Der Kanon? Die Kanon? No Kanon!

von Michael Wolf

24. April 2019. Auf der Bühne haben sie zerfledderte Reclamhefte aufgebahrt. Requisiteure legen Blumenkränze vor ihnen nieder. Ihr süßer Duft klebt im Raum. Die Inspizientin läutet ein Glöckchen und der Intendant, gefolgt von pausbäckigen Hospitanten, zieht an den Klassikern vorbei und liest mit belegter Stimme die Titel vor. Mit jedem Namen blasen Bühnentechniker dichte Schwalle von Nebel über die Szene. Und – Horcht! – im Parkett schmettern die Dramaturgen ihr Glaubensbekenntnis.

"Kleist" – "So aktuell wie noch nie!"
"Goethe" – "Gerade jetzt!"
"Büchner" – "Er war damals schon gegen den Neoliberalismus!"

So stelle ich mir Spielplanpräsentationen vor, die gerade wieder allerorten stattfinden. Die FAZ probiert parallel dazu, in einer groß angelegten Spielplanreihe die verborgenen Winkel der Archive auszuleuchten. Ob die Wiederauferstehung gelingt, da habe ich meine Zweifel. Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann wäre es eine Spielzeit ganz ohne all die Toten und Totgespielten. Wir brauchen unseren Kanon nicht mehr. Schiller hat seine Schuldigkeit getan. Er kann gehen! Und mit ihm Lessing und Hofmannsthal und wie sie alle mal hießen.

Die Posterboys des Bürgertums

Sie hatten ihre Zeit, hingen als Posterboys in den Salons herum. Damals im 19. Jahrhundert, als das Bürgertum gemeinsamen Gesprächsstoff suchte, um sich vom Adel und vom Pöbel abzugrenzen. Die Salons aber sind längst verwaist. Es gibt sie nicht mehr: diese eine soziale Gruppe, die kulturell den Ton angibt. Oder wenn doch, dann sitzt sie im Silicon Valley und nicht im Parkett.

kolumne wolfDas Theater ist Museum, Text-Friedhof. Heimlich verscharren sie hier den Anspruch, an diesem Ort mit dem Fremden, dem Anderen, dem Neuen konfrontiert zu werden. Für den Kanon spricht nur das Bedürfnis nach Orientierung. Kein sehr heutiges Argument. Wer nach Orientierung sucht, sollte besser mündig werden und herausfinden, was ihn selbst in seiner Zeit weiterbringt, anstatt immer nur zu lesen und zu denken, was andere ihm vor Jahrhunderten zu denken gaben.

Nur noch künstlich (statt künstlerisch) hält das Theater seine Klassiker am Leben. Es ist ein offenes Geheimnis, dass sie vor allem die Auslastung sichern. Zuschauer kaufen lieber eine Karte, wenn sie in etwa einschätzen können, was sie bekommen. Schulklassen müssen auch bedient werden. Dieser Logik folgend, ist es gleichgültig, ob man nun Goethe oder "Fack ju Göhte" spielt. Die Betriebswirtschaft hält die Welt im Innersten zusammen.

Wer profitiert? Die Regisseure. Es ist prestigeträchtiger, sich an einem kanonischen Stück abzuarbeiten als einen zeitgenössischen Autor uraufzuführen. Die Regie spielt über Bande. Durch ihren Zugriff auf den Klassiker reagiert sie auf das Heute. Das Problem: In der Redaktion haben wir schon vor Jahren festgestellt, dass bei unseren Lesern die Kenntnis von Stücken jenseits des Kalibers von Romeo und Julia nicht vorausgesetzt werden darf. Ein Großteil des Publikums kann die Interpretation der Regie also nicht identifizieren, weil es die Original-Texte und die Rezeptionsgeschichte gar nicht kennt. So bleibt selbst die wütendste Klassiker-Zertrümmerung verlorene Liebesmüh.

