Die Kreuzigung der bärtigen Jungfrau

Krakau, September 2008. Derzeit blüht das Theater in Regionen abseits der polnischen Metroplen auf. Eine nachdenkliche Reise durch die sogenannte Provinz.

von Anna R. Burzyńska

Krakau, September 2008. Wie in Deutschland, gleichen Theaterlaufbahnen auch in Polen dem Erklimmen einer Leiter. Die Sprossenfolge markiert eine historisch gewachsene Theaterhierarchie, an deren Spitze Warschau mit dem Teatr Narodowy und an zweiter Stelle Krakau mit dem Stary Teatr, das heißt die ältesten, noch vor dem Verlust der Eigenstaatlichkeit im 18. Jahrhundert gegründeten Bühnen Polens stehen. Dahinter rangieren mit Wrocław, Poznań, Gdańsk, Łódź und Szczecin Regionalzentren, deren Theater im 19. Jahrhundert als deutsch- oder russischsprachige Bühnen entstanden. Und dann folgt der große Rest, die sogenannte Provinz, wo die Theater meist erst im sozialistischen Polen gegründet wurden.

Diese Rangfolge scheint unverrückbar, obwohl in den letzten Jahren in Wałbrzych, Opole, Legnica oder Bydgoszcz besseres Theater gemacht wird als etwa in Łódź. Es ist demnach nicht das künstlerische Niveau, das die Provinz zur Provinz macht. Kriterien sind vielmehr die Bühnendichte (eine Stadt wie Katowice gilt mit 300.000 Einwohnern aber nur einer Schauspielbühne als Provinz) und vor allem die Finanzausstattung der Häuser.

Am besten sind das Teatr Narodowy und das Stary Teatr als staatlich finanzierte Nationalbühnen ausgestattet. Die Mehrzahl der kleineren Häuser untersteht jedoch Wojewodschafts- oder Stadtbehörden, die oft nach Gutsherrenart über Finanzierung und Personalia entscheiden. Langfristige Vereinbarungen, die kontinuierliches Arbeiten ermöglichen würden, sind selten.

Übergriffe der Politik

Intendanten können in Polen von einem Tag auf den anderen entlassen werden, etwa wegen Misswirtschaft, wenn eine aufwendige Premiere Lücken ins Budget reißt. Entsprechende Vorwürfe gab es kürzlich gegen den Direktor des Teatr Polski in Wrocław, Krzysztof Mieszkowski, den allerdings Kritiker und Künstler mit Verweis auf das ambitionierte Programm und die Vielzahl an Premieren in Schutz nahmen. In Rzeszów ersetzte der von der rechtsnationalen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) dominierte Wojewodschaftsrat ohne Begründung den langjährigen Direktor Zbigniew Rybka durch den völlig unerfahrenen Przemysław Tejkowski, der zuvor einen Werbespot für die PiS gedreht hatte.

Abseits der Metropolen greift die Politik gelegentlich auch direkt in die künstlerische Arbeit ein. Signifikantes Beispiel war vor zwei Jahren der Fall der freien Gruppe Teatr Wierszalin. Ihre Arbeit "Wilgefortis Opfer" basiert auf einem apokryphen mittelalterlichen Text über ein Mädchen, das der Zwangsverheiratung mit einem Heiden entgehen will und Christus um Hilfe bittet. Es wird erhört, ihm wächst ein Bart, woraufhin der wütende Vater es kreuzigen lässt. Das Plakat zur Inszenierung zeigte eine halbnackte Frau am Kreuz, was ein der extrem rechten Liga Polnischer Familien (LPR) angehörendes Ratsmitglied der Stadt Białystok zu einer Klage wegen Verletzung religiöser Gefühle veranlasste. Die Klage wurde zwar abgewiesen, doch blockierten die lokalen Behörden fortan die Auszahlung von Fördermitteln, die das Kulturministerium der Gruppe für ihre international vielfach ausgezeichnete Arbeit zuerkannt hatte.

