Zukunfts-Scheuchen

von Sabine Leucht

München, den 29. März 2019. Wulstige weiße Masken mit Zottelperücken, steife Beine in Gummistiefeln, Stroh, das aus Ärmeln und Latzhosenbünden quillt: Die tiefenentspannten Kreaturen Philippe Quesnes haben ein neues Outfit bekommen. Dem einen steckt ein Beil im Kopf, der andere kriegt den Mund nicht mehr zu. Und für den Moment fühlt man sich fälschlicherweise in eine Aufführung von Susanne Kennedy versetzt, denn die Stimmen hinter dem Pappmaché sind verzerrt, quäkig, synthetisch fremd als kämen sie von ganz woanders her.

Plastikschwein, keine Utopie

Wo sind sie bloß geblieben, die hypernaturalistisch-ungeschminkten Quesne-Menschen, die in eisigen Landschaften, dampfenden Sümpfen oder auf einsamen Inseln herummurmeln und jeder Apokalypse eine Utopie entreißen? Oder sie ihr abschwatzen mit ihrer optimistischen Engelsgeduld. Angesichts des Sterilität der Kammer 2 der Münchner Kammerspiele packt einen die Sehnsucht nach ihnen: Überall weiße Planen, unter einem Fake-Fell bewegt sich etwas Maschinelles, ein lebensgroßes Plastikschwein ist mit Klebeband an ein kleines Keyboard gefesselt – und selbst die omnipräsenten Heuballen sind aus dreifarbigen Fäden zusammengemixt.

farmfatale 1 560 martin argyroglo uGeschäftigkeit im Piratensender zwischen Heuballen: Gaëtan Vourc'h, Julia Riedler, Damian Rebgetz, Leo Gobin  © Martin Argyroglo

"Farm Fatale" heißt der Abend – und das Fatale daran ist, dass es die Farm nicht mehr gibt. Nur die Vogelscheuchen sind zurückgeblieben. "Alle tot" sagt eine von ihnen einmal. Sie kommt von außen und hat einen Heuballen mitgebracht, der rundum mit Pappschildern behängt ist. Nützliche Sprüche wie "No Nature – No Future" stehen darauf, die man auf Demos gebrauchen kann.

Vor-sich-hin-Frickler produzieren Quatsch

Ja, auch Vogelscheuchen demonstrieren. Diese Kleingruppe hier macht sogar Radio, unterhält eine Art Piratensender mit eigener Band und konserviert und wacht über alle Geräusche der Natur, seien es die Stimme der Vögel, der Flüsse, der Berge, der Berge ohne Flüsse, der Flüsse bei Nacht ... Und da kennt man sich dann doch wieder aus: Es sind dieselben Nischenbewohner und Vor-sich-hin-Frickler wie immer bei dem französischen Regisseur, die mal ein paar Worte auf einen Karton schreiben, damit bei der nächsten Versammlung darüber geredet werden kann, mal zum dadaistischen Wortspiel, naturphilosophischen Bonmot, Rilke-Zitat oder zur Gitarre greifen – und die den gereckten Zeigefinger ernst in den Wind halten als hinge ihr Leben davon ab – auch wenn der Wind nur aus der Klimaanlage kommt.

Nachdem Quesne seine erste Arbeit für die Kammerspiele nur mit Ensemblemitgliedern inszeniert (und in den Sand gesetzt) hat, stehen nun neben den Münchner Schauspielern Julia Riedler, Stefan Merki und Damien Rebgetz noch Léo Gobin und Gaetan Vourc´h unter den Masken, zwei Schauspieler, die Philippe Quesne vom Pariser Théatre Nanterre-Amandiers mitgebracht hat, das den in München uraufgeführten Abend koproduziert.

farmfatale 3 560 martin argyroglo u Erst mystisch, dann mörderisch, dann wieder lieb: "Farm fatale" in München  © Martin Argyroglo

Das gemischte Team produziert so hinreißenden wie hirnrissigen Quatsch wie jene Szene, in der die Ex-Biobauernhof-Scheuche (Merki) die letzte Biene zum Interview vorbeibringt und ihre Antworten auf Fragen wie ob sie sich jetzt auch mit Spinnen und Moskitos – äh – verbinde, aus der hohlen Hand heraus ins Schwyzerdütsch übersetzt. Zum kleinen Glück und glucksenden Lachen reicht hier aber oft auch schon, wenn die weibliche Scheuche (Riedler) den Vogelstimmensoundtrack ausknipst (und damit erst als solchen enttarnt) oder wenn zu jedwedem positiven Gefühl alle synchron und wie wild mit den Armen und Händen wackeln.