Ohne Umweg durch die Jahrhunderte

Man muss darüber nicht traurig sein. Text stellt schon seit Jahrzehnten nur noch ein Element unter vielen einer Aufführung dar. Einige der streitbarsten Arbeiten der letzten Jahre wenden sich der installativen Kunst, der Performance oder der politischen Aktion zu. Das Theater hat – gerade wenn wir uns fragen: Ist das hier noch Theater? – durchaus interessante Antworten auf die Gegenwart. Und zwar gerade weil sie nicht über einen Umweg durch die Jahrhunderte formuliert werden.

Wie weit dieser Weg ist und wie leise, wie brüchig, kaum hörbar unser Kanon nach der Reise nur noch zu uns spricht, erkennt man an den Programmen von Simon Stone oder der sogenannten Basler Dramaturgie. Hier werden kanonische Stücke als Neudichtungen in die Jetzt-Zeit gerettet. Offenbar scheint die Frischekur den Autoren nötig, im Original erscheinen ihnen die Klassiker nicht vorzeigbar. Warum aber diese enorme Energie zur Konservierung oder Aufhübschung des Vergangenen aufbringen? Warum schreiben sie nicht ganze eigene, neue Stücke? Ich würde so gern etwas Originäres, etwas Originelles von ihnen, und nur von ihnen lesen.

Die Sparprogramme in den Studios

Und auch von den Heerscharen ebenso ehrgeiziger wie unterbeschäftigter Autoren. Die meisten Intendanten lassen sie links in den Studios liegen. Schon gewohnt an die Missachtung halten junge Dramatiker ihr Personal überschaubar. 2 Damen, 2 Herren maximal, mehr ist ja eh nicht drin. Es ist ihnen klar, dass sie nie auf großen Bühnen gespielt werden. So egal erscheint vor allem etablierten Regisseuren die zeitgenössische Dramatik, es kommen nicht mal mehr Klagen auf über die – zugegeben oft defensiven bis verkopften – Texte. Wenn wir aber unsere Autoren klein halten, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass sie unter ihrem Niveau verharren. Spielt sie! Auf großen Bühnen! Lasst sie schreiben! Lasst sie scheitern!

Und man möge nicht gleich den nächsten Fehler begehen und den Kanon zu ergänzen oder zu ersetzen versuchen. Es stimmt, was die FAZ von konservativer und Sibylle Berg von feministischer Seite beklagen: dass der Kanon unvollständig und ignorant ist, dass er kaum Frauen enthält. Aber nicht die Namen auf der Liste sind das Problem, sondern die Liste selbst. Es kann nur Gestriges auf einer solchen stehen. Wir aber sollten dem Jetzt eine Chance geben. Hören wir auf mit der Verwaltung der Vergangenheit und erkunden wir endlich die Gegenwart.

 

Michael Wolf, Jahrgang 1988, ist Redakteur bei nachtkritik.de. Er mag Theater am liebsten, wenn es schön ist. Es muss nicht auch noch wahr und gut sein.

 

Zuletzt distanzierte sich Michael Wolf von moralisierender Symbolpolitik im Theater.