Anders als in Warschau oder Krakau müssen die Theater in einstigen Bergbau- und Industriestädten wie Legnica oder Wałbrzych, die heute unter hoher Arbeitslosigkeit und Armut leiden, um jeden einzelnen Zuschauer kämpfen. Dafür gibt es in diesen Städten ein deutlich kleineres Unterhaltungsangebot, was es wiederum erleichtert, einmal gewonnene Zuschauer über Theaterclubs oder Freundeskreise zu binden. Diesem Zweck dienen auch Kooperationen mit Schulen oder – in größeren Städten wie Opole oder Toruń – Hochschulen.

Stars erschweren die Arbeit

Oft klagen kleinere Theater, dass ihnen große Namen fehlen. Übersehen wird dabei, dass Stars und vermeintliche Publikumsmagneten nicht selten die Arbeit an den großen Häusern erschweren, weil ihnen Kino und Fernsehen, die deutlich mehr Geld und Publikumszuspruch verheißen, wichtiger sind als das Theater. So musste in einigen Vorstellungen von Wyspiańskis "Befreiung" am Stary Teatr der Regisseur Mikołaj Grabowski für einen Hauptdarsteller einspringen, der unangekündigt auf PR-Tour für seine aktuelle Kinokomödie gegangen war.

Am Teatr Narodowy brach Jerzy Jarocki vor einigen Jahren die Proben zu Witkacys "Schustern" ab, weil es unmöglich war, die in verschiedenen Fernsehproduktionen involvierten Schauspieler zu Ensembleproben zusammenzubringen. Und wiederum am Stary Teatr, das sich inzwischen für junge Regisseure geöffnet hat, verweigerten noch vor zwei Jahren die Stars des Hauses reihenweise die Zusammenarbeit mit Nachwuchsregisseuren wie Jan Klata ("Die drei Stigmata des Palmer Eldritch" nach Philip K. Dick) oder Maja Kleczewska ("Sommernachtstraum").

An kleinen Bühnen mit stabilen, eingespielten und ganz der Theaterarbeit verschriebenen Ensembles ist das Arbeitsethos dagegen meist besser und der Widerstand gegen experimentelle Projekte geringer. Das liegt am Mangel an alternativen Verdienstmöglichkeiten, aber auch daran, dass ambitionierte Inszenierungen junger Regisseure Schauspielern wie Theatern Perspektiven eröffnen – auf die Aufmerksamkeit der Großkritik, auf die Teilnahme an Wettbewerben und Festivals und damit auf größere Popularität und zusätzliche Mittel.

Orientierungssuche im Provinz-Supermarkt

In den letzten Jahren sorgten daher immer wieder junge, mutige Intendanten mit Provinzbühnen landesweit für Furore. Neben dem Paradebeispiel Wałbrzych, wo Piotr Kruszczyński das Stadttheater mit einem ästhetisch ambitionierten, aber dennoch am örtlichen Publikum orientierten Profil aus der Vergessenheit holte, wären hier die – ebenfalls in Schlesien gelegenen – Häuser in Opole und Jelenia Góra zu nennen.

Auch das von Jacek Głomb geleitete Theater Legnica ließ von den lokalen Lebensbedingungen inspirieren. Der junge Dramatiker und Regisseur Paweł Wojcieszek inszenierte hier seine Stücke "Made in Poland" und "Personal Jesus", die von der Suche junger Menschen nach Orientierung in einer desorientierten Gesellschaft handeln; Spielort für "Made in Poland" war ein leerstehender Supermarkt in einer Plattenbausiedlung. Und mit der "Ballade von Zakaczaw" und Robert Urbańskis "Auf- und Untergänge einer Stadt" brachte Głomb die Geschichte der Stadt selbst auf die Bühne.

