Mutters Tricks

von Georg Kasch

Aarau, 1. April 2019. So komisch war Grusel selten: "Öch bön dein Vaaaaateeeer", dröhnt King Hamlet – und der Saal brüllt, tobt, juchzt vor Glück. Vielleicht auch, weil Hamlet junior dazu die Augen aufreißt, die Hände in die Luft krallt, ächzt und stöhnt, als gälte es, ein Schauerstück des 19. Jahrhunderts zu illustrieren. Wie er die Arme vors Gesicht reißt, sich zusammenkrümmt, krächzt: "Oh Himmel!" Es ist unerträglich. Es ist wunderbar!

Denn Sibylle Berg schickt William Shakespeares "Hamlet", diesen so ausinterpretierten, oft inszenierten Klassiker, durchs Fegefeuer der Komik. Und das Sonderbare geschieht: Man sieht ihn mit frischem Blick. Schon Vegard Vinge und Ida Müller hatten in ihrem Nationaltheater Reinickendorf Hamlet als grellen Comic-Jugendlichen zur Kenntlichkeit verzerrt. Jetzt setzt Sibylle Berg in ihrer überhaupt erst zweiten Inszenierung – nach How to sell a Murder House in Zürich – noch eins drauf. Dabei hat sie von Vinge/Müller ebenso gelernt wie von Ersan Mondtag (der in Köln ihr "Wonderland Ave" uraufführte) und dem Boulevard.

ikbmmbkffjahboobRenaissance ist Pop!  @ Lilly Merck

Johannes Schütz hat ihr einen seiner kargen Kästen gebaut, der diesmal allerdings von einer naiv gepinselten Wappen-Borte begrenzt wird. Vor diesem Hintergrund knallen einem Victoria Behrs Kostüme umso mehr ins Gesicht: Renaissance ist Pop! Da explodieren die Halskrausen in wüsten Ballungen, da türmen sich die Frisuren ins Unendliche, da leuchten die Neonfarben von Manschetten und Schuhschnallen. Nur Hamlet rennt herum wie von Heute: ein Schluffi mit einer Mission, auf die er partout keine Lust hat.

Heimliche Hauptfigur

Über weite Strecken folgt Berg der ungekürzten Schlegel-Übersetzung. Oft lässt sie ihre Schauspieler die Worte im Schauerpathos von der Rampe zittern, dann wieder im Boulevard-Parlando nölen oder – wie in der Szene zwischen Gertrude und Hamlet – als herrliches Ping-Pong zweier aufgekratzter Wahnsinniger spielen.

Berg macht Gertrude zur eigentlichen Hauptrolle. Was Caroline Peters an Text fehlt, macht sie durch raumgreifendes Spiel wett. Wenn sie hinter Martin Wuttkes Claudius herstapft, mehr greinendes Kind als König, und ihm mit den Augen den Schädel durchbohrt, wird klar, wer hier die Fäden zieht. Sie ist diejenige, die den alten King Hamlet hat erledigen lassen, sie manipuliert den Hof, ihren neuen, schwachen Mann, ihren Sohn. Selbst ihr Mitleid Ophelia gegenüber wirkt geheuchelt, ahnt man doch, dass sie der Kollateralschaden von (Schwieger-)Mutters Tricks und Machtintrigen ist.

Mit Stinkeringfinger

Überhaupt ist das eigentliche Wunder dieses Abends, welch prominenten Cast die Berg hier in Aarau versammelt hat. Jens Harzer schlurft als Hamlet eher depressiv über die Bühne, einer, der nicht so recht weiß, was die Alten von ihm wollen. Großartig jener Moment, in dem der frischgebackene Ifflandring-Träger seinem Stiefvater (also Wuttke) den Stinkefinger hinstreckt – und da prangt er tatsächlich, der Ring, den Wuttke, na klar, ebenso verdient hätte. Herrlich, wie Wuttkes Claudius da erbleicht.

Harzer Aarau 560 jnmIfflandring-Träger Jens Harzer als Hamlet in Aarau  © jnm

Arg kalkuliert wirkt hingegen die Idee, Ophelia mit Sophia Thomalla zu besetzen – klar springen darauf die Boulevardmedien an. Dabei besitzt ihre Darstellung, wiewohl sie mit ihrer überdeutlichen Diktion heraussticht, etwas Berührendes: Diese Frau hat Erfahrung, sie sträubt sich gegen Hamlet, versucht sich vor Vater und Bruder wegzuducken, geht aufrecht in den Wahnsinn, der hier eher wie eine momentane Verwirrung wirkt: Wer bin ich und wenn ja, wie viele?

Ebenso kalkuliert der Kurzauftritt von Jimi Blue Ochsenknecht als junger Hamlet, der in Voxi Bärenklaus psychedelisch koloriertem Video mit seinem Vater angeln geht. Hier wirkt Robert Hunger-Bühler plötzlich ziemlich menschlich, anders als seine Geister-Karikatur zu Beginn, bei der er zwischen Knatter-Ton und Darth Vader extemporierte.

