Kunst macht schuldig

von Cornelia Fiedler

Augsburg, 11. Mai 2019. Doro hat die Menschheit ausgelöscht. Sie hat es getan weil die Menschheit a) nicht freundlich zu ihr war – und weil sie b) zufällig die Mittel dazu hatte. Doro, eine gut vernetzte Video- und Performancekünstlerin, wurde nämlich einmal zu oft nicht geliebt, einmal zu oft nicht verstanden, einmal zu oft nicht unterstützt. Im Ranking der banalsten Gründe für einen Weltuntergang liegt Dietmar Daths neuestes Science-Fiction-Stück damit erst mal ganz weit vorn. Wenn der letzte Kommunist des FAZ-Feuilletons nicht plötzlich dem Nihilismus verfallen ist, darf das aber nicht alles sein. Also startet am Schauspiel Augsburg eine zweistündige Wahrheitssuche: "Die notwendige Folter".

Ein perfides System

Auf der nagelneuen Brechtbühne im ehemaligen Gaswerk hat Bühnenbildner Jan Steigert dafür einen zweckdienlichen Überwachungs- und und Misshandlungsapparat installiert: Ein Tisch mit Handschellen, ein klaustrophobischer, hoher Glaskasten, ein schwarzer Leichensack, der gelegentlich verdächtig zuckt, Vitaldaten-Monitore überall, eine verspiegelte Kontrollzentrale im Hintergrund. Ein perfides System zwingt die hier Inhaftierten, sich gegenseitig zu verhören. Sobald also Galleristin Eva am Tisch sitzend und gefesselt aufwacht, sobald sie feststellt, dass sie betäubt und entführt wurde und dass ihr kotzübel ist, muss Wissenschaftler Hark, der selbst im Glaskasten gefangen ist, sie befragen. Die nötigen Fragen dröhnen über ein Implantat direkt in sein Hörzentrum. Führen sie nicht zum gewünschten Ergebnis, jagen zwei anonyme Folterknechte namens Stier und Widder ihm unendlich quälende Wellen künstlich erzeugter Angst durch den Körper.

DienoetigeFolter1 560 Jan PieterFuhr uIn der Folterkammer: Natalie Hünig, Kai Windhövel, Anatol Käbisch, Sebastian Baumgart © Jan Pieter Fuhr

Die beiden, Andrej Kaminsky und Natalie Hünig, sollen nun klären, was ihre gemeinsame Bekannte Dorothee Coppe in den (um die gesamte Menschheit) erweiterten Suizid getrieben hat. Sie labern aber vor allem. Also wird Hark heruntergefahren und dafür mal Baqil (Anatol Käbisch), mal Sven (Sebastian Baumgart) aufgeweckt. Werden diese treulosen Ex-Liebhaber und Künstler gerade nicht benötigt, lagern sie übrigens im Leichensack oder in einer Kopie des Findlings von Timm Ulrichs, einem von vielen Zitaten zeitgenössischer Kunst auf der Bühne, von Anne Imhof bis Ed Atkins.

Die Kunst als Killer

In erstaunlich lockerem Plauderton wird nun zwischen den Folterungen der Tathergang rekonstruiert: Gemeinsam mit Neurowissenschaftler Henk hatte Doro (Linda Elsner) eine erste Videoinstallation entwickelt, die durch gezielte Manipulation der Wahrnehmung eine Massenschlägerei im Kölner Museum Ludwig auslösen konnte. In den folgenden drei Jahren platzierte sie dann weltweit massenhaft Kunstwerke, die diesen neuronalen Algorithmus enthielten. Der trieb die Menschheit Stück für Stück in den Wahnsinn – bis zum völligen Aussterben.

Als wissenschaftliche Basis für seine Sci-Fi-Manipulationen führt Dath das soziologische Konzept der "Erlebnisrate" ein: die Zeitspanne, die notwendig ist um einen Eindruck zu verarbeiten. Hält man Menschen gezielt vom Einordnen neuer Impulse ab, verlieren sie den Verstand – so Doros These. Die Reizüberflutung, die in Daths gedankenmäanderndem, logikkreiselnden Text angelegt ist, macht Schauspiel-Intendant André Bücker zum zentralen Motiv seiner Uraufführung: Neuronale Angriffe der Implantate versetzen die Akteur*innen regelmäßig in spastische Zuckungen und eindrucksvoll gespielte Sprachschleifen. Als Pendant dazu zerren die allgegenwärtigen Doro-Coppe-Videos der Gruppe "heimspiel" und die Soundattacken von Lilijan Waworka fast ständig an der Aufmerksamkeit des Publikums.

