Drift - Theater Heidelberg
Veränderung? Verweigerung!
von Steffen Becker
Heidelberg, 26. April 2019. Warum raste die als "Krabbenkönigin" bekannte Hotelerbin gegen einen Baum? Und warum ist ihr Geschäftsführer seit zwei Monaten verschwunden? Diese Fragen treiben den Krimiplot von Ulrike Syhas "Drift", dem Gewinnerstück des letztjährigen Heidelberger Stückemarkts, an. Die Uraufführung in der Regie von Gustav Rueb eröffnet den Stückemarkt 2019. Die Zuschauer*innen bekommen klare Antworten auf die Eingangsfragen – am Schluss, unter ferner liefen. Denn um die kriminalistische Aufösung geht es "Drift" nicht. Die "Krabbenkönigin" ist zwar Knall auf Fall gegen einen Baum gekracht, das Dorf hingegen driftet langsam ab.
Komödie mit Klippensturz
Ulrike Syha entwirft das Panorama einer (nord-)deutschen Provinz, in der jede Veränderung als Bedrohung erscheint. "Drei Damen mit Haltung" analysieren in der Kneipe das Tagesgeschehen, gruseln sich vor Ausländern, entscheiden aber, nicht über Flüchtlinge zu reden (stört die Harmonie). Der Bürgermeister verscherbelt Bauplätze an Städter, die anschließend von der Kläranlage gleich wieder vertrieben werden. Der Architekt nervt alle mit seinen Prophezeiungen vom steigenden Meeresspiegel und folgendem Klippensturz, gefällt sich als Rufer in der Wüste – spielt mit seinen Eskapaden aber eine stabilisierende Rolle, weil er neben der Kläranlage ein weiterer Garant für die Flucht der Städter ist.
Diese Figuren sind Prototypen für die Verweigerungshaltung gegenüber Veränderungen. Autorin Syha setzt bei ihren Ausführungen zu "Drift" auf komödiantischen Anspruch und wünscht sich, "dass die Leute, die darin beschrieben werden, über sich selber lachen können, ohne sich ausgestellt zu fühlen". Das klappt in Heidelberg nur bedingt. "Drift" entfaltet auf der Bühne zwar Witz, aber die Figuren zeichnet die Regie überdeutlich als Kuriositätenkabinett.
Wenn die globale Elite durchs Dorf joggt
Drift handelt auch von einer Geschichte der Heimkehr. "Die Frau, die eigentlich nicht hier sein sollte", kehrt zurück, klappert Familie und Freunde ab (alle dysfunktional) und meidet ihren Ex-Mann, den Architekten und Untergangspropheten. Ihre Tour zeichnet Regisseur Rueb auf der Leinwand nach. Eine Karte zoomt auf die Schauplätze. In die montiert die Video-Regie ihre Gags. Neben dem (Leoparden-gemusterten) Sofa der schwangeren Schwester steht etwa ein Marienbild. Im Verlauf der immer absurderen Unterhaltung über den Lebenstraum Neubausiedlung morpht es zu einem Jesus, der sich an den Kopf fasst. Dazu tönt die Titelmelodie der Simpsons (Achtung: White Trash!). Die Heimkehrerin (Lisa Förster) sieht man in diesen Szenen nur in Ausschnitten und von hinten. Sie muss ihren Text tonlos herunterrattern. Ihr Motiv zur Rückkehr bleibt in der Inszenierung noch unklarer als im Stück angelegt.
Fokus der Heidelberger Aufführung ist klar die Schrägheit der Dorfgesellschaft. Um deren Treffpunkt, die Dorfschenke, hat Peter Lehmann seine Bühne gebaut. Ein Ort vertrockneter Pflanzen, schmutzig-weißer Wände, spartanischer Inneneinrichtung und einer ständig aufspringenden Tür. Dort versammelt sich die Personnage in weißen Gewändern (hier draußen sind ja die Guten, sagt eine von ihnen). Alle haben verbrannte, gerötete Gesichter. Ein passendes Bild für eine gesättigte Gesellschaft, die einfach weitermacht, sich an den geänderten Rahmenbedingungen verbrennt. Die spürt, dass etwas nicht mehr stimmt, aber umso heftiger auf den Status Quo pocht. Unterbrochen wird das nur durch andächtige Stille, wenn Urlauber aus der Stadt mit perfektem Lächeln und Funktionskleidung vorbei joggen, quasi als Symbol für das Gegenbild einer globalen Elite, die für Heimat keine Dorfschenke braucht – und als im wahrsten Sinne des Wortes running gag. Das bringt Lacher, unterstreicht aber auch den zu flapsigen Touch der Inszenierung.