Duell der Hass-Blicke

Auch das übrige Ensemble ist erstklassig besetzt, was sicher auch an der Kooperation mit den Wiener Festwochen, dem Schauspielhaus Zürich und der Berliner Schaubühne liegt: Mark Waschke lässt als Laertes hin und wieder seinen Waschbrettbauch hervorblitzen, Jonas Dasslers Horatio umtänzelt Hamlet, als wolle er ihm jeden Moment einen Antrag machen. Schön böse Sebastian Wendelin und Christoph Luser als Rosenkranz und Güldenstern, zappelige Marionetten der Macht, grandios komisch und weise zugleich die Totengräber von Maria Happel und Annette Paulmann. Allein für Josef Ostendorfs Bürokraten-Persiflage Osrick muss man nach Aarau pilgern!

Oder für den Ersten Schauspieler der Barbara Nüsse, die, ganz in Schwarz und an der Rampe, allein mit Worten eine Welt verlebendigt – um dann gegen Ende auf Matthias Matschkes Polonius zuzustürzen, der sich gelangweilt auf der Brüstung der Proszeniumsloge fläzt, und ihm keck die Worte vom Untergang ins Gesicht zu buchstabieren. Was für ein Duell der Hass-Blicke!

Das einzige Manko des Abends: Er ist mit über sechs Stunden etwas lang geworden, und das Aarauer Publikum fremdelte sichtlich mit Bergs schwarzhumoriger Spaßguerilla-Ästhetik. Das herbeigeeilte Festival-Publikum aber, all die Kolleg*innen, Intendant*innen, Fans feierten den Abend mit sehr langen, stehenden Ovationen.

Hamlet
nach William Shakespeare
Regie: Sibylle Berg, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Victoria Behr, Video: Voxi Bärenklau, Dramaturgie: Helene Hegemann.
Mit: Jens Harzer, Robert Hunger-Bühler, Caroline Peters, Sophia Thomalla, Mark Waschke, Jonas Dassler, Martin Wuttke, Matthias Matschke, Josef Ostendorf, Barbara Nüsse, Sebastian Wendelin, Christoph Luser, Maria Happel, Annette Paulmann.
Premiere am 1. April 2019
Dauer: 6 Stunden 30 Minuten, zwei Pausen

www.kantonsbuehneaarau.ch

 

Mehr zu den Hintergründen des Aarauer Star-Rummels demnächst in der Nachtkritik-App.

 

Kommentare  
Hamlet, Aarau: Foto falsch
Das Bild stammt aus „immer noch Sturm“. Regie: Dimiter Gotscheff, Premiere war bei den Salzburger Festspielen im Sommer 2011
Hamlet, Aarau: nervige Berliner
Endlich eine kluge Hamlet-Inszenierung aus weiblicher Perspektive! Ich fand Bastian Trost als Koch überragend; hab mich aber etwas geärgert über die angereisten Berliner Schauspieler-Granden, die besserwisserisch im Publikum sassen und mitrezitierten.
Hamlet, Aarau: komisch
das foto auf dieser seite zeigt meines erachtens jens harzer in der letzten aufführung von "immer noch sturm" in der berliner volksbühne - hinten bibiana belgau - und er hält den blumenstrauss in der hand für die ifflandring-ehrung.
die bildunterschrift scheint sagen zu wollen harzer sei hier als hamlet in aarau zu sehen.
Hamlet, Aarau: anregend, ratlos
.... Sibylle Berg tut gut daran, den Versuch, die Frage "Sein oder Nichtsein?" zu beantworten, zu unterlassen. Vielleicht stellt sie sie nicht einmal, sondern wirft sie nur Brotkrumen gleich den Spurensuchern hin, die sie womöglich übersehen. Bildstark ist der Abend, intensiv gespielt auch und in seiner Vielzahl von Geschichten- und Sinnangeboten überaus dicht. Und vermag es doch nicht recht, die unterschiedlichen Realitätsebenen zusammenzufügen zu einem gemeinsamen Erleben. (...) Anregend ist der Abend allemal, unfertig ebenso und ratlos allemal. Eine gute Voraussetzung, auf die Suche zu gehen.

