Unter dem Pflaster ist kein Strand
von Andreas Wilink

Bochum, 23. August 2008. Der Zug ist abgefahren – für die Bewohner der "Vergessenen Straße", die in Louis Paul Boons (auf Deutsch nie erschienenem) Roman auch die "blinde" oder "tote" Straße heißt. Für eine Nord-Süd-Trasse, gebaut, um den Schienenverkehr rasant durch die Großstadt jagen zu können, wurde die Straße kurzerhand stillgelegt. Eine Betonmauer riegelt sie ab zum Ghetto. Die Menschen – kleine Händler und Handwerker, Bettler und Lebenskünstler, Erwachsene und Kinder – sind aufs Abstellgleis gestellt. Sie können nicht mehr ihren Geschäften nachgehen, Café, Pommesbude, Friseurladen haben keine Kundschaft mehr. Weder lässt sich Geld verdienen, noch gibt es etwas zum Einkaufen. 

Glücks-Labor Straße
Was Sadeleer, der Straßenhändler und Imbiss-Besitzer sagt, lässt sich bequem aus der Entstehungszeit des Buchs im Jahr 1946 in die Hartz IV-Gegenwart transportieren: "Haben wir unser Leben lang in Sozialversicherungen und Rentenkassen eingezahlt, an die Steuer und an Versicherungen und all die anderen Betrüger, damit wir jetzt ausgehungert werden? Was schrieben die in der Zeitung? Tausende Arbeitslose, die noch in Maßlosigkeit und unangebrachtem Groll leben, sollen jetzt in Brot und Lohn gebracht werden."

Louis Paul Boons, der "flämische Balzac", der "empfindsame Anarchist", wie er sich selbst bezeichnete, lebte von 1912 bis 1979 in Aalst, gelegen zwischen Brüssel und Gent. Wie in seinem bekanntesten Werk "Die Vorstadt wächst" richtet Boon, Vertreter der Arbeiterliteratur und insofern im Herzen des Ruhrgebiets am rechten Ort, auch in "Vergessene Straße" den Blick auf eine isolierte Gruppe Menschen auf der Suche nach dem Glück, das sie nicht finden. Stattdessen müssen sie, desillusioniert, Sinn- und Zwecklosigkeit des Lebens begreifen.

Integrierte Architektur der Jahrhunderthalle
Johan Simons gliedert mit seinem Ensemble des NT Gent den Roman in 29 knappe, kommentierende und erzählende Szenen; er folgt damit Boons filmischer Erzählmethode – allerdings weniger mittels Montage. Vielmehr scheint es, als spule sich eine einzige ungeschnittene Langzeit-Einstellung ab. Die Premiere in der Bochumer Jahrhunderthalle, die die Saison der RuhrTriennale eröffnete, ist Simons' vierte Neuproduktion für das NRW-Festival, nachdem Jürgen Flimm bei seinem Beginn 2005 den Niederländer vom Vorgänger und Gründungs-Intendanten Gerard Mortier als feste Größe übernommen hatte.

Und wieder schafft es Simons, die Raumsituation und Dimension der Halle aufzunehmen und konzeptuell zu verankern. Die seitlichen Begrenzungen des langen schmalen Bühnen-Gehäuses mit den verschiebbaren Wandsegmenten nehmen die Giebelarchitektur des Industriegebäudes auf. Auf der Gangway der Spielfläche – flankiert von zwei Zuschauertribünen – läuft eine Choreografie der Vereinzelung und der permanent wechselnden Standortbestimmungen ab. Boon entwirft eine seltsam widerborstige Utopie oder Anti-Utopie. Anders als eine gutgläubige sozialistische Lehre es will, führt sein Experiment am Gesellschaftskörper Mensch ins Unbestimmte.

