Candypop Gesellschaftskritik

von Jan Fischer

Hannover, 27. April 2019. Nichts ist hier echt. Auf einen Peppa-Wutz-Aufsteller steht mal "Prada", mal "Pradada", mal "Gucci", mal "Guccci". Die goldenen McDonald's-Bögen sind doppelte Bögen. Beim Hello-Kitty-Logo sind die Augen etwas nach unten verrutscht, so dass es eher an ein entblößtes Dekolletee erinnert. In der Mars-Riegel-Schriftart ist das Wort "Marx" zu lesen.

Jan Brokofs Bühnenbild zu "Fake Youth" am Jungen Schauspiel Hannover ist ein einziges, kunterbuntes Suchbild von eigenartigen Markenlogoparodien. Irgendwo steht auch ein Klavier rum, auf dem "Es ist ein Elend, in uninteressanten Zeiten zu leben" steht. In die Fake-Markenwelt droppt ein Paket – das selbstverständlich erst einmal in einem Unboxing-Video geöffnet wird. Hannah Arendts "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" ist in dem Paket – und die Hannah-Arendt-Lesechallenge ist geboren.

Tanzt mir Eure Likes!

Tatsächlich hat Arendts gut 1000-seitige Analyse von Ideologien, Propaganda und Terror vor dem Hintergrund weltweit erstarkender populistischer Kräfte in den letzten Jahren an Aktualität gewonnen. Und sie bildet also so etwas wie das Rückgrat dieses Abends über Fake und Realität, über Propaganda und Fakten, über alles und noch mehr, für den andcompany&Co mit elf teilweise jugendlichen Hannoveranerinnen und Hannoveranern zusammenspielen.

FakeYouth 1 560 Karl BerndKarwasz uJugend bewegt: Linus Schilliing, Laura Kratz, Rosa Zach, Kira Engelhardt, Otis Sotek, Daria Bertram im Freiflug durch die Markenwelt © Karl-Bernd Karwasz

Äußerst netzkonform entwickelt die Arbeit dabei keine durchgehenden Gedanken. Vielmehr funktioniert sie als eine Art Stream, der immer wieder Gedanken von Arendt und von sonstwo aufnimmt und in die bunte Fake-Welt auf der Bühne wirft, über die durchaus einmal unvermittelt einer der Darsteller als Einhorn verkleidet laufen und fordern kann: "Hey Leute, tanzt mir eure Likes", und dann passiert das halt. Oder jemand mal sagen kann: "Ich habe mich gefragt, wie bekommt man so viele Follower wie Hitler und Stalin zusammen". Oder eine Delfin-Verschwörungstheorie zum Besten gegeben wird. Oder mal jemand unvermittelt "Cry me a river" singt, inklusive Live-Band mit Geige, Klavier und zwei Bläsern.

Wilde Assemblage

Es steckt eine riesige Menge Gedankenarbeit in "Fake Youth", und diese Gedankenarbeit wird als wilde Assemblage präsentiert, in der die Darsteller und Darstellerinnen sich durch kulturelle Marker wie James Gunn oder Lichtschwerter arbeiten und durch Seenotrettung im Mittelmeer, Donald Trump und die AfD. All das versuchen sie wiederum mit Arendt zu analysieren, um zu ergründen, was das eigentlich ist, dieser Fake, und was im Umkehrschluss: die Wahrheit.

FakeYouth 3 560 Karl BerndKarwasz uMarx sei mit Euch! Linus Schilling, Daria Bertram, Freddy Heißmeyer, Rosa Zach, Kiran Engelhardt, Annalena Plenefisch, Otis Sotek, Dervis Dündar, Ẏr Langhorst maskiert © Karl-Bernd Karwasz

Vielleicht geht es auch gar nicht darum, den Fake durch die Wahrheit zu ersetzen, sondern sich den Fake zu eigen zu machen. "Hashtag guter Populismus" taucht zweimal als Schlagwort auf, mit vielleicht ironischem Augenzwingern, vielleicht auch nicht. Mit anderen Worten: "Fake Youth" ist ein ziemlich großes Kuddelmuddel an Gedanken, Ideen, Delfinen und Einhörnern, aber offenbar auch ein großer Spaß für alle Beteiligten – das reicht von den bunten und bekloppten Kostümen bis zur offensichtlichen Freude der Darstellerinnen und Darsteller daran, sich mit voller Wucht in Arendts Gedankengebäude zu stürzen und es auf die eigene Lebensrealität anzuwenden, solange bis eines von beiden kaputt geht.