Komplette Rezension: https://stagescream.mordsspass.com/2019/04/01/gamlet_
Hamlet, Aarau: wo gibt's Karten?
Sehr geehrte Damen und Herren,

der Link zum www.kantonsbuehneaarau.ch scheint nicht zu funktionieren. Seien Sie bitte so freundlich und überprüfen diesen. Mein Mann und ich möchten uns wegen der Karten für die Inszenierung informieren.
Freundliche Grüße aus Freiburg
GS
Hamlet, Aarau: eigentlich geil
Trotzdem April
Hamlet, Aarau: Anlehnungen an Gotscheff
Bei dem Foto könnte es sich tatsächlich um eine Verwechslung handeln. Allerdings war die Friedhofsszene als erkennbare Persiflage oder Hommage an Gotscheff angelegt. Sogar die eine Totengräberin erinnerte vom Aussehen stark an Bibiana Beglau.
Hamlet, Aarau: Foto
Das Foto ist definitiv in der Berliner Volksbühne am 22. März aufgenommen worden. Rechts applaudiert Bibiana Beglau während andere die Blätter aus " Immer noch Sturm " wie Konfettiregen über Jens Harzer werfen, als Gratulationsgeste für den neuen Iffland-Ring-Träger.
Hamlet, Aarau: reingefallen
Ich bin tatsächlich für einen Moment darauf reingefallen...
Hamlet, Aarau: sehenswert
Wäre sicher eine sehenswerte Inszenierung aber leider: April April !!
Hamlet, Aarau: April April
April ! April!
Hamlet, Aarau: Dank
Einen herrlichen Spaß haben Sie da hinbekommen bei Nachtkritik. Danke und weiter so!!!
Hamlet, Aarau: ein Traum
Diese herrliche Idee darf gerne von den Genannten aufgegriffen und realisiert werden. Ich würde es mir sofort ansehen!
Hamlet, Aarau: wunderbar
eine wunderbare besprechung.und idee zum 1.4.!
Hamlet, Aarau: Dassler
Jonas Dassler war beste
Hamlet, Aarau: Hihihi
Fühle mich an die Aprilscherze meiner Schülerzeitung vor 35 Jahren erinnert .
Hamlet, Aarau: Eröffnung Zürich
Liebe nk-Redaktion, bitte erwähnt doch noch, dass wir sehr stolz auf diese Inszenierung sind und uns freuen, sie ab der kommenden Spielzeit ans Schauspielhaus Zürich übernehmen und damit unsere Intendanz eröffnen zu können. Das ganze kommt dann als Doppelabend mit der Überschreibung von Ferdinand von Schirachs "Terror" durch Elfriede Jelinek raus - die Stücke werden in der Folge einzeln im Spielplan laufen oder zu bestimmten Anlässen (Silvester, Nationalratswahl) als Marathon. Vielen Dank, Nicolas Stemann
Hamlet, Aarau: Zukunftsmodell
Vielleicht ist das ein Zukunftsmodell, Rezensionen über imaginierte Theaterabende zu verfassen. Das ist sicher eine der schönsten und empathischsten Kritiken, die ich auf dieser Seite gelesen habe.....
Hamlet, Aarau: Publikum
Lieber Herr Schak - Ihrer Einschätzung der Reaktionen unseres Kantonstheater-Publikums muss ich deutlich widersprechen. Kann sein, dass Sie die Aarauer mit den Zürchern verwechselt haben. Vom Kantonsschullehrer bis zur Bäckereifachverkäuferin habe ich nur begeisterte Reaktionen bekommen. Alle 25 Vorstellungen sind bereits komplett ausverkauft - nun ja, es sind halt auch nur 120 Plätze... Herzlich - Peter-Jakob Kelting, Theater Tuchlaube AARAU. (www.tuchlaube.ch)
Hamlet, Aarau: der wahre Stern
Ach, das war ein Fake? - Schade, ich dachte, das wäre doch schon mal die erste Einladung für das tt 2020... Andererseits ist es ja so gut geschrieben erfunden, dass es gar nicht mehr gemacht werden braucht! Georg Kasch ist somit der neue wahre Stern am Dramatiker-Himmel! Ich hoffe, dass er jetzt nicht in eine Dramaturgie abgeworben wird wie sein ehemaliger Zuschauer-Kritikerkollege. Das wär echt Kolumist...
Hamlet, Aarau: au contraire
@ #19: Au contraire! Georg Kasch zeigt eigentlich ganz gut, was passiert, wenn die Inszenierungen tatsächlich so schlimm sind, wie ihre Kritiken.
Hamlet, Aarau: Sinn von Dramatik
@20: Ach, ich dachte immer, das ist u.a. der Sinn von DRAMATIK, dass sie spielbar das Schlimme an der Gegenwartsinszenierung zeigt, ohne es direkt im Nachrichtenformat zu benennen! So, dass das Schlimme am Theater nicht mehr geleugnet werden kann. Wenigstens dort nicht mehr. - Ich Dummerchen, ich nun wieder...
Hamlet, Aarau: wäre gerne dabeigewesen
Ich wünschte das hätte tatsächlich stattgefunden und ich hätte dabei sein dürfen!
Hamlet, Aarau: Wuttke, na klar!
GROSSARTIGER APRILSCHERZ!!: "Großartig jener Moment, in dem der frischgebackene Ifflandring-Träger seinem Stiefvater (also Wuttke) den Stinkefinger hinstreckt – und da prangt er tatsächlich, der Ring, den Wuttke, na klar, ebenso verdient hätte."

Wenn es diese Besetzung jemals geben sollte, ich würde meilenweit, mindestens bis Aarau ;-) fahren!!!
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