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von Gabi Hift

Berlin, 7. April 2019. Eröffnet wurde das diesjährige FIND Festival für internationale neue Dramatik mit der Projektentwicklung "Danke Deutschland – Cảm ơn nước Đức" von Sanja Mitrović, mit einem Ensemble aus Schauspieler*innen der Schaubühne und deutschvietnamesischen Darsteller*innen. Das Konzept klingt interessant: Nach dem Fall der Mauer waren nicht nur Ost- und Westdeutsche plötzlich wieder vereint, sondern auch zwei "Sorten" in Deutschland lebender Vietnames*innen: die aus dem kapitalistischen Südvietnam Ende der 70er Jahre nach Westdeutschland geflüchteten "Boat people" einerseits, Vertragsarbeiter*innen, die die DDR aus dem kommunistischen Nordvietnam geholt hatte, andererseits. Der Plan war wohl, die Erfahrungen dieser vier Gruppen zueinander in Beziehung zu setzen. Herausgekommen ist aber nur ein Sammelsurium vager Erzählungen, zwischen denen zwei Reenactements von Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte stehen: vom Brandanschlag in Hamburg 1980, bei dem zwei junge Vietnamesen ermordet wurden, und vom Sturm auf das Sonnenblumenhaus in Rostock Lichtenhagen 1992.

DAnkeDeutschland 560 ThomasAurin u"Danke Deutschland!": Mano Thiravong, Mai-Phuong Kollath, Felix Römer, Kay Bartholomäus
Schulze, Khanh Nguyen © Thomas Aurin

Hinten auf der Bühne ist ein zweistöckiges Gerüst aufgebaut, das die jeweilige Unterkunft darstellen soll. Flaschen mit Molotow Cocktail-Attrappen werden geworfen, dann werden Bühne und Zuschauerraum dicht eingenebelt, um den Brand zu simulieren. Es folgt die Verlesung der medizinischen Erklärung des Todes durch Verbrennungen. Ein Tänzer versucht sich am Boden hin- und her schleudernd die Schmerzen zu ertanzen. Das alles wirkt wie eine Aufforderung an die vietnamesischen Darsteller*innen, doch über ihre Ängste und Wunden zu sprechen und zuzugeben, dass dieses "Danke, Deutschland" aus dem Titel nur Zynismus sein kann oder Angst vor Abschiebung. Aus ihren Erzählungen scheint aber eher durch, dass sie auf ihre Contenance und auf ihr Lächeln stolz sind – aber bemerken, dass dies gerade hier am Theater nun nicht gefragt sei, und deshalb aus Höflichkeit bereit sind, die eigene Zurückhaltung zu ironisieren. Natürlich gebietet danach wiederum die Höflichkeit des Publikums, sich für das alles mit langem freundlichen Applaus zu bedanken – aber es bleibt ein merkwürdiger Geschmack zurück.

Raus aus der Opferrolle: "Paisajes para no colorear" (Chile)

Völlig anders geht's dann bei den anderen Expertinnen des Alltags vom Teatro La Re-Sentida (2015 mit "La imaginación del futuro" zu Gast beim FIND) zu, die ebenfalls ein Stück darüber entwickelt haben, was in ihrem Leben gewaltig schief läuft. In "Paisajes para no colorear" rocken neun chilenische Mädchen zwischen 13 und 17 die Bühne. "Hier sind neun, die nicht mehr unsichtbar sein wollen!" schreien sie, "neun, denen man zuhören muss!" Sie singen, tanzen und spielen wie die Weltmeister*innen Szenen aus ihrem Leben: wie eine ihrem Vater endlich die Meinung sagt, der der Mutter ins Gesicht spuckt, wenn er glaubt, sie habe ihn betrogen. Wie eine andere sich mit dem einzigen herumschlagen muss, das weibliche Teenager von ihrem Präsidenten geschenkt kriegen: mit einer lebensechten, dauerbrüllenden Babypuppe, – eine Maßnahme, die Teenagerschwangerschaften verhindern soll. Die Mädchen parodieren die monströsen Nerzträgerinnen der chilenischen "Aktion Leben", die ihnen erklären, wieso Abtreibung auch nach einer Vergewaltigung zu verbieten ist: weil auf die Art etwas Schönes aus etwas Schrecklichem würde, das habe Jesus extra so eingerichtet.