In Opole inszenierte unter Bartosz Zaczykiewiczs Leitung Marek Fiedor dagegen Jarosław Iwaszkiewiczs "Mutter Johanna von den Engeln" als scharfe Abrechnung mit der polnischen Religiösität, während Paweł Passini eine ritualhaften "Iphigenie in Aulis" erarbeitete.

Experimente an der Peripherie

Das Theater in Jelenia Góra, wo in den 1970er Jahre der junge Krystian Lupa experimentierte, ist jetzt das jüngste Beispiel für die Wiederbelebung einer Provinzbühne. Das von Wojciech Klemm, einem ehemaligen Castorf-Mitarbeiter, geleitete Haus ist in eine Reihe deutsch-polnisch-tschechische Projekte involviert und blickt daher eher nach Berlin und Prag als nach Warschau. Hier entsteht ein innovatives politisches Theater, das auf Uraufführungen und zeitgenössische Klassikerinterpretationen setzt. Zu den bisher interessantesten Arbeiten gehörten Michał Zadaras halb improvisierte metatheatralische Fassung von Martin Bubers "Gog und Magog" und Natalia Korczakowskas Inszenierung von Małgorzata Sikorska-Miszczuks kontroversem Stück über die Baader-Meinhoff-Gruppe, "Der Tod des Eichhörnchenmenschen".

Doch nicht nur in Schlesien tut sich etwas. In Olsztyn, einer Stadt im Nordosten Polens, die Kooperationen mit Theatern anderen Ostseeanrainer pflegt, lässt der Filmregisseur Janusz Kijowski junge, noch unbekannte Regisseure mit oft kontroversen Inszenierungen von Stücken Georg Büchners, Frank Wedekinds oder Elfriede Jelineks debütieren und im zentralpolnischen Bydgoszcz arbeiten die aus Poznań gekommenen Provokateure Paweł Łysak und Paweł Wodziński, unter deren Leitung Wiktor Rubin (eine postdramatische Variation von Wedekinds "Frühlings Erwachen"), Grażyna Kania (eine asketische Inszenierung von Torsten Buchsteiners "Nordost") und andere inszenieren.

Die Gesetze der Hierarchie

Ob allerdings das Aufblühen der Provinz von Dauer sein wird, ist fraglich. Die Gesetze des hierarchischen Denkens führen dazu, dass Intendanten und Künstler, die sich an kleinen Häusern einen Namen machen, bald die Leiter hinaufklettern und von großen Theatern abgeworben werden. Während abwandernde Schauspieler meist durch jüngere und manchmal talentiertere ersetzt werden können und Regisseure oft gerne an den Ort ihrer Anfänge zurückkehren, sind gute und erfolgreiche Intendanten meist schwerer zu ersetzen.

Derzeit verfolgt man gespannt, was die Nachfolger von Piotr Kruszczyński in Wałbrzych und Bartosz Zaczykiewicz in Opole, Sebastian Majewski und Tomasz Konin, zu leisten vermögen. Ihre Aufgabe ist nicht leicht, und die Erwartungen sind hoch. Unter anderem von ihnen hängt es ab, wofür das Wort 'Provinz' in Zukunft steht: Für Banalität und inhaltliche wie künstlerische Bedeutungslosigkeit oder für frisches, inspirierendes, vielleicht sogar revolutionäres Theater.

 

Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann

 

Anna R. Burzyńska
geboren 1979, Redakteurin der Theatermonatsschrift "Didaskalia", Theaterkritikerin des "Tygodnik Powszechny". Doktorandin der Theaterwissenschaften an der Krakauer Jagiellonen-Universität. Buchpublikationen: "Mechanika cudu" (Die Mechanik des Wunders, 2005 – über metatheatralische Konstruktionen im polnischen Avantgardedrama) und "The Classics and the Troublemakers" (2008 – Porträts zeitgenössischer polnischer Regisseure)


Alle Theaterbriefe finden Sie unter gemein & nützlich, Unterabteilung Theaterbriefe.