Das Gegenteil von Angst? Effizienz!

von Ersan Mondtag

Berlin, 4. Mai 2019. Liebe Shirin, Du musst mittlerweile ganz schön wahnsinnig geworden sein, bist du doch die einzige Person, die, soweit ich weiß, alle meine Arbeiten seit Frankfurter Tagen gesehen hat. Respekt. Aber auch ich habe all deine Texte gelesen, auch deshalb möchte ich mich hier herzlich bei dir bedanken, nicht nur für die bewegende Laudatio, sondern auch für deine kritische Begleitung meiner Arbeiten. Auch sie hat mich mit geprägt. Wie so viele Menschen hier heute im Raum.

Lieber Benny, liebe Kate, lieber Jonas. Meine Liebe zu euch ist unendlich und ich habe das Glück, dass eure Liebe zu mir genauso ist. Es beruhigt mich, mit euch durch diese Wälder zu irren.

Angst hat keinen guten Ruf

Denn ich habe einen Wald im Ohr, manchmal, am Eingang einiger Arbeiten. Ich höre Äste in der Schwärze knacken. Von oben fallen die Schreie der Nachtvögel. Ich spüre den Mond im Rücken. Dieses Geräusch, jener Wald, ist das flüsternde Imperium der Angst. Die habe ich, darin lebe ich, von dort aus beginne ich meine Arbeit. Ich denke, Angst ist ebenso furchtbar wie fruchtbar, wenn es um Bilder geht, und ich würde meinen, ich bin ein wenig obsessiv mit Bildern. Ich bin auf sie versessen. Ich bin fasziniert, wie die Bilder sich gegen Worte und Texte erheben, die ja ein altes Instrument der Ordnung sind: auch um die Angst zu vertreiben, Licht in all die Dunkel zu bringen, in das formlose, ungeklärte; die Sprache, die denjenigen die Sicherheit garantiert, die schon immer das Wort hatten und denen man das Wort erteilt, all die Jahrhunderte, während derer die Musen und die Rachegöttinnen alphabetisiert und archiviert und domestiziert wurden. Die erst wieder befreit werden, wenn die Begriffe in Poesie zurückverwandelt, Worte wieder Bilder werden, und wie die Bilder dann zu Körpern und Musik.

ersan mondtag 560 thomas schroeder3sat-Preisträger 2019 Ersan Mondtag © Thomas Schröder

Vermutlich sind mir die verschlungenen Wälder der Bilder lieber als die sonnigen Felder des Begriffs. Weil ich selber Angst empfinde, sind mir die näher, die im Dunkeln leben müssen als die am helllichten Tag. Dort, wo die Angst über die Grenzen der Nacht zurückgedrängt wird. Aber nicht durch Mut. Das Gegenteil von Angst ist nicht Mut, sondern Effizienz. Effizienz in teilweise beängstigenden Formen.

Deshalb hat die Angst auch einen unschönen Ruf. Das schwarze Schaf, das Enfant terrible der Familie der Gefühle. Sie mache grausam, töte Empathie, sie sei geistlos, der Stoff, aus dem jede Menschenfeindlichkeit gemacht ist: Sie gehört nicht in ein freundlich aufgeklärtes Gemeinwesen. Sie ist ebenso wenig wie der Schlaf oder der Rausch mit gutem Gewissen effizient. Sie ist nicht organisiert, hat keinen gepflegten Terminkalender, kennt keine Wochen- oder Tagespläne. Eigentlich wird sie mit der Feigheit verwechselt, oder vornehmer: der Sorge, und das auch noch meistens von Leuten, die sich hinter leerer Effizienz verstecken.