Wie im richtigen Internet

Am Ende verpufft die Suche nach Wahrem und Echtem in ein paar Herzen, die für einen gecoverten Song von James Blunt vom Himmel fallen, dazu gibt es noch ein bisschen Hannah Arendt, aber hey, wenigstens sind die gefakten McDonald's-Bögen jetzt regenbogenfarben und die Hello-Kitty-Brüste haben einen Zensurstreifen bekommen. So zerfasert der Arendt-gestützte Stream aus dem Netz, nachdem er durch kulturelle Marker und Phänomene gehetzt ist, ohne, klar, das echte Leben im falschen zu finden oder beides auch nur trennen zu können. Manifeste ploppen auf und verschwinden wieder, Einhörner übernehmen die Macht, Meinungen, Ideologie, Fakt und Fiktion, Likes und Dislikes klingeln ununterbrochen durch verzerrte Markenlandschaften, halb bekannte Musik kommt und geht, Unboxing-Videos, Challenges und politische Anliegen vermischen sich zur großen Ansammlung allgemeinen Misch-Maschs. Genau wie im richtigen Internet also.

Was bei "Fake Youth" bleibt, ist allerdings nicht das schale und irgendwie schmierige Gefühl, das bleibt, wenn man gerade mal wieder den Twitter-Feed durchgescrollt hat. Die bunte Candypop-Gesellschaftskritik ist vor allem getrieben von überbordendem Optimismus, der unbedingten Idee, dass jetzt, wo man mit Arendt alle diese Mechanismen aufgezeigt, verstanden und kritisiert hat, doch etwas dagegen zu unternehmen sein müsse. Was, das ist nicht ganz klar. Aber egal. Aufbruch ist Aufbruch. Über den Weg kann man sich dann ja immer noch Gedanken machen.

 

Fake Youth
von andcompany&Co.
Regie, Text, Musik: andcompany&Co. (Alexander Karschnia, Nicola Nord, Sascha Sulimma & Luna Ali), Bühne und Kostüme: Jan Brokof, Produktionsleitung: Rahel Häseler, Caroline Farke, Dramaturgie: Barbara Kantel.
Mit: Daria Bertram, Dervis Dündar, Kira Engelhardt, Freddy Heißmeyer, Laura Katz, Ẏr Langhorst, Annalena Plenefisch, Benjamin Ali Resai, Linus Schilling, Otis Sotek, Rosa Zach.
Premiere am 26. April 2019
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.schauspielhannover.de

 

Kritikenrundschau

Kerstin Hergt schreibt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (29.4.2019): Im Zuge der Wiederentdeckung von Hannah Arendts "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft", das nach Trumps Wahl zum Bestseller wurde, sei das Buch jetzt auf dem Theater gleichsam angekommen. Das Ergebnis sei erstaunlich. Das "multitalentierte Ensemble" schaffe es, Arendts Analysen "sehr unterhaltsam" ins Hier und Jetzt zu übertragen. Einige Erkenntnisse der Philosophin würden auch kurzerhand neu interpretiert, etwa wenn es um "absolute Folgerichtigkeit" als Kennzeichen von Ideologien gehe. Im Stück werde daraus: Wer A mag, muss auch B mögen. Wenn Dir ein Algorhitmus sagt, was Du magst, ist das eine Ideologie." Das sei in der Tat "spooky".

Die Ankündigung, dass junge Menschen aus Hannover Hannah Arendts "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" lesen, könnte "knochentrocken und/oder superpädagogisch" klingen, schreibt Jörg Worat in der Hannoverschen Neuen Presse (29.4.2019, 16:19 Uhr) – sei es aber nicht: Vielmehr dienten "die bestürzend aktuellen Arendt-Schriften ('Nichts ist wahr, alles ist möglich') eher als Katalysator für eine Untersuchung darüber, was 'Wahrheit' heutzutage bedeutet und wie es um die Zusammenhänge von Macht und gesellschaftlichen Entwicklungen steht." Auf der Bühne werde zitiert, performt, gesungen und musiziert, insgesamt sei "viel zu viel los, so dass man das Getümmel gar nicht in seiner Gesamtheit erfassen kann – das aber ist ja durchaus eine Spiegelung der Verhältnisse." Angesichts der sehr individuellen erscheinenden Darsteller*innen lösten sich "Gedanken an eine gleichgeschaltete Jugend sich für diese 70 turbulenten Minuten in Wohlgefallen auf".

 

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