Kontrafaktur des Schreckens

von Gerhard Preußer

Köln, 12. April 2019. "Es ist an der Zeit, die Welt der Zivilisierten und ihr Licht aufzugeben." Auf Englisch bekommt man diesen Satz des Franzosen Georges Bataille von 1936 vorab serviert. Das ist’s, was die Inszenierung zeigen will, Menschen jenseits der Zivilisation. Als dunklen, schönen Schrecken, wie die Kunst es soll.

Alles in eins

Hans Henny Jahnns "Medea"-Version von 1924 lädt die alte Geschichte vom Kindermord der fremdländischen Zauberin Medea auf mit einer polymorphen Sexualität. In der von Robert Borgmanns Inszenierung nun in Köln verwendeten Fassung letzter Hand von 1959 sind die inzestuösen Verweise abgemildert (aus "des Vaters Bettgenosse" wird "des Vaters Freund"). Hier wird alles geliebt: Jahnn will "in eins vereinen Geilheit und Erlösung und Tier und Mensch und Mann und Weib und was mich sonst erregt."

Medea 1 560 JU u Melanie Kretschmann als Medea und Astrid Meyerfeldt als Jason  ©  JU Nach der englisch vorgetragenen Interpretationsanweisung sieht man noch eine weitere Verständnishilfe. Eine Frau sitzt mit zwei Kindern am Tisch, vergiftet sie offensichtlich und schleppt die Leichen in eine große Tiefkühltruhe: Medea heute, kurzgefasst. Aus dem weißen Sarg erstehen dann sogleich die beiden Söhne Medeas (Marek Harloff, Kristin Steffen) wieder auf. Denn das ist die wesentliche Zutat Jahnns zur jahrtausendelangen Überschreibung des Medea-Stoffs: Die beiden Söhne Medeas haben ganz eigene Probleme des Erwachsenwerdens. Bei Jahnn will der ältere Knabe Kreusa, die Tochter Kreons, heiraten, bevor sein Vater ihm zuvorkommt.

Bilder bieten dem Text Paroli 

Die Bühne wird überwölbt von einer Lichtbrücke, einem Himmelsgewölbe aus Leuchtstoffröhren, das sich mal senkt, mal hebt (Bühne ebenfalls von Robert Borgmann). Die Tragödie der Kinder und Enkel des Sonnengottes Helios erhält so eine kosmische Dimension. Dagegen ist das Häuflein Erde klein, das vorne an der Rampe aufgeschüttet ist. Dahinein steckt Jason sein Schwert. Doch dieser ewig junge Jason ist eine drahtige Frau mittleren Alters (Astrid Meyerfeldt). Das ist nicht der stumpfe Schönling, den man kennt. Er ist ein zappeliger Zwerg, seine Repliken mit wilden Gesten bekräftigend, mit dem typisch röhrenden Ton der Castorfschen Berliner Volksbühne.

Zwar schleppt sich Medea (Melanie Kretschmann) zunächst kriechend herein im schwarzen Staatstrauerkleid, später dann aber im Streitgespräch mit Jason tragen beide Partner schlichte Alltagsjeans: ein Scheidungskrieg von heute zwischen zwei Frauen, bei dem man auch schon mal ein Bier aus derselben Flasche trinkt. König Kreon (Max Mayer) kommt dazu als ein eitler Popanz, der eine lächerliche Superkrone trägt, ein Goldgeweih, das viel zu hoch sich auf dem Kopf ihm türmt. Und noch seltsamer ist die Amme (Sophia Burtscher), eine Frau mit zwei Gesichtern: spricht sie nach vorne, blickt noch eine starre Maskenhälfte nach links und eine nach rechts. Als berufliches Erkennungsmerkmal hat sie der Brüste fünf. Und Medeas vergiftetes Brautgeschenk für Kreusa ist eine Skulptur aus riesigen Spinnenbeinen.

Medea 2 560 JU u Melanie Kretschmann, Maximilian Mayer als Kreon und Sophia Burtscher als Amme  ©  JU

So sucht die Inszenierung bizarre Bilder, um dem rhythmisierten Text, dem Jahnn-Jargon, gemischt aus hölderlinschem Antikenduktus und expressionistischen Pathosformeln, optisches Paroli zu bieten.