PAISAJES GianmarcoBresadolaNeun, denen man zuhören muss: "Paisajes para no colorear" © Gianmarco Bresadola

Sie richten ein Geburtstagsfest für eine aufblasbare Sexpuppe aus, die nie richtig geliebt wurde, spielen die Szene nach, wie ein Mädchen in der Erziehungsanstalt "fixiert" und dabei erstickt wird, die Sexpuppe erhängt sich und schreibt in ihrem Abschiedsbrief bei ihr "sei einfach die Luft raus gewesen". Aber bei den neun Mädchen ist die Luft noch lange nicht raus. Als das Stück zu Ende ist, springt das gesamte Publikum auf und jubelt ihnen zu: zwanzig Minuten standing ovations. Einen so wüsten Machismo und ein so schreckliches Ausmaß sexualisierter Gewalt haben wir hier bei uns nicht, der Jubel für die mutigen Mädchen ist also wohlfeil – aber er ist auch gut so. Denn diese neun Mädchen werden sich bestimmt nicht mehr den Mund verbieten lassen, wenn sie zurück nach Hause kommen, die haben sich mit dieser Produktion aus der Opferrolle für immer hinauskatapultiert und es macht Freude sie dafür zu feiern.

Theater mit Special Effects: "Arctique" (Belgien)

Arctique 280 christophe engelsUnderground: "Arctique" © Christophe EngelsAnne-Cécile Vandalem mit ihrer Kompanie "Das Fräulein" ist eine der wenigen Theaterschaffenden, die die Erschaffung von Fantasy-Welten nicht dem Film überlassen will. 2017 war ihr "Tristesses" ein Riesenerfolg auf dem FIND Festival, nun ist sie mit "Arctique" zurück. Es ist 2025, wir befinden uns auf einem abgewrackten Kreuzfahrtschiff. Im Ballsaal des ansonsten leeren Schiffs verstecken sich – durch mysteriöse Briefe angelockt – sechs blinde Passagiere, die alle zehn Jahre zuvor bei einem schrecklichen Unglück am selben Ort dabei waren.

Durch eine geniale Videokonstruktion verfolgt man die Figuren in endlose Gänge, düstere Kajüten und hinaus an die Reling. Leider ist der Plot allzu sehr auf die Aufklärung des Krimis fixiert – den wunderbar skurrilen Figuren bleibt zu wenig Zeit für eine Entwicklung, kaum werden sie von Geistern zu Menschen aus Fleisch und Blut, wird ihr Fleisch von einem gigantischen Eisbären gefressen, einem sensationellen, lebensgroßen Ungeheuer, das so echt wirkt wie der Tiger in "Life of Pi" – und das hier ist Theater, kein Film mit Special Effects! Trotz fabelhafter Schauspieler und einer David Lynch Atmosphäre der Extraklasse ist "Arctique" etwas zu "plot driven" geraten und begeistert nicht ganz so wie "Tristesses" – aber das sind Klagen auf einem sehr, sehr hohen Niveau des Unterhaltenseins.

Auf- und Abstieg des sozialen Wohnungsbaus: "Trap Street" (Großbritannien)

Dann gab es am Eröffnungswochenende noch zwei kleine Perlen aus England – beide "very british", unaufgeregt, mit perfektem Storytelling und extrem hohem schauspielerischen Niveau: "Trap Street" von der Gruppe Kandinsky verfolgt die Geschichte eines fiktiven Londoner Wohnblocks von der glorreichen Eröffnung in den 60er Jahren bis zum Abriss 2017. Erzählt wird von der Hoffnung des Anfangs, dem Abstieg, dem Verfall, anhand der Geschichte einer Mutter mit ihren zwei Kindern. Drei hervorragende Schauspieler*innen spielen abwechselnd alle Rollen, ohne sie je zu karikieren. Die Erzählung ist nicht chronologisch, sondern springt zwischen auftauchenden Erinnerungen der Mutter und später der Tochter hin und her – akzentuiert von Zac Gvirtzmans Live-Musik.

Auf der Bühne steht ein funktionaler weißer Kubus mit Tür und Fenstern, ein Bildschirm zeigt die Zeitsprünge an – im Hintergrund, aber sehr prominent, sieht man das, wovon die Mieter wohl träumen: ein prunkvolles Schloss aus dem 18. Jahrhundert. Der Wohnblock heißt "Austen Estate": Die Inszenierung verbindet die Sehnsucht nach schönem Wohnen klug mit der Sehnsucht nach gesellschaftlichem Aufstieg, wie sie schon Jane Austen beschreibt. Eine komplexe soziologische Entwicklung wird transparent, und gleichzeitig berührt einen der Einzelfall – von der Utopie eines neuen, besseren, für alle erschwinglichen Zusammenwohnens direkt nach dem Krieg, die sich als Schimäre erwiesen hat, über den Abstieg des Wohnblocks zur Schutthalde, weil kaum einer der Bewohner sich noch um die Gemeinschaftsräume kümmern wollte, bis hin zum Abriss – in Zeiten der neoliberalen Aushöhlung des Sozialsystems.