Ausweichende Antworten

Doch es gibt auch verdammt viel Leerlauf an diesem kurzen Abend – was damit zu tun hat, dass die paar Grundideen nicht lange tragen und irgendwann der szenische Rhythmus verloren geht. Und zwar schon kurz nachdem das Kunstpelz-Wesen ein großes leuchtendes Ei legt, in dem offenbar der Komplettbausatz einer neuen Zukunft steckt. Es wird danach arg mystisch, kurz mörderisch, dann wieder sehr lieb. Und lieb reicht nicht, zumal dem putzigen futuristischen Öko-Märchen jeglicher philosophische oder politische Tiefgang fehlt. Pestizide, Turbokühe, gentechnisch veränderte Karotten sind böse: Inhaltlich komplexer wird es nicht an dem Abend, der in einer Beschwörung leuchtender Ostereier endet. Wenn Quesnes menschenfreundliches Tagtraumtheater gelingt, wird man von perlender Zuversicht und grundloser Fröhlichkeit gepackt, die nach einem tieferen Sinn des Ganzen gar nicht fragen will. Hier tut man´s doch. Und bekommt von einem Abend, der sich ungeniert an sich selbst erfreut, nur ausweichende Antworten.

 

Farm Fatale
von Philippe Quesne
Uraufführung
Regie: Philippe Quesne; Konzept, Bühnenbild, Kostüme: Philippe Quesne. Licht: Pit Schultheiss, Dramaturgie: Martin Valdés-Stauber, Künstlerische Mitarbeit Bühne: Nicole Marianna Wytyczak, Künstlerische Mitarbeit Kostüme: Nora Stocker.
Mit: Léo Gobin, Stefan Merki, Damian Rebgetz, Julia Riedler, Gaetan Vourc´h.
Premiere am 29. März 2019
Dauer: 1 Stunde, 30 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

"Philippe Quesnes 'Farm fatale' erweist sich als bizarre Pastorale voll wunderbarem Witz, in der aber auch die Utopie einer anderen, besseren Welt aufscheint. Einer Welt nämlich ohne Menschen", so findet Christoph Leibold von Deutschlandfunk Kultur (29.3.2019). "Vielleicht wäre es für den Planeten tatsächlich am besten, sie könnte nochmal ganz von vorne anfangen. Im leeren Raum. Und ohne uns."

"Philippe Quesne ist ein Zauberer. Seit 2003 – damals rief er in Paris das Vivarium Studio ins Leben – erschafft er eigene Welten auf der Bühne“, schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (online: 31.3.2019). Quesnes erster Ausflug an die Kammerspiele im Jahr 2016 sei gescheitert, diesmal glücke das Unterfangen. 'Farm fatale' sei, obwohl durchaus zielgerichtet, viel näher an der assoziativen Kraft der Vivarium-Arbeiten als seine erste Arbeit in München. "Das ist alles ein herrlicher Unsinn, die Fünf machen viel Bienenquatsch – 'Let it Bee' –, wie überhaupt eine eigentümliche Fröhlichkeit herrscht, obwohl wir uns ja eigentlich in einer menschenleeren Apokalypse befinden."

In der "Nähe einer kabarettistischen Revue" sieht Michael Stadler von der Abendzeitung (1.4.2019) diesen Abend ob seines Einsatzes von Musik, Masken und Wortspielen. "Die mythische Atmosphäre früherer Quesne-Arbeiten stellt sich dabei nicht ein. Stattdessen sind die Vogelscheuchen ziemlich konkrete Unterhalter mit kindlichem Charme."

In ihrer Besprechung für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (3.4.2019) schreibt Teresa Grenzmann: "Die wundersame Schräglage von 'Farm Fatale' nimmt zum Ende hin bedenklich zu. Und dennoch ist in diesen eineinhalb Stunden keine Idee zu bizarr, kein Wortspiel zu aberwitzig, keine Geste zu trivial, keine Schlussfolgerung zu naiv. Denn mit seiner kleinen, eigenwil¬lig funktionierenden demokratischen Gesellschaft der Vogelscheuchen zückt Philippe Quesne natürlich den Spiegel für die unsrige, die im Stück Geschichte ist."

 

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