Die Versehrten kehren heim

von Kornelius Friz

Dresden, 5. April 2019. Ständig wird einer verraten oder erschossen, zum Volksfeind erklärt oder zum Volkshelden ernannt. Revolution, Staatskrise, Konterrevolution und vor allen Dingen der große Krieg mit seinem industrialisierten Sterben: Dem Roman "Eine Straße in Moskau" mangelt es an Handlung nicht. Das Werk von Michail Ossorgin erzählt von sechs Jahren, die Russland und die Welt verändern – 1914 bis 1920. Der Autor, 1921 selbst aus seinem Heimatland ausgewiesen und ins französische Exil übersiedelt, hat für sein Opus Magnum die Moskauer Wohnung des greisen Ornithologen Alexandrowitsch als Standort gewählt, wo die bewegten Machtverhältnisse des Weltgeschehens im Kleinen (im Salon bei Kaffee und Klaviermusik) oder im Kleinsten (in der Badewanne) gespiegelt werden.

Der Wolf kreist

Ossorgins Text wurde bereits 1929 unter dem Titel "Der Wolf kreist" veröffentlicht und stößt seit 2015 dank der Neuübersetzung von Ursula Keller im deutschsprachigen Raum wieder verstärkt auf Resonanz, die nun vorerst in dieser monumentalen Dresdner Uraufführung kulminiert. Jörg Bochow und Sebastian Baumgarten haben eine Spielfassung vorgelegt, die die Multiperspektivität des Romans aufnimmt, wenn nicht gar noch weiterdreht. Als Regisseur umschifft Baumgarten, dessen Opern-Background man diesem genau komponierten Abend anmerkt, dann elegant die Gefahr, die Übersicht über die große Zahl an Figuren zu verlieren, die die Adaption eines solchen Schinkens birgt.

EineStrasseinMoskau2 560 Sebastian Hoppe uBlick in die Vergangenheit: Das Dresdner Ensemble im Bühnenbild von Christina Schmidt
© Sebastian Hoppe

In einer Stummfilmszene zum Auftakt sind kurzerhand alle relevanten Figuren vorgestellt, sodass das sowjetische Drama seinen Lauf nehmen kann. Industrialisierung und technologischer Fortschritt, Krieg und Philosophie, Glaube und Liebe, hier ist alles eins: düster! Schwarze Müllsäcke an den Wänden bilden die Folie für das bourgeoise Setting, in dem gestritten und gelitten wird, vor allem zwischen Tanjuscha, der Enkelin des alten Vogel-Professors, ihrem angebeteten Artilleristen Stolnikow und dem Philosophiedozenten Astafjew.

Die ersten Versehrten kehren von der Front zurück in eine invalide Gesellschaft, der sie nicht mehr dienen können: Der Eine ist erblindet, kann seine Frau nicht mehr sehen. Dem Anderen fehlen Arme und Beine für eine Umarmung. Als unbeholfener Rumpfstumpf steht Stolnikow vor Tanjuscha, noch dazu einigermaßen irre; und das irre gut gespielt von Moritz Kienemann.

EineStrasseinMoskau3 560 Sebastian Hoppe uIn schwarzer Folie kriecht der Tod hinein in die Zimmer der Bourgeoisie: Luise Aschenbrenner, Lukas Rüppel, Thomas Wodianka © Sebastian Hoppe

Sechs illuminierte rote Sterne stehen wie Vorgartenleuchten im sowjetischen Birkenwald und bald schon wacht ein dreiköpfiger Drache über der Szenerie, ebenso rot und finster wie alles in dieser Arbeit. Der Stummfilm ist längst abgespielt, überhaupt hat man das Gefühl, dass alle halbe Stunde ein neues Stück, eine neue Spielweise oder zumindest eine neue Ästhetik einsetzt.

Da gibt es tragische Dialoge in einer winzigen Plattenbaukammer. Später, von der Enkelin Tanjuscha (Luise Aschenbrenner), ein ebenso einfühlsames wie ironisch überdrehtes Solo à la Lady Gaga. Es gibt den vom Leben verprügelten philosophischen Clown Astafjew mit seinem Kautschukkörper (Thomas Wodianka), dessen Forschen und Lehren niemand honorierte, weshalb er nun sein Brot verdient, indem er herrlich dadaistisch Jandls "SCHTZNGRMM" ins Publikum ballert. Und vor der Pause macht sich Lukas Rüppel als Moderator der beinahe-post-sowjetischen TV-Schau "Gagarin Arbeiter Klub" daran, die vierte Wand mit Flachwitzen zu reißen: "Wir haben heute mal wieder gesehen, was Theater kann", sagt er zynisch, als seine Scherze ins Leere laufen.

