Pasolinis Höllengang

von Willibald Spatz

München, 22. März 2019. Der erste Buh-Ruf kommt nach etwa 15 Minuten beim vierten Totschlag. Eigentlich ist es die vierte Variante des einen Totschlags, bei dem Pier Paolo Pasolini ums Leben kam. Die offizielle Version des Geschehens geht so: In der Nacht vom 1. auf den 2. November 1975 fährt Pasolini mit einem einem jungen Mann an den Strand von Ostia. Sie bekommen Streit, und der Junge erschlägt Pasolini brutal. Der Verdächtige Pino Pelosi gesteht schnell und wird verurteilt. Natürlich gibt es in dieser Geschichte zu viele Ungereimtheiten – es muss anders gewesen sein, Pelosi war viel zu schwach um den athletischen Pasolini dermaßen zu verunstalten. Außerdem war der linke Filmregisseur und Autor Pasolini zu vielen Leuten im von Arbeiterstreiks und Studentenunruhen erschütterten Italien der Democrazia Cristiana unangenehm, er eckte zu stark an, er musste aus dem Weg geräumt werden.

Eine gottliche Komodie 4 560 MatthiasHorn uTim Werths als Pier Paolo Pasolini in Zwiesprache mit seinem Alfa GT  © Matthias Horn

Antonio Latella lässt nun zu Beginn seiner Inszenierung mehrere mögliche Varianten vorspielen. Aus einem Alfa GT 2000, der zunächst allein auf leerer Bühne steht, steigen zwei Männer, gleich gekleidet. Der eine versucht den anderen von hinten zu nehmen, daraufhin kommt's zu Rauferei und Totschlag. Jetzt wird zurückgespult: Die zwei Schauspieler führen ihre Gesten rückwärts aus und stehen wieder am Anfang. Diesmal steigen drei Männer aus dem Auto, beim dritten Mal sind es schon vier, beim nächsten Mal kommen noch zwei Polizisten dazu, die den Geprügelten dann noch endgültig ersticken. Alle sind sie identisch gekleidete Wiedergänger Pasolinis. Die – gespielte – Gewalt wird in jeder Runde drastischer, einigen wird es zu viel, es kommt zu Unmutsäußerungen, die von einem anderen Teil des Publikums mit Wellen des Wohlwollens und Szenenapplaus beantwortet werden. Wenn Antonio Latella einen emotionalen Einstieg beabsichtigt hat, dann ist ihm das hervorragend gelungen und das, obwohl noch nichts wirklich Provokatives passiert ist. Aber der Abend ist in dem Moment ja auch noch jung.

Durchschreiten der Hölle

Als Autor hat sich Pasolini Zeit seines Lebens immer wieder mit Dante und dessen "Göttlicher Komödie" auseinandergesetzt. Das nehmen Antonio Latella und sein Autor Federico Bellini zum Anlass, biografische Elemente von Pasolini mit der "Divina Commedia" kurzzuschließen. Dieses immer neue Erleben des eigenen Todes entspricht dem Durchschreiten der Hölle bei Dante und mündet in einem Stroboskop-Elektro-Pogo, bei dem alle nackt sind und die Luft vor sich verprügeln oder vögeln. Hier wird es laut und durchgeknallt, und nicht wenige Zuschauer*innen nutzen die Gelegenheit zum Verlassen des Theaters. Dennoch ist in Wirklichkeit noch nichts passiert, was man im Jahr 2019 als skandalös bezeichnen will.

Eine gottliche Komodie 2 560 MatthiasHorn uDie Hölle ein Fahrstuhl. In dem aber, anders als im "Auftrag" von Heiner Müller nicht nur ein Mann, sondern gleich ihrer  drei feststecken: Tim Werths, Nils Strunk, Franz Pätzold  © Matthias Horn

Im Fegefeuer wird es tatsächlich ruhiger. Pasolini begegnet seiner Mutter und spricht sich mit ihr aus. Das bedeutet, dass Tim Werths irgendwann nackt auf der regennassen Bühne liegt und Zwiesprache hält mit seinem Auto und mehreren Herrn in schwarzen Anzügen; einer fährt in einer Telefonzelle über die Bühne. Das Verhältnis zu der Familie war nicht einfach. Der kleine Piero hört auf seine Eltern zu lieben, nachdem sein kleiner Bruder geboren ist. Den, der später als Partisam im Widerstand gegen die Faschisten kämpft,  findet die Mutter Zeit ihres Lebens viel toller. Der Vater hat den Jungen dann endgültig seelisch auf die schiefe Bahn gebracht, weil er mit der Mutter in der Küche geschlafen hat und der Sohn zuhören musste. Im Residenztheater wird nun Tim Werths am Penis gepackt und einmal um die leere Fläche geführt, was zumindest schmerzhaft anzusehen ist, aber im Gesamtkontext des bisherigen Bühnengeschehens konsequent ist. Das einzig Überraschende ist, dass immer noch Menschen im Raum sind, die "Aufhören, Aufhören" fordern.

