Wahn in der Manege

von Andrea Heinz

Wien, 10. April 2019. Die Sache mit den Erbsen. Wenn man zu viele davon isst, ach was, wenn man nichts anderes mehr isst, dann fängt man an zu halluzinieren, verliert die Kontrolle, über seinen Geist, seinen Körper. Georg Büchner, der Arzt, wusste das. Georg Büchner, der Dichter, schrieb ein Drama dazu, einen Fragment gebliebenen Text, der gestochen scharf skizziert, wie "die" Gesellschaft mit "dem" Außenseiter umspringt: Wie Woyzeck, der an Schizophrenie leidende, einfache Soldat, sich für krude medizinische Versuche verdingt und nur noch Erbsen zu sich nimmt, um Geld für seine Geliebte und das uneheliche Kind zu beschaffen. Wie er gedemütigt und missbraucht wird, beobachtet wie ein Tier im Zoo. Wie er immer mehr dem Wahn verfällt und am Ende Marie, die ihn betrügt, ersticht.

In der Dressur

Johan Simons versetzt das im Wiener Akademietheater und in einer Fassung von Koen Tachelet in die Manege. Historische Filmaufzeichnungen von Dressur-Vorstellungen im Cirkus Hagenbeck oder von Seiltänzerinnen flimmern über den rot-weiß gestreiften Zirkusvorhang, den Steven Scharf als Woyzeck langsam, mit clowneskem Gehabe auseinander- und wegreißt.

Dahinter befindet sich die Manege mit rotem (wahrscheinlich erbsengroßem) Streu, auf der schäbigen Tribüne sitzen rundherum die Figuren: Marie (Anna Drexler), die anfangs in einem zu großen Anzug und zu großen Schuhen steckt, der Hauptmann (Daniel Jesch), der daherkommt wie der Grüne Heinrich, der Tambourmajor (Guy Clemens) in nichts weiter als einem über den Bauchnabel gezogenen Trikothöschen. Der Doktor (Falk Rockstroh) ist bis hin zu den Gummistiefeln weiß gekleidet, Martin Vischer trägt als Großmutter / Käthe Schubklammern im Haar und DDR-Tristesse am Leib. Das "Kind" ist ein Drahtgestell mit Füßchen, und wenn man bedenkt, wie seine Eltern es behandeln, ist das auch recht schlüssig. Die Lieblosigkeit hört ja nicht einfach auf, sie setzt sich fort – was das betrifft, ist der Mensch auch nicht viel mehr als eine Maschine.

Woyzeck II 131s 560 Reinhard Werner uVorhang und Erbsenstreu: das Ensemble spielt auf der von Stéphane Laimé entworfenen Bühne im Akademietheater © Reinhard Werner

Von einer "Gedankenbühne" ist in Ingeborg Bachmanns "Malina" einmal die Rede, und genau das ist diese Manege: Bühne für die Wahnvorstellungen Woyzecks. Hier machen die anderen Figuren ihre akrobatischen Tricks, hier turnen sie herum auf den diversen Gerüsten und Gittern, die Woyzeck zuvor schon zerlegt hat. Und zugleich ist das die Manege, in der er selbst seinen Auftritt abzuliefern hat, sich anglotzen, beurteilen, benutzen zu lassen hat. Auch wenn diese Konstellation auf der Bühne schon etwas abgenutzt ist: das geschundene Individuum und drum herum "die" Gesellschaft mit ihren spitzen Zungen, ihren ausgestreckten Fingern – sie ist halt auch zwingend. Und wahr. Wie soll man die Welt denn auch sonst wahrnehmen, als durch die eigenen Augen, mit sich selbst als Mittelpunkt?

Dem Text gibt diese Konstellation ganz neue Facetten und Möglichkeiten, denn auf der Bühne und in der Manege darf nicht nur, es muss sogar gespielt werden. Im Publikum wird viel gelacht, wenn Marie und Woyzeck da durch die Kuriositäten-Schau bummeln und Scharf und Drexler im fliegenden Wechsel die Rollen tauschen, sich als Kuriosität auf den Boden werfen, um im nächsten Moment zum schmierigen Conférencier zu werden.