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Kommentare  
Kolumne Wolf: das Jetzt ist überbewertet
Das JETZT ist eine vollkommen überbewertete Illusion!!
Das JETZT hämmert sich uns aus allen Kanälen in's Hirn, ist also wahrlich nicht im Abseits.
Das JETZT ist doch nur aus dem Gestern heraus zu begreifen...w
Kolumne Wolf: zeitkritisch denken
Es ist notwendig, wenn gedacht wird, a u c h zu denken, was andere Jahrhunderte vor einem zu denken gaben. Denken ist keine Zeit-Einbahnstraße. Ohne das komplexe Vorgedachte stets mit zu bedenken nur zu denken, was einem heute tagtäglich (heute haben wir zum Frühstück die schöne neue Debatte hashtagsoundso, diskursivieren sie sich!...) zu denken gegeben wird, schafft das Denken als solches ab. :Das Hirn als Konsum-Idiot(m) - Erziehung zum Nicht-Denken. Gut, wer's mag...
Das ist ja das 'Regie-Problem von u.a. Stone: er kann ja nichts originäres literarisch schreiben, da müsste er aufbauend aus sich und seiner Erfahrung schöpfen. Die kann aber Literatur nur durch Banal-Sprech zertrümmern und nicht aufbauen. Das kann nur am Kanon funktionieren. Und rächt sich natürlich: Kleist, Ibsen und Co. lassen sich solche Sachen nicht endlos gefallen, sondern schlagen aus dem Off zurück. Sie waren nämlich sehr gute und sehr zeitkritische Denker. Das genau war der Background ihres literarischen Schaffens. Wenn man dem heute begegnen will - und standhalten - muss man selbst mit sehr gutem zeitkritischen Denken Literatur schaffen und nicht klassikregressive Regie machen. -
Es ist ja versucht worden, diese innige AutorInnen-RegiesseurInnen-Verbindungen mit dramaturgischem Willen zu installieren. Ulrich Khuon hat an seinen Häusern seit Jahrzehnten solches getan. Der Witz ist: das lässt sich nicht verordnen. Es wirkt zerstörerisch, wenn das mit dramaturgischem Willen etabliert werden soll. Mal mehr für die Dramatik als hybride Literaturgattung zerstörerisch und mal mehr für die Regie/Schauspielkunst. Das muss sich von alleine zusammenfinden. Im Betrieb oder auch außerhalb des Betriebes, aber aus eigenem Antrieb. Und nur dann kann das etwas verändern. Und das größte zeitgenössische Problem ist: Der Betrieb ahnt das. Und er lässt das "oder auch außerhalb" eines Zusammenfindens von Dramentext und Regie deshalb nicht zu. Es bedroht die Sicherheit der IntendantInnen, der DramaturgInnen und der RegisseurInnen und auch der KulturpolitikerInnen sowie ihrer GeldgeberInnen. Und deshalb gibt es dafür auch aktuell keinen Präzedenzfall. Nicht einen. Nirgends.
Kolumne Wolf: an alte Texte angelehnt
"Wer nach Orientierung sucht, sollte besser mündig werden und herausfinden, was ihn selbst in seiner Zeit weiterbringt, anstatt immer nur zu lesen und zu denken, was andere ihm vor Jahrhunderten zu denken gaben." Wirklich, Michael Wolf? Es gibt aber doch so viele gute Texte aus der Vergangenheit, die mir heute immer noch und sehr viel zu sagen haben. An diese alten Texte sind sicher auch viele sogenannte neue Texte angelehnt. Denn viele neue Texte können tatsächlich nicht ohne die Kenntnis der alten geschrieben und gelesen lesen werden. Auch Sie könnten diese Kolumne gar nicht schreiben, wenn sie sich nicht gegenüber dem Alten abgrenzend positionieren würden. Sie können das Neue, das ohne Kanon, also gar nicht ohne den bekannten Kanon denken. Auch "Verrücktes Blut" vom Ballhaus Naunynstraße hätte ohne Schiller nicht funktioniert. Oder wollen Sie sagen, dass man dieses Stück auch ohne den Ursprungstext von Schiller hätte inszenieren können? Es ist doch aber interessant, dann doch die Parallelen zu erkennen. Oder warum hat sich die Naunynstraße dann daran angelehnt? Eine Gegenwart ohne Bewusstsein für die Vergangenheit und Zukunft ist vollendete Leere. Würden Sie sich selbst erkennen, wenn sie den Tag, den sie gelebt hätten, immer wieder vergessen würden bzw. nicht erinnern könnten?
Kolumne Wolf: Devise Pollesch
Persönlich habe ich nichts gegen den Kanon und kanonische Stücke. Ich mag einige der Alten, ich mag ihre Sprachkunst und ich mag ihre Gedanken. Ich mag den Einblick in eine Gesellschaft die vergangen ist. Ich finde es ist schön wenn sich jemand hinsetzt und sich mal ernsthaft und ausführlich mit einem Text beschäftigt der Ihn/Sie inspiriert.
Was mich stört ist wenn mir ein Faust angepriesen wird und ich stattdessen 7 Stunden Selbstverliebtheit durchsitzen muss. Wenn ich mir oberflächlich eingefügte oder aufgezwängte 'moderne' Dialogfetzen anhören muss die weder in Duktus, Bedeutung oder Syntax einen Platz in diesem Text finden. Wenn ich ganz klar sehen kann, dass hier jemand einen Text vergewaltigt hat um unter anderem Namen das eigene Stück zu verkaufen. Die Formulierung 'nach ***' macht mir jedesmal Angst wenn ich sie im Spielplan sehe.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe nichts gegen Interpretation und künstlerischen Eingriff. Aber wenn mir meinen Zitronenkuchen unter dem Namen 'Zitronenkuchen' verkauft, dann erwarte ich auch dass der Entstehungsprozess den grausamen Mord an mindestens einer Zitrone zur Folge hatte.

