Hypnose durch den DJ-Guru

von Georg Kasch

München, 28. März 2019. Plötzlich ist sie da, die Ahnung davon, was diese Gemeinschaft sein könnte: Zärtlich singen die Schauspieler a cappella von der Résistance, dem Widerstand. Es klingt, als hätte Bach einen Popchoral geschrieben, immer mehr Stimmen kommen dazu, verweben sich, reiben sich aneinander. Endlich, nach all dem Hochdruck-Gerede und Handlungsgezappe, nach Argumenten, Schicksalen, Konflikten herrscht auf einmal – Harmonie.

Harmonie gibt es in Virginie Despentes Romantrilogie "Das Leben des Vernon Subutex" eher selten. Vor allem auf den "Convergence" genannten Zusammenkünften, die sich im zweiten und dritten Teil bilden: Da legt Subutex, einst Plattenhändler, dann Obdachloser, nun Guru, Musik auf; die anderen reden und tanzen. Hier kommen sie miteinander ins Gespräch, die Millionäre, die Clochards und die bourgeoisen Langweiler, die sonst ihre Klassen und Vorurteile trennen. Eine Utopie.

Warum ein Roman?

Despentes zeichnet in ihrem Roman ein Balzac’sches Gesellschaftspanorama des heutigen Frankreich. Nur lassen sich ihre schroffe Perspektivwechsel, ihre kühne Informationspolitik, die faszinierende Mosaiktechnik, die zahllosen Protagonisten kaum auf die Bühne übertragen. So erfährt man oft erst mitten in einem Kapitel, dass die Figur, aus deren Blick man gerade die Welt sieht, Schwarz oder trans oder Professor ist, was einem schockartig die Normiertheit des eigenen Denkens offenbart.

Wenn man einen 1200-Seiten-Roman auf die Bühne bringt, dessen Reiz weniger in der Handlung als im Wie des Erzählens liegt, muss man sich darüber im Klaren sein, warum man das macht. Wie kompensiert man, dass wichtige Episoden wegfallen, vielschichtige Charaktere verflachen, Bezüge verlorengehen? Was können Theater und Schauspieler, das der Roman nicht kann?

VernonSubutex3 560 Arno Declair uAm DJ-Pult der Verführung: Vernon Subutex. Samouil Stoyanov als Xavier, Jelena Kuljić als Vernon, Maja Beckmann als Emilie © Arno Declair

Die Musik. Menschen, die Ahnung von Rock und Pop haben, müssen beim "Subutex"-Lesen einen nahezu durchgehenden Soundtrack im Ohr haben – alle paar Absätze wird eine neue Band, ein neuer Song eingeflochten. Deshalb wirkt es folgerichtig, dass Stefan Pucher den Stoff an den Münchner Kammerspielen inszeniert. Er hat selbst mal als DJ gearbeitet, nutzt immer wieder Pop in seinen Werken. Statt aber Britney Spears' "Work Bitch", Leonard Cohens "You want it darker" oder Stereolabs "French Disco" einfach einzuspielen, hat Christopher Uhe aus ihnen einen unterkühlten Soundtrack destilliert, dem Jelena Kuljić mit ihrer Stimme warmes Leben einhaucht. Wenn sie singt, dann überträgt sich etwas von der Faszination, die Subutex auf seine Umwelt ausübt – etwas Hypnotisches liegt darin, der Klang drängt und entspannt zugleich.

Überhaupt ist Kuljić eine gute Wahl für den DJ-Guru. Ihre androgyne Lässigkeit, ihr müder Blick, ihre sperrige Sprache: ein zerbrechlicher Schmerzensmann. Einmal zeigt Meika Dresenkamp in ihren eisigen Videos, wie eine Privatdetektivin – genannt "die Hyäne" – den verwahrlosten, stinkenden Subutex unter die Dusche stellt. Als christlich aufgeladene Waschung.

Würde und reinster Seifenopernkitsch

Solche Momente können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Puchers Inszenierung wie so viele Romanadaptionen der Handlung auf den Leim geht. Bis all die Charaktere (dabei wurden schon etliche gekillt oder zusammengelegt) vorgestellt sind mit kleinen Video-Trailern und großen Monologen, vergeht fad die Zeit, und auch danach muss viel Text absolviert werden. Nur wenigen gelingt es, so viel Blut und Leidenschaft, Komik und Zwischentöne, Menschlichkeit und Würde in die kleinen Auftritte zu pumpen wie Annette Paulmann. Ihre Olga, die auf der Straße lebt, aber das Herz einer (Klassen-)Kämpferin hat, stürzt sich mit einer derartigen Wucht in ihre Rolle, dass man diese (im Buch nur bedingt sympathische) Figur sofort ins Herz schließt. Gro Swantje Kohlhof hat gegen Ende einen berührenden Monolog, Thomas Hauser besitzt als Ex-Pornostar Pamela eine rätselhafte Anmut, Maja Beckmann lässt ihre Emilie verdruckst strahlen. Ansonsten reihen sich die Klischees, grob angerissen; manche rückblendenden Filmpassagen sind sogar reinster Seifenopernkitsch.