Woyzeck II 137s 560 Reinhard Werner uOhne Hoffnung, ohne Zukunft: Steven Scharf als Woyzeck mit Anna Drexler als Marie © Reinhard Werner

So wie Anna Drexler sich in ihre Rolle(n) hineinschmeißt, quiekt und jauchzt und maßlos übertreibt, um dann im Zwiegespräch mit Woyzeck wieder ganz leise und klar und wahrhaftig zu werden, kann man sich nur wünschen, dass Martin Kušej sie fest an die Burg holen wird. Steven Scharf als Woyzeck ist sowieso eine Schau: Von einer absoluten, zwingenden körperlichen Präsenz und gleichzeitig so irisierend, immer mit einem Rest, der nicht zu greifen, nicht zu fassen ist.

Der Mord als Albtraum

Bemerkenswert ist auch, wie präzise das Ensemble zusammenspielt, wie jede Figur ihren Raum hat – selbst die Großmutter bzw. Käthe von Martin Vischer, der fast das gesamte Stück nur sitzt, schaut, gestikuliert und, leicht abgedreht anmutend, tonlos die Lippen aufreißt. Aber bei all dem so präsent bleibt, dass der Blick immer wieder zu ihm schweift. So sehr der Fokus auf Woyzeck und Marie liegt, so wenig fallen die anderen Figuren aus dem Bild. Das muss man auch erst einmal schaffen.

Ein paar Momente an diesem Abend sind herausragend. Etwa, wenn Steven Scharf mit Zylinder und Regenschirmchen in den Scheinwerferkegel tritt, als wäre er ein paar Augenblicke wirklich allein auf der Bühne, ganz für sich. Es ist eine albtraumhafte Sequenz, in der er das Messer kauft, mit dem er schließlich Marie ersticht (die in dieser Szene allerdings nicht wirklich sterben, sondern, in seinem Wahn, weiter mit ihm sprechen wird). Hier wird besonders deutlich, was die Qualität dieses Abends, dieses Regie-Zugriffs ist: Er enthüllt die tief sitzende Logik der menschlichen Psyche, die in Wahrheit mit Logik, mit Rationalität am allerwenigsten zu tun hat. Es ist ein Abend, der hängen bleibt.

 

 

Woyzeck
von Georg Büchner. Fassung von Koen Tachelet
Regie: Johan Simons, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Greta Goiris, Licht: Norbert Joachim, Musik: Warre Simons, Video: Lennart Laberenz, Dramaturgie: Koen Tachelet, Rita Czapka.
Mit: Steven Scharf, Anna Drexler, Falk Rockstroh, Guy Clemens, Daniel Jesch, Martin Vischer.
Premiere am 10. April 2019
Dauer: 1 Stunden 40 Minuten, keine Pause

Koproduktion mit dem Schauspielhaus Bochum

www.burgtheater.at
www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

Ein "körpersprachliches Wunderwerk" sah Margarete Affenzeller im Standard (11.4.2019): Bis zur Hälfte herrsche ein "fantastischer Flow", der danach leider absacke. Denn bleibe "Woyzeck" ein "beeindruckender Abend": "Eine Lesart wie diese, die die Figuren nicht niederdrückt, sondern inmitten ihrer schwierigen Existenz erstrahlen lässt, ist ungewöhnlich und erhebend."

Johan Simons "interessiert sich weniger für Woyzeck als sozialen Außenseiter, sein Wiener Woyzeck ist labil, weil er an seinem Wissen um die Erbärmlichkeit der menschlichen Existenz angesichts der Unendlichkeit leidet", berichtet Christoph Leibold im Deutschlandfunk Kultur (11.4.2019). Die erste halbe Stunde sei "voll von albernen, aber leider nicht wirklich komischen Zirkusnummern"; danach "weicht die ausgestellte Komik einer ebenso ausgestellten Bedeutungsschwere und werden aus den circensischen Spaßmachern Existenzclowns aus dem Geiste Becketts." Steven Scharf in der Titelpartie verschleppe zunehmend das Tempo: "So ist viel zu früh die Luft raus aus dieser Inszenierung und man fragt sie zunehmend: Wozu der ganze Zirkus?"

"Wer die in Büchners Dramenfragment vorhandenen historisch-philosophischen Zusammenhänge sucht, wird in dieser Inszenierung kaum fündig, doch scheint das von Simons und Dramaturg Koen Tachelet geradezu gewollt", bemerkt Christina Vogler auf ORF.at (11.4.2019). Bekannte Zitate fänden ihren Platz, auf Komplexität aber werde verzichtet. Stattdessen setze man auf eine direkte Beziehung zwischen Publikum und Bühne. Lobenswert findet die ORF-Kriikerin die Schauspieler*innen: Scharf und Drexler überzeugten mit ihrer unverkennbaren Sprachmelodie und Mimik und bildeten "verstörend humorvoll“ die menschlichen Abgründe ab.