Man sieht, meine Allegorie hinkt auf dem letzten Bein. Aber das ist bei solchen Stücken eben auch der Fall. Nicht jede*r Regiesseur*In muss ein*e Stückeschreiber*In sein. Dafür gibt es Autor*Innen. Aber wenn schon, dann finde ich die Devise Pollesch etwas ehrlicher.
Kolumne Wolf: Spannungsfeld
Wovon Sie, Herr Wolf, da träumen, ist eine, um einmal einen heute kaum noch gebräuchlichen Begriff zu benutzen, Eintagsfliegenherrlichkeit. Inszenierungen sollten aus dem Spannungsverhältnis von Historizität und Aktualität leben. Dazu ist aber etwas notwendig, was nach meiner persönlichen Erfahrung bei jüngeren Theatermacherinnen und Theatermachern, und nicht nur bei ihnen, verloren ging, falls es überhaupt je vorhanden war: dialektisches Denken. Nur aus der sorgfältigen Analyse eines Texte erhellen sich die immer noch aktuellen Aspekte und genau so das Überholte. Das ist ein Arbeitsprozess, der neben Sorgfalt, dialektischem Denken Unvoreingenommenheit erfordert. Einem Text aus dem so genannten Kanon muss man sich nähern, als kenne man ihn nicht, als sei er völlig neu. Dann eröffnen auch überraschende Einsichten. Das ist weit arbeitsaufwendiger, als wenn eine Passage, mit der man nichts anfangen kann (vielleicht fehlt einfach die Bildung?), streicht und dafür eine oftmals zufällige Lesefrucht einfügt. Dann entstehen formlose Hybride, auf die Regisseure und Dramaturgen auch noch stolz sind, die eine Todsünde auf dem Theater produzieren: Langeweile. Regisseure und Dramaturgen sind nur in Ausnahmefällen Autoren, aber ehe sich diese Wahrheit wieder durchsetzt, vergeht wohl noch viel Zeit. Respekt und eine gewisse Demut (ein schreckliches Wort für die selbsternannten Genies), die Kritik selbstverständlich einschließt, gegenüber den Stücken und den Autoren der Vergangenheit würden dem Theater gut tun.
Wer das Heute im Theater kritisch spiegeln und vielleicht sogar eine Kunstrealität als mögliche Alternative entwickeln will, sollte Stücke von zeitgenössischen Autorinnen und Autoren spielen und nicht immer wieder nur Romanadaptionen auf die Bühne wuchten. Es hat schon seinen Grund, dass ein Roman ein Roman und eben kein Theaterstück ist.
Kolumne Wolf: Blödsinn
Ich weiss gar nicht, was Michael Wolf will: in Berlin zumindest wird ihm sein Wunsch doch schon erfüllt. Welche der Berliner Theater spielen denn bitte noch "den Kanon" (wenn man darunter "alle alten Stücke" versteht)? Die Zahlen sprechen doch eine völlig klare Sprache. Am DT haben von 26 Premieren 4 etwas mit dem dramatischen Kanon zu tun (davon ZWEI auf der grossen Bühne). Am BE, 4 von 16 (wenn Brecht jetzt auch schon veraltet und verstaubt ist, und wenn man Müllers Macbeth als Shakespeare nimmt -- oder Müller AUCH schon ins Museum gehört). An der Schaubühne 2 von 13. Am Gorki, 2 von 17 oder so. Und vom wem ist da nirgends eine Spur? Von Goethe, Kleist, Schiller, Shakespeare. Ob das gut ist oder nicht, darüber kann man sich ja durchaus streiten, und ich persönliche finde das Wolfsche Argument viel, viel zu kurz gegriffen. Aber über die Fakten sollten wir uns schon im Klaren sein: den Kanon gibt es so gar nicht mehr, wie er hier behauptet wird.