EineStrasseinMoskau4 560 Sebastian Hoppe uDer Bürgerkrieg hat Spuren hinterlassen: Moritz Kienemann und Thomas Wodianka © Sebastian Hoppe

Nach der Pause verliert die kurzweilige, weil eklektische Vorstellung ein wenig an Drive, schließlich soll doch noch eine Prise der Politkonflikte Kommunismus vs. Liberalismus vs. Humanismus und alle gemeinsam vs. Kapitalismus verhandelt werden. Dabei stülpt die Dresdner Produktion Ossorgin jedoch zu keinem Zeitpunkt eine ideologische Fellkappe über.

Vielmehr wird sein Monumentalwerk durch eine mehrsprachige Metaebene ergänzt, auf der anhand des historischen Stoffs unsere Gegenwart und vor allem die Zukunft der Welt erklärt werden soll: "Wir stehen erstmals an einem Punkt, an dem ökonomische Ungleichheit in biologische Ungleichheit verwandelt" werden könne, sagt eine Figur auf Englisch. Eine andere antwortet, dass "Erzählungen nur noch als produktives Delirium" funktionierten und klärt somit hintenrum auf, was die dramaturgische Maxime des Abends ist, Chaos gewinnt gegen (die Erzählung von) Kommunismus. Ob Bühne und Kostüm, Musik und Video, Besetzung und Ensembleleistung oder eben die offensiv offene Dramaturgie: Dieses Delirium ist so virtuos erschaffen, dass es nicht nur produktiv, sondern vor allem eine wahre Freude ist.

 

Eine Straße in Moskau
nach Michail Ossorgin
aus dem Russischen von Ursula Keller, Spielfassung von Jörg Bochow und Sebastian Baumgarten
Regie: Sebastian Baumgarten, Bühne und Kostüme: Christina Schmidt, Musik: Stefan Schneider, Video/Film: Philipp Haupt, Licht: Andreas Barkleit, Dramaturgie: Jörg Bochow.
Mit: Luise Aschenbrenner, Holger Hübner, Lukas Rüppel, Nadja Stübiger, Betty Freudenberg, Thomas Wodianka, Moritz Kienemann, Thomas Eisen, Sven Hönig, Thomas Mahn.
Premiere am 5. April 2019
Dauer: 3 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

Kritikenrundschau

"Der Dresdner Inszenierung täte der nachträgliche Mut zu ein wenig Straffung unter Beibehaltung der prägenden philosophischen Dialoge gut", findet Andreas Herrmann von den Dresdner Neuesten Nachrichten (19.4.2019). Ansonsten ist er voll des Lobes, vor allem für das Ensemble. Baumgarten benutze wie gewohnt alle theatralen Mittel und setze in einigen Bereichen weite Horizonte: "Neben Witz, Sarkasmus und regelmäßigen absurden Interventionen ist das diesmal vor allem die großartige Bühne von Ausstatterin Christina Schmidt."

"So opulent wie der Roman, so üppig ist auch Sebastian Baumgartens alle Sinne ansprechende Inszenierung", schreibt Sebastian Thiele von der Sächsischen Zeitung (8.4.2019). Ausgehend vom historisch-maschinellen Massenmord ziele Baumgarten mit seinem starken Ensemble auf eine Industrie- und Technikkritik. Wie in früheren Inszenierungen kreiere er Gegenwartsbezüge kreativ und durchdacht. "Auch wenn nach der Pause das Spiel zäh beginnt: Stets ist das Ensemble hoch konzentriert." Für Thiele ist dieses "Gesamtkunstwerk" definitiv "das bisher größte Ereignis der laufenden Spielzeit".

"Beharrlich wird – vor allem durch die Rahmenhandlung eines Filmdrehs – die Notwendigkeit behauptet, die Aktualität der Geschichte und ein heutiges Verhältnis zu Ideologie und Revolution zu finden, aber leider darstellerisch nicht erlebbar gemacht", schreibt Erik Zielke in der Jungen Welt (8.4.2019). Recht virtuos und unterhaltsam spitze Baumgarten zu. Die szenographische Umsetzung zeichne sich durch großen Einfallsreichtum aus. "Was bei all dem fehlt, ist eine Haltung zum Stoff." So bleibe die interessanteste Entdeckung, die hier zu machen sei, die Romanvorlage.

 

Kommentar schreiben