Steffen Pietsch, Bühne & Kostüme: Ulrike Schlafmann, Musik: Sascha Mock.
Mit: Julia Klawonn, Conny Grotsch, Andreas Pannach, David Zimmering, Thomas Schumann, Ines Kramer, Michael Berger.
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Zunächst ist schon die Überschrift falsch - bei dem "Fall Grete Beier" handelt es sich nicht um die "letzte Hinrichtung Sachsens", sondern um die letzte öffentlich vollstreckte Todesstrafe an einer Frau im Königreich Sachsen.
Zweitens scheint Herr Herrmann die Aufführung entweder nur mit halben Ohr verfolgt oder aber wegen Regens vorzeitig verlassen zu haben.
In dem Stück von Katrin Lange hat sich Grete Beier als Flucht aus der kleinbürgerlichen Tristesse eine Scheinwelt aufgebaut, in der sie den Kleinkriminellen Merker für eine Art silbernen Ritter hält. Als "nymphoman" erscheint sie zwar bei der Anklageerhebung durch die königlich-sächsische Staatsanwaltschaft - in der vorausgehenden Handlung findet sich jedoch keine Spur davon. Auch läßt die Autorin bewußt offen, ob Grete Beier den ihr zur Last gelegten Mord wirklich begangen hat - er wird auf der Bühne nicht gezeigt. Zunächst ging die Polizei von Selbstmord aus. Mehrere auftretende Figuren - z. B. die Quartierswirtin Wüst - hätten im Stück ebenso ein Motiv gehabt, sich seiner zu entledigen. Die Darstellerin der Grete Beier bestreitet kurz vor der Hinrichtung ihre Schuld, die (auf Grundlage noch vorhandener Prozeßakten beruhende) Beweisführung ist eine einzige Karikatur auf den rechtsstaatlichen Prozeß - heutzutage hätte es wahrscheinlich nicht einmal zu einer Anklageerhebung gereicht. Und in der Kritik kommt schon gar nicht vor, daß das Stück eine einzige Anklage gegen die Todesstrafe ist - das Lachen über den verblödeten Geenich, der sich nicht traute, die Begnadigung zu unterzeichnen, blieb den Zuschauern bei der nachfolgenden Hinrichtungsszene ganz schnell im Halse stecken.
Sorry, aber diese Theaterkritik ist ganz einfach schlecht.