TrapStreet 560 GianmarcoBresadola"Trap Street" © Gianmarco Bresadola

Dieses Theater– flott, sachlich, dabei berührend und erstaunlicher Weise auch spannend – fühlt sich auf ganz andere Art politisch an, als wir es hier in Deutschland gewohnt sind: irgendwie erwachsener. Man identifiziert sich nicht mit der Wut der Enteigneten, sondern denkt darüber nach, wie man selbst sich politische Konzepte des sozialen Wohnungsbaus wünschen würde. Nach der Vorstellung entsteht ganz organisch eine Diskussion über das Thema. Wie ungeheuer gut das Ganze gemacht ist, kommt einem kaum zu Bewusstsein, weil das glänzende Handwerk in jedem Augenblick im Dienst der Erzählung steht. Chapeau!

Camp und kühl: "A generous lover" (Großbritannien)

Zum Abschluss des ersten Wochenendes gibt es noch ein Juwel: "A generous lover", ein Solostück der britischen Performancekünstlerin La John Joseph. Es ist eine herzzerreißende, wahre Geschichte: Der langjährige Geliebte von La JJ erkrankt an einer manischen Psychose. Sie nennt ihn "Orpheus", erzählt, wie er sie am Anfang noch mit seiner Grandiosität mitreißt, dann driftet er von ihr weg, muss in die psychiatrische Klinik eingewiesen werden, und die Show erzählt von den sechs Wochen, in denen sie ihn täglich auf der geschlossenen Abteilung besucht.

Generous 280 AttilaKenyeresLa JohnJoseph als "generous lover"
© Attila Kenyeres
Auf der Bühne stehen eine weiße Säule, ein Krankenhausparavent mit gespenstisch aufgemalten Händen und einem Herz auf der Hinterseite und ein Sessel (alles Zitate aus dem Film "Orphee" von Jean Cocteau). La JJ ist gestylt wie eine Filmschauspielerin aus den 40er Jahren (sie erwähnt selbst Katherine Hepburn als Vorbild) und plaudert mit makelloser Diktion und ironischem Understatement. Man sieht vor sich, was sie beschreibt: die Mitpatienten, eine weitere Besucherin, ein Schandmaul vor dem Herrn mit unsäglichem Akzent, die glücklose Zumbatrainerin. Das alles ist gleichzeitig entsetzlich und lustig. La JJ erzählt lakonisch, wie das Pflegepersonal auf sie als Transfrau reagiert, wie ihr Geliebter in der Psychose behauptet, sie habe ihn mit AIDS angesteckt, sie verfolge ihn über die Zeitung, er sei nicht schwul. Dazwischen singt La JJ Lieder, ist herzzerreißend, schonungslos sich selbst gegenüber, und dabei witzig, camp, sentimental und kühl – und es nimmt einem den Atem, wie sie vor den Augen des Publikums fast zerbricht und dabei elegant bleibt.

An diesem ersten Wochenende des diesjährigen FIND Festivals haben ausgerechnet die Eigenproduktionen der Schaubühne enttäuscht (vor "Danke Deutschland" war noch "Abgrund" von Maja Zade zu sehen). Aber dennoch beeindruckt die Schaubühne bei diesem Festival als Organismus. Intendant Thomas Ostermeier setzt seine Arbeit zu der der anderen in Beziehung und kommt mit spürbarer Neugier immer wieder auf seine Weggenossen zurück. Beim FIND Festival liegt der Geist einer gemeinsamen Suche der Künstler*innen in der Luft, und das ist auch für die Besucher*innen sehr anregend und angenehm.

FIND Festival 2019. Die Eröffnung

Danke Deutschland (Cảm ơn nước Đức)
von Sanja Mitrović und Ensemble
Aus dem Englischen von Gerhild Steinbuch
Regie: Sanja Mitrović, Bühne: Élodie Dauguet, Kostüme: Ivana Kličković, Video: Krzysztof Honowski, Musik: Vladimir Pejković, Dramaturgie: Nils Haarmann, Recherche: Angelika Schmidt, Marcus Peter Tesch, Licht: Giacomo Gorini.
Mit: Veronika Bachfischer, Mai-Phuong Kollath, Denis Kuhnert, Khanh Nguyen, Felix Römer, Kay Bartholomäus Schulze, Mano Thiravong, Lukas Turtur.
Dauer: zwei Stunden, keine Pause