Auf heiligem Weg

Höhepunkt dieser bildlichen Kontrafaktur ist die Überbringung der Nachricht von Medeas Verbannung. Sieben Frauen bringen in weihevoller Langsamkeit Fichtenzweige auf die Bühne, und legen daraus einen Weg quer über die Bühne. Ein Umbau von minutenlanger sakraler Feierlichkeit zu Klängen schwirrender Tremoli. Auf diesem heiligen Weg schreitet Medea und jedes Knirschen ihrer Füße auf den spitzen Nadeln wird mit einem Mikrophon verstärkt. Dann erst kommt der geblendete Bote Kreons mit der Abschiebungsverfügung. Über eine Aktualisierung der dem Stück inhärenten Thematik von Flüchtlingen und Fremden (Kreon: "Ausländer mag ich nicht.") macht sich die Inszenierung keine sichtbaren Gedanken. Medea ist keine Spur von schwarz.

Nach der Pause arbeitet die Inszenierung vor allem mit Projektionen auf eine Gazewand: immer wieder die Mutter mit ihren zwei Kindern. Der künstliche Lichterhimmel ist eingestürzt und liegt nun quer auf der Bühne, davor zeigt uns eine Tänzerin (Claudia Ortiz Arraiza) Medeas verzweifeltes Gefühl, non-verbal. Der Kindermord wird gar nicht, auch nicht im Bericht, in Worte gefasst. Nur Tanz und ein knarzender tiefer Klang. Zwei Kinder rennen über die Bühne. Dann nur noch die Schlusssentenzen: "Gebrochne Augen, gebrochne Münder, zwecklose Leiber. Wir haben’s reichlich."

Die Grenze zwischen schönem Schrecken und schlechten Schlaf ist hier fließend. Zu sehr zerdehnt die Inszenierung das Stück. Die Faszination der Borgmannschen Rätselbilder, der Sog von Tarkowskischer Trägheit ist zu schwach, um Hans Henny Jahnns bei aller Wildheit doch in Form gepresste Sprache zu entfesseln.

 

Medea
von Hans Henny Jahnn
Regie und Bühne: Robert Borgmann, Kostüme: Bettina Werner, Musik: Robert Borgmann, Tom Müller, Licht / Video: Carsten Rüger, Tanz / Choreographie: Claudia Ortiz Arraiza, Dramaturgie: Julian Pörksen.
Mit: Melanie Kretschmann, Astrid Meyerfeldt, Marek Harloff, Kristin Steffen, Sophia Burtscher, Maximilian Mayer, Claudia Ortiz Arraiza, Erik Ameling, Ole Ameling, Robin Bachmann, Leonardo Jakusho.
Premiere am 12. April 2019
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.schauspiel.koeln

 

 Mehr dazu: Medea wird gerne und in vielerlei Gestalt gespielt. Als Medea² in Osnabrück, zusammen mit dem Teatro Avenida aus Mosambik im Februar 2018, in der Version von Christa Wolf als Medea. Stimmen am Deutschen Theater Berlin im April 2018, im selben Monat zeigten Kate Mulvany und Anne-Louise Sarks ihre Euripides-Überschreibung am Theater Basel, eine Roma-Medea gab es im September 2018 im Berliner Aufbau-Haus, die Geschichte von Medea und Jason parodierte Jette Steckel frei nach Grillparzer im Thalia Theater Hamburg im Oktober 2018 und Simon Stones Überschreibung der Medea erschien am Burgtheater Wien im Dezember 2018.

 

Kritikenrundschau

"Die Verbindung mit dem wuchtig-blutigen Mythos – so eindrucksvoll er auch von Licht, Musik und Projektionen evoziert wird – sie will an diesem Abend nie so recht gelungen", schreibt Christian Bos im Kölner Stadtanzeiger (15.4.2019). Aus dem "strammen Kunstkorsett" des Abends ragten nur einige Schauspieler heraus wie Astrid Meyerfeldts Jason. Nicht aber die Medea der Melanie Kretschmann, die vom Regiekonzept verschluckt werde.

 Gewiss gelängen Borgmann große Bilder mit seiner "Verfremdungsmaschine", findet Hartmut Wilmes in der Kölnischen Rundschau (15.4.2019). Allerdings verfehle er den archaischen Glutkern des Stücks. Kretschmann sei eine starke, beherrschte Medea, die den Schmerz der Figur spürbar mache. Doch die Inszenierung rücke sie eher an den Rand des horrenden Massakers.

Cornelia Fiedler von der Süddeutschen Zeitung (26.4.2019) entdeckt "eine beeindruckende, spleenige Welt zwischen Sage und Science-Fiction". Borgmann zeige "nahbare Figuren, die verzweifelt nach Liebe suchen, sich dabei aber nur gegenseitig verletzen".

 

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