Zwangsgemeinschaft mit konträren Positionen
In der "Vergessenen Straße" wohnt zum Beispiel der Idealist Koelie, der lernen will, "faul zu sein", und der "eine ewige Unordnung, die eine Ordnung von höherer Art ist", propagiert. Sein Antipode ist der Materialist und Egoist Saedeler oder auch der Sünder Fiesling. Dieser Mikrokosmos versammelt notgedrungen konträre Positionen: Rebellion ("Tod den Aushungerern"), Akzeptanz des Abseits, der Ausbruch von Eigennutz und das Prinzip Wohlfahrt samt Gründung einer genossenschaftlichen community, die beginnt, den Straßenbelag aufzureißen und in die Erde Gemüse zu säen und Blumen zu pflanzen. Aber unter dem Pflaster ist kein Strand.

Die zentrale Gestalt Roza, Koelis Tochter und Braut des Friseurs André, gibt in einem Prolog und Epilog sowie in ihren Monologen der Wirklichkeit und der Möglichkeit der Straße Ausdruck, indem sie versucht, "das Unkraut der Gedanken" zu jäten. Man könnte sie das Street Girl named Desire nennen. Unbehaust zwischen dem begrenzten Raum und entgrenzter Lust, der Sicherheit des Drinnen und der Sehnsucht nach der Welt draußen hinter der Mauer hat sie in ihr Taschentuch "Je suis seul" gestickt. Die offene Form von Simons' Inszenierung ist eher ein Angebot, als eine Vorgabe – und zu gleichen Teilen ihre Stärke wie Schwäche.

Offene Form, Brechungen, Überblendungen
Bei aller Unschärfe durchzieht eine kleine, manchmal große groteske Traurigkeit die Geschichte. Begleitet und belebt von Intermezzi mit Gesang und Blasmusik, darunter die von einer Trompete mit einigem Pathos der Distanz improvisierte "Internationale". Auf das Spröde und Sperrige des Textes, auf das Poröse, Unklare bis Unwirkliche der Figuren in ihrer Existenz und Erscheinung reagiert Simons – im Sinn der Vorlage - mit Doppelungen, Brechungen, Überblendungen.

Es spielen Menschen neben Pappkameraden sowie neben Zwitterwesen aus Fleisch und Blut, aber mit skulpturalen Schwellköpfen und ratlos starrenden Puppen-Mienen. Sie transzendieren die Anteile von Realität endgültig ins Symbolische und Parabelhafte. Das Glücks-Labor der "Straße" fordert heraus zu Fragen nach Menschwerdung, Veränderbarkeit und Notwendigkeit zur Anpassung oder Selbstbehauptung, wobei Boon die jeder Revolte innewohnenden Deformationen genau registriert. Das soziale Projekt wird am Ende abgebrochen, die Trennmauer von einem Tunnel durchbohrt. "Vorwärts" lautet das letzte Wort. Die meisten der Puppen und Menschen aber liegen da am Boden.

Vergessene Straße
Produktion der RuhrTriennale und des NT Gent nach Louis Paul Boons Roman, bearbeitet von Paul Slanger und Koen Haagdorens
Regie und Bühne: Johan Simons, Komposition: Wim Opbrouck und Ron Reuman, Kostüme: Greta Goiris, Licht: Mark Vandenesse.
Mit: Kristof van Boven, Elsie de Brauw, Aus Greidanus Jr., Servé Hermans, Oscar van Rompaey, Steven van Watermeulen sowie ein Musikensemble.

www.ruhrtriennale.de

 

Alles über Johan Simons auf nachtkritik.de im Lexikon.