Hemmungslos übertrieben sind die Figuren: Die "Damen mit Haltung" sind herrisch (Christina Rubruck), treu-doof (Elisabeth Auer) oder schon am Überschnappen (Nicole Averkamp). Der Architekt ist ein eitler Rechthaber (Marco Albrecht), sein anarchistisch gesinnter Sohn muss sich durch die Szenen zu Elektro-Beats hampeln (er ist ja auch Computer-Nerd). Das ist umso bedauerlicher, als dass Daniel Noël Fleischmann in einem Video-Auftritt als Schulfreund der Heimkehrerin zeigt, dass er die sensible Darstellung eines Zwiegespaltenen drauf hätte, die seiner Hauptrolle gut getan hätte. Eine Ausnahme im knalligen Reigen bildet Olaf Weißenberg als Kellner. Als Mann in Frauenkleidern (in Situationen der Genervtheit legt er die Perücke ab) und als einziger in schwarz-weiß ist er quasi der 'allumfassende Prototyp': die Masse, die das gesellschaftliche Gespräch kommentiert, aber nicht daran teilnimmt. Aber durch sein cooles, unaufgeregtes Spiel macht Weißenberg diese Figur zum Ruhepol einer Inszenierung, die mehr Ruhe bei der Ausarbeitung eines durchaus tiefgründigen Textes vertragen hätte.
Drift
Von Ulrike Syha
Regie: Gustav Rueb, Bühne und Kostüme: Peter Lehmann, Video: Alexander Ebeert Dramaturgie: Maria Schneider.
Mit: Marco Albrecht, Olaf Weißenberg, Daniel Noël Fleischmann, Christina Rubruck, Elisabeth Auer, Nicole Averkamp, Lisa Förster.
Premiere am 26. April 2019
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.theaterheidelberg.de
Mehr zu Ulrike Syha und dem diesjährigen Autorenwettbewerb im Festivalportal zum Heidelberger Stückemarkt von nachtkritik.de.
"Starker Applaus" wird von Heribert Vogt in der Rhein-Neckar-Zeitung (29.4.2019) bei der Premiere registriert. Ulrike Syhas Text zeige "eine diffuse Grundangst vor der Flut, die scheinbar von überall kommen kann. Durch die Wassermassen des Meeres, aber auch durch die ausufernde Zivilisation, den Zuzug großer Flüchtlingsströme oder die zunehmende Komplexität des Lebens, in dem von 'maritimer Leichtigkeit' nichts zu spüren ist. Zugleich zerfließen die sozialen Strukturen".
Von einer "erzählerischen Lauheit", die über diesem Abend liege, berichtet Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (29.4.2019). Syha sei weder darauf erpicht gewesen, "der Handlungsdramaturgie zu viel Raum und Raffinesse zu geben, noch der Sprache im Detail". Die mögliche Krimihandlung löse sich "lapidar" auf, die "die Figuren bleiben unscharf"; die Dialoge ließen "auf Abgründe hoffen, die sich nicht auftun", und den Monologen fehle "der doppelte Boden".
"Ulrike Syha wollte ein Stück über die Provinz schreiben – aber sie hat keine Sprache dafür." Im Deutschlandfunk (27.4.2019) lässt Christian Gampert kein gutes Haar an dieser Stückemarkt-Eröffnung. "Regisseur Gustav Rueb nimmt die große Palette zur Hand und trägt richtig dick auf, vom effeminierten Kellner bis zum jugendlichen Sohn und zum Stammtisch-Trio aus alten Schachteln; aber richtig lustig ist es nicht. Eher verworren und langweilig."
Von einer gelungenen Eröffnung des Stückemarkts berichtet Leon Igel im Mannheimer Morgen (29.4.2019). "Geschickt verwebt" Ulrike Syha "das Große und das Kleine: Die Globalisierung trifft auf Kaff am Wattenmeer. Doch keine Fortschritts-Idylle ist das, sondern ein sezierender Blick auf eine sich immer weiter fragmentierende Gesellschaft. Den Einzug des Post-Modernen in der gemeinhin als vormodern angesehenen Provinz darzustellen, gelingt Regisseur Gustav Rueb, ohne sich wohlfeiler Dorf-Klischees zu bedienen."
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