Es ist Zeit, einen historischen Fehler zu korrigieren

Es macht mir Angst zu denken, wie viele Menschen verschwunden sind aus der Geschichte der Kunst, des Theaters, vergessen, verhindert, die niemals in das Licht traten, in dem sich die Kulturträgerschaft so gerne sonnt. Es macht mir Angst zu sehen, wie diese Tragödie der Kunst: die der unbekannten, die niemals eine Chance hatten, fortbesteht.
Genau das macht mir Angst, mit wieviel Gewissheit Theater "produziert" wird, wie genau und sicher man weiß, wie das und jenes "funktioniert", auf der Bühne, beim Publikum, im "Betrieb"; es macht mir Angst, mit welchen Gewissheiten und Sicherheiten die Macht monologisiert und keinen zu Wort kommen lassen will; es macht mir Angst wie die Verantwortung kleingemahlen wird, die jene einfach haben, die von all dem ohne Gefahr und Zutun profitieren, von all der Angst, inmitten so vieler Illusionen. Jeder, der angesichts dessen unschuldig bleiben will, der Gedanke stammt von James Baldwin, jeder, der darauf besteht unschuldig zu sein, auch wenn die Unschuld lange tot ist, der verwandelt sich in ein Monster. Etwas, das also wirklich Angst machen sollte.

Es macht mir auch Angst, dass angeblich alles besser und besser werde, dass man doch schon genug da und dort getan habe, dass Quotenregelungen oder Schutzklauseln urplötzlich unfair, ungerecht oder Missbrauch wären, die Opfer von gestern, so auch nur die kleinste Bewegung in das Labyrinth aus Privilegien und Diskriminierung kommt, durch einen Taschenspielertrick aus Neid und Feigheit plötzlich zu Profiteuren werden. Das ist ein sozialdarwinistischer Wahntraum der nämlichen Logik, dass der Markt schon alles richten wird und jede Quote denen schade, die sie stärken wolle: In diesem Sinne, liebe Yvonne Büdenhölzer, go for it. Meine Unterstützung hast du. Es ist Zeit, einen historischen Fehler zu korrigieren, denn nicht der Markt hat die Sklaverei abgeschafft, es ist der Markt, der sie noch heute aufrechterhält.

Und deshalb auch habe ich Angst, die sich in etwa anfuühlt wie die Phantasie, eines Tages alleine zu sterben, die Angst zu fragen: Welchen Unterschied habe ich gemacht. Wenn ich hingehe und arbeite, wenn ich versuche Theater zu machen, was bedeutet das? Ist es für irgendetwas gut? Bringt es, wie man so schön sagte, die Verhältnisse zum Tanzen, und was für ein Tanz soll das sein, ein Walzer? Ein Totentanz? Eine Masse in einem Meer aus Schwarzlicht im Club?

Was ist die Aufgabe von Kunst, hat sie eine Aufgabe, wozu soll die Angst gut sein, wenn ihre Kunst keine Wirkung hat? Reicht es zu sagen, der schiere Fakt, etwas zu erschaffen, sei bereits ein politischer Akt? Ist der hübsche Satz vom Theater als Spiegel der Gesellschaft bloße Phrase, und bleibt der Spiegel nur ein Spielzeug für die Eitelkeit? Was bedeutet es Künstlerin oder Künstler zu sein, was bedeutet es, Kunst schaffen zu wollen? Es gibt kaum Gewissheiten mehr, wenig Stabilität und weiße Gartenzäune; die gläsernen Sphären der Ordnung weisen Risse auf, hindurch dringt eine Art schwarzes kosmisches Gas, womöglich monströs, auf jeden Fall fremd, und die Moderne hat unsere Augen geschärft, dass wir es sehen.

Du musst wissen, dass da ein Horror auf der Bühne ist

Kahlil Gibran sagte, es gäbe kein tieferes Verlangen eines Menschen, als gesehen und enthüllt zu werden. Das ist ja das Herz des Theaters; im Zentrum des Bildes, das gesehen wird, steht ein Körper, der als Mensch enthüllt wird: umso schutzloser ist ein Mensch auf der Bühne gegen den Verrat, wenn auf seine Kosten Vorurteile reproduziert werden und durch das Besondere des Theaters sogar aufgeladen werden; wenn Sexismus, Rassismus, Queerfeindlichkeit, Antisemitismus, all das Gift ungehindert wirken kann, das sich in den europäischen Sprachen, also auch in den Texten des literarischen Kanons abgelagert hat.

Du triffst auf viele Leute, die so dermaßen gut Bescheid wissen. Weil sie schon so lange dabei sind. Ihren Job schon so lange machen. Reichlich Menschen beim Versagen studieren konnten. Da sind gar nicht genug Nasen, auf die sie das alles binden könnten: dass sie es schon vorher gewusst und schon immer gesagt haben, eine Telefonschleife aus ehrwürdigen Ahnen und Weisheit. Sie quellen über von Leitmotiven aus Gewissheiten und orchestrieren diese mit ewig wiederkehrenden Phrasen.