 

Kritikenrundschau

 Als "traumtänzerischer Romanadaption" bezeichnet Vasco Boenisch in der Süddeutschen Zeitung (25.8.2008) Johan Simons' Inszenierung von "Vergessene Straße", mit der die diesjährige Ruhrtriennale "grandios eröffnet" worden sei. Boenisch hat einen "wunderbar warmherzigen Abend" gesehen, an dem sich Simons’ "bravouröse Genter Schauspieler" die grotesken Gestalten erfühlt hätten, "sie mit Leben, mit großer Geste und trippelndem Schritt" erfüllten. "Aus Masken werden Menschen …. Es ist eine drollige Truppe, die einen - trotz Masken - mitunter fast zu Tränen rührt." Und wie Elsie de Brauw als Roza "fiebrige Zerbrechlichkeit mit trotziger Stärke vereint und noch dazu virtuos in eine zweite (Masken-)Rolle wechselt, ist einfach großartig. Und sehr berührend". Simons, Arbeitersohn wie der Autor der "Vergessenen Straße" Louis Paul Boon, inszeniere diesen Abend des Scheiterns "nicht besserwisserisch, ohne Schuldzuweisung. Die Dinge sind, wie sie sind. Und die Menschen auch." Es handele sich bei dieser "Geschichte aus holländischer Vorzeit mit ihrer dörflichen Naivität, der simplen Sprache, den kuriosen Episoden" um ein "großes Märchen für Erwachsene". Wofür man "den Blick aus Kinderaugen" brauche.

Eigentlich alle Kritiken rühmen Johan Simons' Umgang mit dem weiten Raum der Bochumer Jahrhunderthalle. In der FAZ (25.8.2008) beschreibt Andreas Rossmann das Bühnenbild: "Die vergessene Straße verläuft mitten durch die Bochumer Jahrhunderthalle. Luc Goedertier und Freddy Schoonackers haben zwei Straßenfronten errichtet, die acht Häuser, bestehend aus je einer Tür- und einer Fensteröffnung, aneinanderreihen. Zwischen ihnen bleibt eine Art Passage als Straßen-Raum frei, in dem die Schauspieler auf- und aus dem sie heraustreten. … Zu beiden Seiten erheben sich Tribünen, auf denen Zuschauer sitzen, die durch die Türen und Fenster, deren Wände später aufgeschoben werden, immer nur teilweise Einsichten haben. Keiner hat hier den vollen Durchblick." Weil die fünf männlichen Figuren "große Schwellköpfe mit miesepetrigen Zügen" tragen und ihre Stimmen von "Mikroports eingeebnet werden", seien Stimme und Körper nicht immer leicht zuzuordnen, das erschwere wie die Praxis der Mehrfachbesetzung immer wieder das Verständnis. Eine "verwehte Grundstimmung von schöner Traurigkeit" liege über der Aufführung. Zwar werde der Roman "in neunundzwanzig Szenen aufgelöst", doch könne die Inszenierung "die epische Struktur nicht abschütteln". Der "grotesken Parabel" mangele es an Entwicklungspotential. Sie bleibe in Stichworten und bedeutungsschweren Aphorismen stecken. "Mehr formal als gedanklich interessant, führt 'Vergessene Straße' szenisch in die Sackgasse."

In der Kölnischen Rundschau (25.8.2008) schreibt Günther Hennecke : Das politische Stück von Louis Paul Boon wirke zur Eröffnung des Festival wie eine "programmatische Absichtserklärung von Intendant Jürgen Flimm". Roza, Hermine und die fünf Männer versuchten sich in ihrer von der Außenwelt getrennten Umgebung zurecht zu finden. "Wie als Erinnerung an verlorene Zeiten haben einige Vater oder Mutter neben sich, in Gestalt der Puppen." Lange klammerten sich die "wenig glorreichen Sieben an das alte Leben", doch die Realität und Koelies Traum von einem Leben ohne Zwang ließe sie allmählich zusammenrücken. "Bald aber ahnen sie, dass sie ohne die Außenwelt nicht leben können: dass sie Austausch brauchen wie die Luft zum Atmen." Simons’ Inszenierung traue der Utopie nicht. So gerate "Vergessene Straße" zu einer "sehr melancholisch gefärbten Metapher. Zweifel an allen Heilslehren gerinnen zu spröden Bildern. Dass die Figuren dabei selten ihre Ganzkopf-Masken verlieren, wirkt wie ein weiterer Hinweis auf die Zwänge, denen sie sich nie ganz zu entziehen vermögen." - "Das Deutsch der ansonsten holländisch sprechenden Truppe des NTGent ist übrigens bewundernswert."