DienoetigeFolter3 560 Jan PieterFuhr uAnatol Käbisch alias Baqil  © Jan Pieter Fuhr

Schnell ist klar, dass alle Anwesenden mitschuldig sind. Sie haben immer nur auf Konkurrenz gesetzt, sie waren unfähig zu echter Liebe, sie haben gelogen und betrogen, haben nicht mehr und nicht weniger getan, als was das System, in dem sie leben, sie gelehrt hat. Doro wiederum lässt die gesamte Menschheit für ihre Verletzungen, ihre Wut, ihre Trauer büßen, auch so ein typisch menschlicher Kurzschluss.

Kein bisschen Liebe

Die Beziehungs- und Kunstszeneschäden der Konzeptkünstlerin Doro Coppe, die Dathleser*innen aus dem klugen Erzählband "Kleine Polizei im Schnee" kennen, werden hier ausführlichst bis ermüdend erörtert. Besonders sprechend ist die Metaphorik des Abends dennoch nicht. Wahrnehmungsverwirrte Menschen werden durch Wahrnehmungsverwirrung für ihre Wahrnehmungsverwirrung bestraft. Ein bisschen Liebe und Solidarität hätte sie davor bewahren können – aber beides haben sie, dem Kapitalismus sei dank, nie richtig gelernt. Mit diesem Problem bleiben die erkenntnisresistenten Kulturbetriebs-Figuren da unten auf der Bühne allerdings ziemlich für sich. Das systematisch reizüberflutete Publikum muss sich hier, allen Brecht- und Lehrstückanspielungen zum Trotz, nicht zwingend gemeint fühlen.

 

Die nötige Folter
von Dietmar Dath
Uraufführung
Regie: André Bücker, Dramaturgie: Lutz Keßler, Bühnenbild: Jan Steigert, Kostüme: Suse Tobisch, Video: Heimspiel, Musik: Lilijan Waworka
Mit: Sebastian Baumgart, Anatol Käbisch, Natalie Hünig, Andrej Kaminsky, Linda Elsner, Kai Windhövel, Lilijan Waworka
Premiere am 11. Mai 2019
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-augsburg.de

 

Kritikenrundschau

"Dath entwirft ein apokalyptisches Szenario, in dem sich (...) Liebesgeschichten (...) verschränken mit einem technisch-künstlerischen Untergangs-szenario. Größenwahn trifft auf Eifersucht, Weltbeherrschungs- undAusrottungsfantasien auf Liebeskummer", schreibt Richard Mayr in der Augsburger Allgemeinen Zeitung (13.5.2019). "Da befragen sich vier Menschen unter Androhung von Folter – und keiner von ihnen taugt zum Sympathieträger." Gleichzeitig nehme Dath geschickt Bezug auf Brechts Lehrstück "Die Maßnahme". "Regisseur André Bücker, sein Bühnenbildner Jan Steigert und die Kostümbildnerin Suse Tobisch haben für diese Uraufführung auf der neuen Brechtbühne im Gaswerkareal ziemlich viele kräftige Bilder gefunden und die Überforderung zum Programm gemacht", so Mayr."Immer läuft mehreres parallel auf Monitoren und auf der Bühne. Die Bühnenwelt als Reizüberforderung." Das "stark spielende Darstellerensemble" hauche der düsteren Parabel über den Fortschritt das Leben ein.

In einer "wirren Szenerie" hat Michael Laages "Schnellsprech-Hysterien bis zum Abwinken" gesehen. "Liefert schon das Bild ständig neue Fantasien, so springt auch Daths Text unablässig hin und her zwischen den Ebenen", resümiert Laages bei Deutschlandfunk Kultur (online als Text am 13.5.2019). "Augsburgs Staatstheater-Intendant Andre Bücker setzt mit aller Kraft auf schräge Effekte aus den gut sortierten Werkzeugkisten der Horror-, Splatter- und Science-Fiction-Ästhetik. Dadurch aber nimmt das Durcheinander immer noch zu. (…) Augsburgs Bühnen (…) haben sich mit diesem Auftrag offenkundig eine gehörige Überforderung eingehandelt – und das ist das beste, was sich über 'Die nötige Folter' sagen lässt."

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