Aber es gibt die Dinge, die du nicht wissen kannst. Wo die Kunst eben der Respekt ist vor dem, was von deiner Warte aus auf der ganz anderen Seite liegt. Es gibt ein Wissen, das nicht gewusst werden kann, dass auch immer ein blinder Fleck, ein Exkrement in der gut geölten Dialektik ist, ein Wissen, das deshalb unheimlich ist, ekelhaft, verstörend, und welches nur auf jene Weise erfahren werden kann, wie sich junge Leute in Horrorfilmen unglaublich unsinnig verhalten und genau dahin flüchten, wo es doch klar ist, dass da der Horror lauert.

Das Falscheste ist es, dir und anderen einzureden, du wüsstest, worum es immer geht, dass du es verstehst, mit der Fermate "auch wirklich" verstehst, was im Leben der anderen vor sich geht. Du musst im Gegenteil wissen, dass da ein Horror auf der Bühne ist, meist sehr schön in Versen ausgestattet, und der zum Beispiel Luise oder Amalie heißt, die jemand erfunden hat, der nicht wissen konnte, was in Luise oder Amalie vor sich geht: Gerade in einer Welt, die er um sie herum nach seinem Ebenbild gestaltet hat. Sehr viele Welten wurden so gestaltet, Welten, in denen einige ohne Freiheit des Körpers und des Denkens existieren mussten, und in denen andere erst gar nicht vorkommen. Deren Abwesenheit aber Spuren hinterließ, weil um sie herumgeschrieben wurde, Spuren, die sich also nicht eingruben, sondern ein Relief bilden, ein Relief der Verschwundenen und Verstummten.

So rennt das System in Widersprüche

Dass ich jetzt für Respekt plädiere, löst eventuell ein paar Reflexe aus. Ich bekomme es mit, es macht mich traurig, was mir teils nachgesagt wird, mir persönlich. Jeder, der weiß, wie urbane Mythen operieren, weiß zugleich, mit wieviel stiller Post sich aller Gossip vollfrisst aus den Trögen der Kommentarspalten. Andrerseits genießt man ja sein Steak, wenn es besonders saftig ist, außerdem haben solche in kleinen Dosen verabreichten Stories ja ihre Agenda.

Denn Theater ist ein Ausnahmezustand, Zusammenspiel so vieler chaotischer Faktoren, dass man jedes Haus, wäre es ein Kernkraftwerk, aus Sicherheitsgründen vom Netz nehmen müsste. Da laufen teils widerstreitende, teils inkompatible Prozesse zugleich in eine Richtung, soviel Individualität kollektiviert sich hin zu einem neuralgischen Punkt: der Premiere – das kann für jene, die diese hochnervöse Maschinerie betreuen und warten müssen, zur kritischen Masse werden.

Wohlverstanden, jene, die sich selbst nicht kirre machen, haben oft den klarsten und lotsenden Blick. Wie z.B. die wunderbare Inspizientin aus Dortmund Tilla Wienand.
Was diese Menschen ermöglichen, dafür kann ich nur aufrichtig dankbar sein. Hingegen bei anderen verselbständigt sich das System, seine Wartung wird wichtiger als die Ergebnisse. Ein wenig wie bei den hypochondrischen Egoisten, die sonntags strahlend ihre Limousinen polieren und den Lack vor Kindern mit Luftgewehren schützen. So eben rennt das System in Widersprüche. Sie wollen die Rebellion, die bei ihnen selbst nichts verändern darf. Sie wollen die Berserker, die wohlerzogen sein sollen wie Musterschüler im ewigen Internat.

Das führt zu Situationen, wo das System zum Selbsterhalt unsere Arbeit auf den berüchtigten Platz verweisen will. Wo es von Kompromissen redet, Unterwerfung meint, wo es seine Organisationsformen auf Schöpfungsprozesse anwenden will, die niemals ein Bazar sind, auf dem man mittlere Ergebnisse verhandelt.