Das sieht Matthias Heine in der Welt (25.8.2008) völlig anders: Mit der Dramatisierung des Romans "Vergessene Straße" wollte Johan Simons prüfen, "ob die Utopien von 1946 einem Publikum heute noch etwas sagen." - "Ob für die Ausgrabung der anarchistischen Utopie ... die Bochumer Jahrhunderthalle, wo der Kapitalismus eher schmerzlich vermisst wird, der richtige Ort sei", möchte Heine dahin gestellt sein lassen. "Die Inszenierung hatte ganz andere Probleme": die Schwierigkeiten der holländischen Schauspieler mit der deutschen Sprache, die durch die großen "Gipsköpfe" noch verstärkt wurden. "Der andächtige Sound ebenso wie die Masken verstärkten den Eindruck, man wohne einer didaktischen Theaterveranstaltung aus den Sechzigerjahren bei." Wie Brecht ginge es bei Boon darum, dass die Menschen den großen gesellschaftlichen Entwürfen nicht gewachsen sind. Das "Predigergewäsch" sei allerdings "nicht originaler Boon-Ton, sondern nur das, was der Bühnen-Bearbeiter Koen Haagdorens aus einem sprachlich weitaus vielschichtigeren Kunstwerk herausdestilliert hat." Ein "ungeheuer zäher Ruhrtriennalen-Auftakt".

Stefan Keim
schreibt in der Frankfurter Rundschau (26.8.2008): "Zu Beginn blitzt Johan Simons' Meisterschaft auf, Industrieräume zum Leben zu erwecken. Doch dann begnügt er sich mit bravem Inszenierungshandwerk." Der "Reiz des Textes" liege darin, dass "die Idee der Anarchie an menschlichen Sehnsüchten, Ängsten und Egoismen scheitert". Doch statt Psychologie typisiere Simons, die benutzten Masken bauten Distanz auf, die Sätze der "ausgezeichnet deutsch sprechenden" Schauspieler bekämen durch "den leichten holländischen Akzent" einen "artifiziellen Unterton", die Sprache werde "zur Deklamation". Gäbe es wenigstens "starke Bilder" – doch wie schon zuletzt in seiner Inszenierung von "Hiob" in München verlasse sich Simons auf einen "szenischen Grundeinfall" und buchstabiere dann Handlung nach. Das werde zu einer zähen Sache. Die "Beschäftigung mit der Anarchie" habe bei Simons "künstlerischen Stillstand ausgelöst".

Kommentare  
Johan Simons' Vergessene Straße: reden, säen, pflanzen
Ein rührendes Dorf mitten in der Stadt, abseits und abgekesselt, wo Menschen ganz ärmlich abseits leben, gerade das ist es, was wir wollen: reden, lachen, weinen und uns verständigen, ein kleiner Garten, in dem wir pflanzen, was gebraucht wird... mit den Kindern reden und lachen, zusammen aufwachsen und singen, was immer auch geschieht... die paar Sachen, die wir haben, teilen... den Mond, die Sonne und die Sterne beobachten, an die Insekten und Pflanzen denken und mit den Vögeln reden, säen, pflanzen und ernten.... was immer auch unter unseren Händen gewachsen ist...ohne daran zu denken, dass wir sonst gar nichts brauchen... denn die Bücher und Theaterstücke können wir ja selber schreiben... aus dem, was wir selbst gepflanzt haben, können wir unser Essen zubereiten und Gedichte erfinden...

(die ganze Autorenzeile passte nicht ins System. hier ist sie: "galicische Dramaturgin und Anarchistin am Ende der Welt in A Coruña".die Red)
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