Und was Simon Stone angeht: dessen Sachen seit ca. Drei Schwestern noch als "Überschreibungen" darzustellen, ist doch lächerlich. Das sind seine eigenen Stücke, locker von irgendwelchen anderen Werken inspiriert. Dass diese anderen Werke im Allgemeinen einen höheren Komplexitätsgrad erreichen, als seine Versuche... naja. Ist halt nicht jeder ein Dichter.

Ein Gedanke noch: Regisseure spielen über Bande? Ja klar. Die ganze Kunstform Theater spielt über Bande. Das macht sie aus. Spieler spielen auch über Bande. Bühnenbildner ebenso. Und Zuschauer ja eigentlich auch. Das ist ja der Hauptgrund, weswegen so manche alte Stücke eben noch immer auf der Bühne am Leben bleiben und zu neuem Leben finden -- weil sie so reizvolle und spannende und herausfordernde Banden sind. Für das ganze punktaktuelle, aus den Schlagzeilen gegriffene, in der Darstellung ungebrochen direkte Material gibts doch schon andere Medien und Kunstformen. Da muss und sollte sich das Theater nicht auch noch ranschmeissen.
Kolumne Wolf: Erzählung verloren
#6: Ein Roman ist ein Roman und kein Theaterstück. Und das hat welchen Grund genau? :Ein Roman e r z ä h l t von Handlungen, Stimmungen und Situationen bestimmter Figuren, die echte Menschen sein könnten, zu einer bestimmten Zeit an bestimmten Orten, die in bestimmter undoder unbestimmter Weise miteinander zu tun haben.
Ein Theaterstück besteht aus einem Text, der die Handlungen von Figuren, die sich in verschiedenen Situationen befinden, in denen Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse deutlich werden, begleitet. Es erzählt nicht von etwas, sondern stellt durch - u.a. Text - etwas dar.
In Ausnahmefällen gibt es Erzählweisen, die ohne wesentliche Schwierigkeiten zum Theaterstück umfunktioniert werden können. Jelinek zum Beispiel kann wunderbar so erzählen. Bei ihr unterscheiden sich seit vielen Jahren Erzählstruktur von Roman und Dramaturgie von Theaterstück so gut wie gar nicht voneinander. Das sagt aber niemand so (warum eigentlich nicht?). Weshalb man die neueren Jelinek'schen Texte bevorzugt "Textflächen" nennt, mit denen man machen kann, was man will. Auf die Art und Weise kann Jelinek-Text mit erhöhter Wahrscheinlichkeit verkauft werden: Wenn ihn niemand als Roman macht, macht ihn halt ein Theater oder Theaterverlag als Stück. Das so überaus erfolgreiche Erzähl-Geschäftsmodell wird häufiger kopiert, nur leider mit weniger Wissen, politischem Überblick und Geist als Jelinek verfügt.
Das macht die deutschsprachigen Romane allgemein schlechter und die Theaterstücke auch. Es schafft durch ehrgeizige Nachahmung den Geist der Erzählung zwar nachhaltig ab, aber wenn auch mit weniger Geist als Jelinek verfügt Erfolg generiert werden kann, ist das den Verlagen recht und den Theatern billig. Billiger als Jelinek im Original allemal...
Das Theater ist also mit schuld daran, wenn Erzählung verloren geht oder zumindest der Roman sich nicht intelligent genug zeitgemäß entwickelt. Es gibt die Ausnahmen. Immer gibt es auch Ausnahmen, gewiss-
Bernd Stegemann - zum Beispiel - beklagt außerordentlich und ausführlich gern, dass Erzählung verloren gegangen ist. Vor allem "linke" Erzählung. Er sagt aber nie, in welcher Weise Theater daran nicht ganz unschuldig sein könnte, dass explizit linke Erzählung verloren geht, wenn es denn überhaupt wirklich so wäre....
Kolumne Wolf: Gott kann gehen
Die Kommentare, insbesondere der von Holger Syme, scheinen mir einiges richtig zu stellen. Es kommt noch etwas hinzu. Mir fehlt bei Michael Wolf folgende Forderung: "Gottvater hat seine Schuldigkeit getan. Er kann gehen! Und mit ihm Maria und Jesus und wie sie alle mal hießen. Raus mit ihnen aus den Kirchen und den Schulen." Solange diese Forderung nicht erfüllt ist, ja nicht einmal gestellt wird, ist das Theater mit Schiller, Büchner (nicht unbedingt mit Hofmannsthal) unter anderem der Ort, an dem die Aufklärung, die Vernunft gegen die Indoktrination durch die Kirchen in Stellung gebracht werden. Der "dramatische" Rückgang der Kirchenbesucher beweist: Wir brauchen den christlich-jüdischen Kanon nicht mehr. Wenn Michael Wolf damit übereinstimmt - warum sagt er dann nicht: "Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann wäre es ein Jahr ganz ohne all die Geschichten aus dem Alten und dem Neuen Testament." Wenn er nicht übereinstimmt, wüsste ich gerne von ihm, was die Evangelisten aktueller erscheinen lässt als Kleist oder Schiller. "Nur noch künstlich halten die Kirchen, unterstützt vom Staat, ihre Klassiker am Leben." Müssen wir uns damit abfinden?
Kolumne Wolf: gerechtere Gewichtung
Kurze Frage an alle Vorkommentator*innen: Haben Sie überhaupt Interesse daran, dass neue Texte geschrieben werden, die keine ausgeschriebenen Neuauflagen der Klassiker sind? Oder reichen Ihnen die bisherigen Werke und deren Neuinterpretationen bereits?