Paisajes para no colorear (Santiago de Chile)
von Teatro La Re-Sentida
Regie: Marco Layera, Bühne und Licht: Pablo de la Fuente, Kostüme: Daniel Bagnara, Musik: Tomas Gonzalez, Mitarbeit Dramaturgie: Anita Fuentes, Francisca Ortiz.
Mit: Ignacia Atenas, Sara Becker, Paula Castro, Daniela López, Angelina Miglietta, Matilde Morgado, Constanza Poloni, Rafaela Ramírez, Arwen Vásquez.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

Arctique
Konzept, Text und Regie: Anne-Cécile Vandalem, Bühne: Ruimtevaarders, Dramaturgie: Nils Haarmann, Sarah Seignobosc, Originalmusik und Sounddesign: Pierre Kissling, Sound: Antoine Bourgain, Licht: Enrico Bagnoli, Video, Bildgestaltung und Kamera: Federico D’Ambrosio, Bildregie: Yannick Leroy, Kamera: Léonor Malamatenios, Kostüme: Laurence Hermant, Maske und Spezialeffekte: Sophie Carlier, Requisite: Fabienne Müller.
Mit: Frédéric Dailly, Guy Dermul, Eric Drabs, Véronique Dumont, Philippe Grand’Henry, Epona Guillaume, Zoé Kovacs, Gianni Manente, Jean-Benoit Ugeux, Mélanie Zucconi
Produktion: Das Fräulein (Kompanie), Studio Théâtre National Wallonie-Bruxelles, Koproduktion: Schaubühne Berlin und 13 weitere europäische Theater und Festivals
Dauer: zwei Stunden, keine Pause

Trap Street (London)
von Kandinsky
Regie: James Yeatman, Komposition und Musiker: Zac Gvirtzman, Bühne und Kostüme: Joshua Gadsby, Naomi Kuyck-Cohen, Film: Harry Yeatman, Dramaturgie: Lauren Mooney.
Mit: Amelda Brown, Amalia Vitale, Hamish MacDougall.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

A Generous Lover (London)
von und mit La JohnJoseph
Regie: Alexandra Spencer-Jones
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www. schaubuehne.de
 

 

Hier der Eröffnungsbericht vom FIND Festival 2018.

Hier die Nachtkritik über Anne-Cécile Vandalems "Tristesses" beim FIND Festival 2017.+

Auch das Teatro La Re-Sentida war schon einmal beim FIND zu Gast, 2015 mit "La imaginación del futuro" – hier die Nachtkritik.

 

Kritikenrundschau

Patrick Wildermann schreibt im Berliner Tagesspiegel (online 5.4.2017, 17:50 Uhr): Selten sehe man auf der Bühne so "lebensecht herumtapsende Raubtiere" und ebenso selten bekomme man im Theater "Öko-Horror-Thriller geboten", wie in "Arctique" von Anne-Cécile Vandalem, mit "Live-Kamerateam und einer schrägen Bühnen-Kapelle aus älteren Herren". Die Plot-Twists seien "bisweilen absolut abenteuerlich", aber Vandalems "genresicherer Mix aus grüner Dystopie, absurdem Humor und blutigem Seemannsgarn" unterhalte jedenfalls. Mit "Danke Deutschland" inszeniere Sanja Mitrovic erstmals an der Schaubühne. Sie spüre "verschiedenen biografischen Migrationspfaden" nach. "Boat people" und "Vertragsarbeitern" gemeinsam sei die "vermeintliche Verpflichtung zur Dankbarkeit". Verbunden damit, "nicht aufzufallen und sich nicht zu beklagen". "Erhellende Momente" gebe es "etliche", leider aber gelinge es nicht, die Vielzahl der Erzählstränge zu einem stringenten Ganzen zusammenzuführen.

A.J. Goldmann schreibt auf nytimes.com, der Internet-Plattform der New York Times einen langen Bericht über das FIND-Festival an der Schaubühne (online 11.4. 2019): Über "Danke Deutschland": " In a festival packed with shows that promised to deal with explosive topics, "Danke Deutschland" was one of those that most succeeded in turning hot-button issues into convincing theater".
Über "Paisajes Para No Colorear": "… the best moments occur when the dialogue is dramatized, … Such moments make for more effective theater than the periodic group hugs and freakouts, which, however exhilarating, can feel indulgent and self-congratulatory".
Über "Arctique": "… is quite possibly the best horror-comedy-thriller-soap-opera-musical of the year."
Über "A Generous Lover": "The delivery is both campy — La JohnJoseph’s voice often sounds like Marlene Dietrich doing a Norma Desmond impersonation — and moving.."
Über "Trap Street": "it was not only the highlight of the festival but one of the most ingenious pieces of new theater I have seen recently … a mesmerizing single act combines minimal stagecraft, improvised music and finely chiseled performances to create an anguished cry of moral outrage about neoliberal economic policies, gentrification and the erosion of the social security system."

 

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