Simons "lässt sein Ensemble mit großem körperlichem Einsatz um den Text herumspielen und will weder von der Seele noch von der Gesellschaft etwas wissen", schreibt Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (12.4.2019). Dem Regisseur gehe es um das reine Spiel, er mache aus Büchners Figuren eine Gauklertruppe. Die Inszenierung habe vielleicht ein bisschen zu viel von Fellini geträumt – und doch sieht Strauss das "Geheimnis des Stückes" bewahrt, nämlich von dem "phantastischen Schauspielerpaar Steven Scharf und Anna Drexler".

Mit einem "außerordentlichen Blick tief hinein in die inneren Schichten des Dramas um den vielfach gedemütigten Underdog" beglücke Simons Wien, bemerkt Bernadette Lietzow in der Tiroler Tageszeitung (12.4.2019). "Clemens’ zwischen eitler Vermessenheit und Lächerlichkeit angesiedelter Verführer überzeugt ebenso wie Anna Drexlers Marie. Sie ist virtuose Clownin, zappelt, grimassiert", und die Kritikerin jubelt: "Ein Ereignis ist der gesamte Abend!"

Zum dritten Mal inszeniere Simons den "Woyzeck" – und lasse sich dabei Zeit, schreibt Petra Paterno in der Wiener Zeitung (11.4.2019). "Die 100-minütige Aufführung in Wien bietet keine spannungsgeladenen Höhepunkte, kommt ohne die üblichen Figurenentwicklungen aus, wirkt der überaus künstlich gesetzten Sprachführung wegen sogar ziemlich spröd und streng", findet sie. "In seiner Konzentration und Intensität jedoch ist 'Woyzeck' ein Abend von einer Wucht, wie man sie am Gegenwartstheater selten zu sehen bekommt."

Wolfgang Kralicek schreibt in der Süddeutschen Zeitung (13.4.2019): Simons präsentiere das "fiebrige Fragment als Zirkusprogramm". Die Hauptattraktion im "Zirkus Woyzeck": Steven Scharf, "44. Mal" zeige er "verschiedene Facetten einer Rolle", weit entfernt vom "passiven Opfer gesellschaftlicher Drangsalierung". Eine "anmutige Mischung aus Neugier und Zerstörungslust" bestimme den Verlauf des Abends. Scharfs Woyzeck sei "mehr Melancholiker als Schmerzensmann; eine verhuschte Traumgestalt", in dieser "außergewöhnlichen Inszenierung", stelle Scharf eine "besonders staunenswerte Kuriosität dar: den Menschen".

Norbert Mayer schreibt in der Wiener Presse (11.4.2019): Johan Simons biete eine "abwechslungsreiche, punktuell subtile, in einigen Phasen auch etwas ratlos wirkende Show". Stars seien Woyzeck und seine Marie. Scharf spiele den "verrückt gewordenen Täter, der zugleich ein Opfer ist", mit "beängstigender Präzision". Anna Drexler sei "sensationell als lustige Person" Dieser "Woyzeck" sei zur "Kenntlichkeit verfremdet", zum "Erbarmen entstellt". Seht, welch ein Mensch!" Man glaubt in eine "alte, absurde, christliche Passionsgeschichte geraten zu sein".

 

Kommentare  
Woyzeck, Wien: die Verhältnisse
Anfrage:
Gibt es indessen neue Forschungsergebnisse oder sind "unterdrückte" Bogen aufgetaucht: Mir ist neu, dass der Mediziner Büchner den Woyzeck von Anfang an als Kranken, als Schizophrenen geschrieben hat. (Ich denke auch immer noch: Geisteskranke gehören in eine Klinik und nicht auf die Bühne.) Ich war und bin noch immer der Meinung, die Figur verliert ihre "Bewusstheit über sich selber" durch das soziale und politische Umfeld und mordet sein Liebstes.
Und darüber kann nun wirklich ein Mensch "verrückt" werden.
Aber das darzustellen, halten die Theater anscheinend immer mehr für überflüssig, weil die Verhältnisse sind halt so -
und wir wollen sie auch nicht ändern.
Ich finde das sehr ärgerlich.
Peter Ibrik
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