VernonSubutex2 560 Arno Declair uDie Klassen überwindende Harmonie einer Convergence: Ensemble um Wiebke Puls @ Arno Declair

Nach der Pause gibt es häufiger Momente, in denen die Musik pulsiert, in der man sich so gerne verlieren möchte, und weil die Textfassung zunehmend weniger nach Chronologie und mehr nach Themen ordnet, prallen jetzt auch endlich die gesellschaftlichen Positionen aufeinander. Als sich hier alle in bunt wuchernder Einheitskleidung zum Diskutieren versammeln, begreift man auch, warum Barbara Ehnes ein schwarz glänzendes Amphitheaterrund auf die Bühne gestellt hat, das sich zu einem Hügel wölbt (vermutlich dem des Parc des Buttes-Chaumont, in dem Subutex bei Despentes eine Weile lebt). In der Mitte steht auf einem Podest ein Plattenspieler. Hier konzentriert sich Subutex’ Macht, seine hypnotische Verführungskunst. Davon allerdings hätte der Abend eine gute Portion mehr vertragen können.

 

Das Leben des Vernon Subutex
Nach der Romantrilogie von Virginie Despentes
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz, Theaterfassung von Tarun Kade, Stefan Pucher und Camille Tricaud
Regie: Stefan Pucher, Bühne: Barbara Ehnes, Kostüme: Tina Kloempken, Video: Meika Dresenkamp, Musik: Christopher Uhe, Dramaturgie: Tarun Kade.
Mit: Maja Beckmann, Jan Bluthardt, Zeynep Bozbay, Thomas Hauser, Abdoul Kader Traoré, Nils Kahnwald, Gro Swantje Kohlhof, Jelena Kuljić, Daniel Lommatzsch, Kamel Najma, Jochen Noch, Annette Paulmann, Wiebke Puls, Vincent Redetzki, Samouil Stoyanov.
Premiere am 28. März 2019
Dauer: 3 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

Kritikenrundschau

'Der Traum, der uns heilig war, wurde zur Pissfactory.' Mit diesem Satz hätte man den Abend auch gleich beenden können, "denn Wesentliches kommt inhaltlich nicht mehr hinzu, allerdings entgingen einem dann einige schauspielerische Glanzleistungen, die das Grundthema immer wieder mit Grandezza variieren und jedenfalls bis zur Pause durchaus viel Freude machen", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (30.3.2019). "Großartig: Thomas Hauser als ehemalige Porno-Queen Pamela Kant, mit Würde und großem Herz; Wiebke Puls als Hyäne, krasse Internetagentin mit eisiger Schlauheit; Nils Kahnwald als Börsentrader auf Koks." Und dennoch: "(D)ie Überschaubarkeit von Despentes' rhetorischem Vermögen wird deutlich, reiht man Abgesang auf Abgesang. Ja, alles ist schlecht, alle Träume sind verflogen. Übrig bleibt die Macht der Reichen, Terror, Radikalisierung. Puh."

Den Figuren fehle die Tiefe der Vorlage. "Die Inszenierung bietet vor allem: glatte Oberfläche", findet Christoph Leibold von Deutschlandfunk Kultur (29.3.2019). Auch das Setting komme nicht an die Lädiertheit der Welt heran, die der Roman präsentiere. "Kaputt wirkt das alles nicht. Dafür ist die Inszenierung viel zu stylish."

"Pucher und sein Dramaturg Tarun Kade schaffen es, dieses breitwandige Gesellschaftspanorama unseres Nachbarlandes vor und nach den islamistischen Anschlägen von Nizza und auf ein Rockkonzert im Pariser Bataclan zu verdichten. Aus mindestens zwei Wochen Lesezeit werden drei Theaterstunden. Größere Kollateralschäden sind nicht zu verzeichnen", schreibt Robert Braunmüller in der Abendzeitung (29.3.2019). "'Vernon Subutex' ist vor allem hervorragendes Schauspielertheater. Und das ist ein Plus, für Leser und für Nichtleser der Roman-Trilogie."

In den Musikeinlagen sei Puchers Romanadaption "ganz bei sich", schreibt Michael Schleicher im Münchner Merkur (30.3./31.3.2019) und in einer Kurzfassung der Rezension auch in der tz (30.3./31.3.2019). Gleichwohl gelinge es nicht, "in die Tiefe zu gehen", zumal Pucher die "gesellschaftspolitischen Beobachtungen" des Romans in den Begegnungen des Helden mit "unterschiedlichen Schichten" vernachlässige. Trotz großer "Spiellust" des Ensembles rausche die "Vorstellung der Figuren als Typen-Revue vorbei".

"In den Kammerspielen stehen Thesen im Raum, von Brüchen weitgehend bereinigt", schreibt Sabine Leucht in der taz (1.4.2019). Es fehle "alles, was dem Roman den Ruf eingebracht hat, das Porträt der Jetztzeit zu sein: die Verlorenheit jedes Einzelnen, die kollektive Angst einer von Anschlägen traumatisierten und zerbrechenden Gesellschaft und die magische Versprechung der Musik."

Trotz "kraftvoller Ensembleleistung entsteht keine Geschichte", lautet der Befund von Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (3.4.2019). "Die Statements der Pariser Typen per Videorund im Hintergrund haben anfangs Lust auf mehr gemacht, aber der episodische Drive nutzt sich bald ab." Der "beste Coup der Regie" seien die Videoeinspielungen von Meika Dresenkamp. Zur introvertiert angelegten Hauptfigur Vernons Subutex bleibe die Zuschauerin "auf Distanz".

 

 

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