Das ist wenig subtil und soll es auch nicht sein. Es gibt ein Arsenal pädagogischer Tricks, um klarzustellen: Ich war schon hier und werde noch hier sein, wenn du schon lang vergessen sein wirst. Und bei der Regie bündeln sich die Spannungskräfte der Inszenierung noch einmal intensiver, läuft der Schnittpunkt vieler Ungerechtigkeit in einem teils inzestuösen System. Ich bedaure es, so ich deshalb ungerecht geworden bin. Ich bedaure, wenn ich Anlass für den Gossip gegeben habe, mehr noch bedaure ich, sollte ich Menschen erschreckt oder abgestoßen haben. Es tut mir leid. Doch Richtung der Kommentarspalten möchte ich den leider kürzlich verstorbenen Carl Jakob Haupt zitieren: Jeder sehe gut aus in einem schwarzen Anzug mit weißem Hemd. Es sei aber wichtig, "scheiße auszusehen und das auch auszuhalten".

Angst und Zorn als das Warum des Theaters

Genau das ist auch der Zorn. Der Zorn, dahin sich meine Angst entlädt. Nicht der Frust der Wutbürger oder jener Philosophen, die bürgerlich-autoerotische Phantasien von sich als Achilles oder Siegfried pflegen. Vielmehr Zorn im Sinne von Adrienne Rich, jener "poet of rage", die ein Gedicht verfasste, das für alle Kunstschaffenden gilt. Jede denkende Frau schlafe mit Monstern, "that beak that grips her, she becomes". Ja, ich habe Angst, und die Angst und den Zorn, und den Zorn als das Warum dessen, was ich mache.

Warum also.

Ich weiß nicht, ob es das eine Theater gibt, das die ganze Welt verändern kann. Ich glaube, ich habe mir das auch schon einmal gesagt, und klang mir selbst wie ein Tagelöhner des Mittelalters, der zum Lohn für Angst und Zorn und die Plagerei damit ein mehr oder weniger gut geleuchtetes Paradies erhoffte. Manchmal gleicht die Theaterlandschaft bei uns den verstreuten Dörfern und von Steppen umfangenen Städtchen in einem untergegangenen Kaiserreich; manchmal hörst du wochenlang nichts aus dem nächst gelegenen Ort, außer es geht um Kürzungen im Etat oder wenn eine Landesregierung deine Beteiligung an einer Demonstration gegen Menschenfeindlichkeit gleich als Bauernaufstand einstuft.

Aber der Punkt ist, in all diesen Orten brennt das Licht, wenn es dunkel ist. Eine Lust aus dem Öl der Angst und dem Funken des Zorns. Die Lust die Wahrnehmung aufzubrechen, nicht in Ruhe zu lassen, all derer, die sich bei dir zusammengefunden haben. Die Lust, Menschen zu enthüllen, sie als unzerstörbar in der Sklaverei der Normalitäten zu zeigen. Die Lust, sich in die erhabenen, vergifteten Texte zu stürzen, wie Schlangenbeschwörer und das Gift zu Fackeln zu machen. Die Lust, mal ganz popkulturell: auf dem Wall zu stehen und die Wache zu halten, wissend, dass die Welt ohne uns, ohne die Kunst, ohne die Theater, überrannt werden würde, von den Zombies aus der Schneewüste der Selbstoptimierung und von den Tyrannen der Effizienz und der Norm.

Zu uns kommen Menschen, und es sind dann diese Menschen, die einen Unterschied machen, die Entscheiderinnen sind, Veränderer, deren Universum wir wieder subjektiv machen können, nach dem Kältetod des Kapitalismus. Es ist eine Lust, ihnen Angst zu machen, ihnen den Zorn zu zeigen, all das in ein Bild zu gießen, was den falschen Bildern und Begriffen jedes Recht nimmt ungehindert zu existieren: weil es andere Bilder gibt, bessere Bilder, voller Körper und Musik und Poesie. Zu zeigen, dass die Vorstellung egal von was: real und sichtbar werden kann, jenseits der insgeheimen Fantasie. Dass eine Vorstellung von etwas der erste Schritt ist, dass etwas wird. Zunächst für die Dauer allein einer Vorstellung.

Aber jede Sekunde ist ein Anfang und ein Vorhang.