Der Kanon? Die Kanon? No Kanon!

von Michael Wolf

24. April 2019. Auf der Bühne haben sie zerfledderte Reclamhefte aufgebahrt. Requisiteure legen Blumenkränze vor ihnen nieder. Ihr süßer Duft klebt im Raum. Die Inspizientin läutet ein Glöckchen und der Intendant, gefolgt von pausbäckigen Hospitanten, zieht an den Klassikern vorbei und liest mit belegter Stimme die Titel vor. Mit jedem Namen blasen Bühnentechniker dichte Schwalle von Nebel über die Szene. Und – Horcht! – im Parkett schmettern die Dramaturgen ihr Glaubensbekenntnis.

"Kleist" – "So aktuell wie noch nie!"
"Goethe" – "Gerade jetzt!"
"Büchner" – "Er war damals schon gegen den Neoliberalismus!"

So stelle ich mir Spielplanpräsentationen vor, die gerade wieder allerorten stattfinden. Die FAZ probiert parallel dazu, in einer groß angelegten Spielplanreihe die verborgenen Winkel der Archive auszuleuchten. Ob die Wiederauferstehung gelingt, da habe ich meine Zweifel. Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann wäre es eine Spielzeit ganz ohne all die Toten und Totgespielten. Wir brauchen unseren Kanon nicht mehr. Schiller hat seine Schuldigkeit getan. Er kann gehen! Und mit ihm Lessing und Hofmannsthal und wie sie alle mal hießen.

Die Posterboys des Bürgertums

Sie hatten ihre Zeit, hingen als Posterboys in den Salons herum. Damals im 19. Jahrhundert, als das Bürgertum gemeinsamen Gesprächsstoff suchte, um sich vom Adel und vom Pöbel abzugrenzen. Die Salons aber sind längst verwaist. Es gibt sie nicht mehr: diese eine soziale Gruppe, die kulturell den Ton angibt. Oder wenn doch, dann sitzt sie im Silicon Valley und nicht im Parkett.

kolumne wolfDas Theater ist Museum, Text-Friedhof. Heimlich verscharren sie hier den Anspruch, an diesem Ort mit dem Fremden, dem Anderen, dem Neuen konfrontiert zu werden. Für den Kanon spricht nur das Bedürfnis nach Orientierung. Kein sehr heutiges Argument. Wer nach Orientierung sucht, sollte besser mündig werden und herausfinden, was ihn selbst in seiner Zeit weiterbringt, anstatt immer nur zu lesen und zu denken, was andere ihm vor Jahrhunderten zu denken gaben.

Nur noch künstlich (statt künstlerisch) hält das Theater seine Klassiker am Leben. Es ist ein offenes Geheimnis, dass sie vor allem die Auslastung sichern. Zuschauer kaufen lieber eine Karte, wenn sie in etwa einschätzen können, was sie bekommen. Schulklassen müssen auch bedient werden. Dieser Logik folgend, ist es gleichgültig, ob man nun Goethe oder "Fack ju Göhte" spielt. Die Betriebswirtschaft hält die Welt im Innersten zusammen.

Wer profitiert? Die Regisseure. Es ist prestigeträchtiger, sich an einem kanonischen Stück abzuarbeiten als einen zeitgenössischen Autor uraufzuführen. Die Regie spielt über Bande. Durch ihren Zugriff auf den Klassiker reagiert sie auf das Heute. Das Problem: In der Redaktion haben wir schon vor Jahren festgestellt, dass bei unseren Lesern die Kenntnis von Stücken jenseits des Kalibers von Romeo und Julia nicht vorausgesetzt werden darf. Ein Großteil des Publikums kann die Interpretation der Regie also nicht identifizieren, weil es die Original-Texte und die Rezeptionsgeschichte gar nicht kennt. So bleibt selbst die wütendste Klassiker-Zertrümmerung verlorene Liebesmüh.

Ohne Umweg durch die Jahrhunderte

Man muss darüber nicht traurig sein. Text stellt schon seit Jahrzehnten nur noch ein Element unter vielen einer Aufführung dar. Einige der streitbarsten Arbeiten der letzten Jahre wenden sich der installativen Kunst, der Performance oder der politischen Aktion zu. Das Theater hat – gerade wenn wir uns fragen: Ist das hier noch Theater? – durchaus interessante Antworten auf die Gegenwart. Und zwar gerade weil sie nicht über einen Umweg durch die Jahrhunderte formuliert werden.

Wie weit dieser Weg ist und wie leise, wie brüchig, kaum hörbar unser Kanon nach der Reise nur noch zu uns spricht, erkennt man an den Programmen von Simon Stone oder der sogenannten Basler Dramaturgie. Hier werden kanonische Stücke als Neudichtungen in die Jetzt-Zeit gerettet. Offenbar scheint die Frischekur den Autoren nötig, im Original erscheinen ihnen die Klassiker nicht vorzeigbar. Warum aber diese enorme Energie zur Konservierung oder Aufhübschung des Vergangenen aufbringen? Warum schreiben sie nicht ganze eigene, neue Stücke? Ich würde so gern etwas Originäres, etwas Originelles von ihnen, und nur von ihnen lesen.

Die Sparprogramme in den Studios

Und auch von den Heerscharen ebenso ehrgeiziger wie unterbeschäftigter Autoren. Die meisten Intendanten lassen sie links in den Studios liegen. Schon gewohnt an die Missachtung halten junge Dramatiker ihr Personal überschaubar. 2 Damen, 2 Herren maximal, mehr ist ja eh nicht drin. Es ist ihnen klar, dass sie nie auf großen Bühnen gespielt werden. So egal erscheint vor allem etablierten Regisseuren die zeitgenössische Dramatik, es kommen nicht mal mehr Klagen auf über die – zugegeben oft defensiven bis verkopften – Texte. Wenn wir aber unsere Autoren klein halten, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass sie unter ihrem Niveau verharren. Spielt sie! Auf großen Bühnen! Lasst sie schreiben! Lasst sie scheitern!

Und man möge nicht gleich den nächsten Fehler begehen und den Kanon zu ergänzen oder zu ersetzen versuchen. Es stimmt, was die FAZ von konservativer und Sibylle Berg von feministischer Seite beklagen: dass der Kanon unvollständig und ignorant ist, dass er kaum Frauen enthält. Aber nicht die Namen auf der Liste sind das Problem, sondern die Liste selbst. Es kann nur Gestriges auf einer solchen stehen. Wir aber sollten dem Jetzt eine Chance geben. Hören wir auf mit der Verwaltung der Vergangenheit und erkunden wir endlich die Gegenwart.

 

Michael Wolf, Jahrgang 1988, ist Redakteur bei nachtkritik.de. Er mag Theater am liebsten, wenn es schön ist. Es muss nicht auch noch wahr und gut sein.

 

Zuletzt distanzierte sich Michael Wolf von moralisierender Symbolpolitik im Theater.

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