Da gibts nämlich einige junge Leute, die sich eine Menge Mühe geben, über das Jetzt zu schreiben, das ja - so scheint es - für viele unter Ihnen eher weniger wichtig oder sogar "eine Illusion" ist. Es geht hier nicht darum, ein JETZTJETZTJETZT ohne jegliche Anbindung an früher auszuleben. Es geht um eine ungerechte Gewichtung von beidem.

Auf den Schultern von Riesen stehen, ja, gerne. Gerade aber stellt man die Riesen vor oder auf die Autor*innen von heute - und daran muss etwas geändert werden.

An #6: Allein auf der großen Bühne am DT finde ich: Hunger.Peer (nach Ibsen), Drei Schwestern, Antigone, Der Menschenfeind, Zeiten des Aufruhrs, das bereits sind vier sogenannte Klassiker - woher da Ihre zwei kommen, das verstehe ich nicht.

#8: Recht amüsant, was Sie sich da zusammenschreiben. Sie also sehen das Theater als Ort zur Anbetung früherer (meist männlicher und weißer) Dramatiker? Religiöser und literarischer Kanon sind für Sie dasselbe? Gilt das auch für die Wissenschaften, für Theorien, die widerlegt sind? Gilt es für die Philosophie?

Neue Dramatik wird in fast allen Fällen verbannt auf die kleinsten Spielstätten, um dort in einer Uraufführung verbrannt und nie mehr angefasst zu werden, während auf den großen Bühnen Regisseur*innen sich wieder und wieder daran abarbeiten, aus Othello den Rassismus, aus dem Kaufmann von Venedig den Antisemitismus, aus allen Shakespeares den Seximus herauszuinszenieren.

Niemand will Ihnen Ihre liebsten Werke nehmen. Nur den religiösen Status, den könnte man vielleicht abschaffen.

Kurz: Sie vor mir, nein, wir alle wollen am Ende doch eine Kultur, die aus der Vergangenheit lernt, ihre Schlüsse zieht und heute lebt, die heute wirkt. Mit der Angst vor "neuen" Stoffen wird dieses Leben im Keim/ auf der Studiobühne erstickt. Passen Sie auf, dass Sie das Theater nicht verwechseln.