Präsenz der Körper

Vielleicht handelt es sich um ein Missverständnis. Antonio Latellas Stück ist eine schalkhafte Auseinandersetzung mit zwei Künstlerikonen. Er treibt ein ernsthaftes Spiel, bei dem er deren Leben und Werk ineinander verschränkt, ohne sie auf den Sockel zu heben und den Zuschauer intellektuell zu nerven. Dabei sind die Körper seiner Schauspieler extrem präsent und gefordert. Er baut aus ihnen nachdrückliche Bilder. Dass sich davon so viele ärgern lassen, bringt ihn tatsächlich in die Nähe Pasolinis, dessen Werk auch niemals auf die bloße Provokation reduziert werden darf, obwohl er etliche Male deswegen vor Gericht erscheinen musste (das Programmheft listet sehr schön 33 Anklagen, die gegen Pasolini erhoben wurden, auf.) Die wahre Provokation ist das Leben, und der Künstler reagiert nur darauf. Darüber kann man sich schon aufregen, muss man aber nicht.

 

Eine göttliche Komödie. Dante < > Pasolini
von Federico Bellini
Deutsch von Katrin Hammerl und Laura Olivi
Uraufführung
Regie: Antonio Latella, Bühne: Giuseppe Stellato, Kostüme: Graziella Pepe, Musik: Franco Visioli, Licht: Gerrit Jurda, Choreographie Francesco Manetti, Dramaturgie: Federico Bellini und Laura Olivi.
Mit: Philip Dechamps, Gunther Eckes, Max Gindorff, Franz Pätzold, Nils Strunk, Tim Werths.
Premiere am 22. März 2019
Dauer : 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

"Wozu das kritisieren? Einen Abend, der offensichtlich weder etwas zu erzählen noch zu zeigen hat. Bei dem jedes Bild vor Kitsch trieft, jede Geste nichtssagend pseudo, jedes gesprochene Wort ganz und gar wertlos ist. Bei dem die Körper der Schauspieler wie Dreck behandelt werden, zum Anschauungsobjekt degradiert, vorgeführt wie billige Ware", poltert Simon Strauß in der FAZ (25.3.2019). Er greift Intendant Martin Kušej und die Dramaturgie des Hauses dafür an, diesen Abend zugelassen zu haben. "Sie müsste einschreiten, wenn so gedanken- und aggressiv inhaltslos inszeniert wird wie hier. Nicht zuletzt auch, um das Ansehen der Schauspieler zu schützen, denn sie sind es, die sich am Ende ausbuhen lassen müssen, wie es hier im Lauf der Vorstellung mehrmals geschieht. Wenn alle anderen Kontrollinstanzen versagen, dann müsste sich in letzter Konsequenz allerdings auch ebenjenes Ensemble zusammenschließen und sich der rufschädigenden Demütigung, die ein Spiel unter so einer skandalös dämlichen Regie für sie bedeutet, verweigern."

"Der Abend ist eine Anstrengung, wenn nicht Zumutung - vor allem wegen seiner Verstiegenheit; der Art, wie er sich trotz eher abgedroschener Mittel wichtig macht und sich buchstäblich mit Kunstmuckis aufspielt", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (25.3.2019). Latella inszeniere das Stück als einen abstrusen Albtraum, in dem die Gesetze der Narration und der Logik aufgehoben seien. Er zeige exzentrisches Körpertheater, "einen Fight- und Fick-Club in schwuler Hardcore-Ästhetik". Der Text sei "derart verblasen, dass man ihn gerne stumm geschaltet hätte".

"Das Drama ist sicher nicht der komplexeste Text der Theaterliteratur. Doch in jedem Fall ist die Idee dieses Montage-Reigens spannend“, schreibt Michael Schleicher im Münchner Merkur (26.3.2019). "Wie bei Dante nimmt die Raserei mit jedem Höllenkreis zu, bis zur treibenden Rap-Rock-Nummer 'Argenti vive' des Hip-Hoppers Caparezza, der sich ebenfalls mit der 'Göttlichen Komödie' seines Landsmanns auseinandersetzt. Hier kumuliert die Inszenierung in einem brachialen Irrsinn aus Leibern, Lautstärke, Lust, Licht und Laster." Schleicher schließt: "Ein schrecklicher, ein guter Abend."

Michael Stadler verteidigt die Inszenierung in der Abendzeitung (25.3.2019) gegen die Zwischenrufe aus dem Publikum: "Der testosteronsatten Virtuosität der tollen Darsteller werden solche Störungen nicht gerecht: Wer vom Tod Pasolinis erzählt, muss Gewalt darstellen." In "den Resi-üblichen Himmel des Sprechtheaters" dringe die "eher Kammerspiele-übliche Hölle des Performativen" ein. Im Residenztheater wirke dieser Abend wie ein gezielter Kontrollverlust.

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