Es ist kein Museum und es ist - Goethe behüte! - auch keine Kirche.
Kolumne Wolf: epische Dichtung
@6 "Für das ganze punktaktuelle, aus den Schlagzeilen gegriffene, in der Darstellung ungebrochen direkte Material gibts doch schon andere Medien und Kunstformen. Da muss und sollte sich das Theater nicht auch noch ranschmeissen." Eine Einschätzung die einen Großteil der Theatergeschichte und epischen Dichtung völlig außer Acht lässt.

@8 Mir liegt der Vergleich zur Samplingkultur näher als der Gottesvater... kann ein Produzent auch Komponist sein, muss ein Komponist überhaupt Musiker sein, muss Musik originell sein um erfolgreich zu sein, hat originelle Musik eine Chance, wird Fachwissen durch Gimmicks ersetzt etc.
Kolumne Wolf: wunderbar koexistieren
@undsoweiter: aha, soso. A) Wieso denn bitte Theater und Epik zusammenschmeissen? B) Einen Grossteil? Wie das denn? Meine Beschreibung trifft vielleicht auf einen Teil der Naturalisten zu, und auf die Zeitstücke der 20er Jahre, und natürlich wohl auch auf so einige der Sachen, die v.a. in der englischsprachigen Dramatik der letzten 60 Jahre oder so entstanden sind, das macht aber nun wirklich keinen "Grossteil" aus.

@HenryKleister: ich habe überhaupt gar nichts gegen neue Stücke, auch nicht gegen neue Stücke junger Autoren, aber die Forderung, die "kanonischen" Stücke des Repertoires auf Eis zu legen ist erstens steinalt und grau (vor 90 Jahren hat Herbert Ihering schon mal, in dem Fall als Hohepriester von Brecht und v.a. Piscator, dieses Lied angestimmt), und steht zweitens in keiner echten Korrelation zur Förderung neuer Dramatik: weil es ja eben faktisch nicht so ist, dass die Bühnen von Shakespeare, Schiller, Goethe, Büchner, und co. so knallhart besetzt sind, dass kein neuer Autor oder Text da vorkommen darf. Das Alte, neu gedacht, und das Neue, können doch wunderbar koexistieren, und haben so ja auch schon seit wenigstens 150 Jahren zusammengelebt.

Was die Zahlen angeht, mit Verlaub, läuft Antigone in der Box (!), ist Zeiten des Aufruhrs nun wirklich kein dramatischer Klassiker, und lässt sich Hunger/Peer Gynt auch nur schwerlich als "Ibsen Inszenierung" bezeichnen -- was sie ja auch im Titel schon nicht behauptet zu sein. Die einzigen "klassischen" Stücke auf der DT Hauptbühne in dieser Spielzeit sind Drei Schwestern und der Menschenfeind. Man kann sich ja gern darüber streiten, ob die ewigen Romanadaptionen eine gute Tendenz sind, und ob statt derer nicht besser ganz neue Stücke gespielt werden sollten. Ich bin da relativ agnostisch. Aber zu behaupten, die Adaption von Romanen (ob aus dem literarischen Kanon oder anderswoher) wäre eine Auseinandersetzung mit dem dramatischen Kanon ist ja wohl doch etwas weithergeholt. Oder?
Kolumne Wolf: Warum denn nicht?
@Holger Syme
A) Euh.. warum denn nicht? Epische Elemente in der Dramatik gab es schon in der Antike. Und der grosse Zusammenschmeisser Brecht ist auch schon kanonisch alt.
B) Mit 'Grossteil' bezog ich mich vor allem auf Spiele, die im allerweitesten Sinne 'aktuelle' Informationen aufgreifen und an (oft) ungebildetes Publikum vermitteln: die Nachstellung von Schlachten und Eroberungen, Teile des Mimus, darstellende Erzählung von realen (nicht mythischen oder religiösen) 'Heldentaten', die Nachahmung höfischer Begebenheiten unter Einbezug zeitgenössischer Figuren; Vieles was landläufig Volkstheater war und wurde. Rein inhaltlich würden z.B. auch manche Maskenspiele und Teile des Kabuki dazupassen.
Kolumne Wolf: von Tag zu Tage
Wer nicht von dreitausend Jahren
sich weiß Rechenschaft zu geben,
bleib im Dunkeln unerfahren,
mag von Tag zu Tage leben.
GOETHE
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