Die Katastrophe im Rücken

von Valeria Heintges

Zürich, 15. Mai 2019. "Die Katastrophe muss kommen – und sie wird kommen." Als Naphta, der Kommunist und Kriegstreiber, den Satz sagt, ist "Die grosse Gereiztheit" nach Thomas Manns "Der Zauberberg" im Zürcher Schiffbau schon fortgeschritten und niemand mehr überrascht. Man weiß ja längst, dass Hans Castorp nur drei Wochen seinen Cousin im Sanatorium in den Schweizer Bergen besuchen wollte und dann sieben Jahre bleibt, um eine Tuberkulose auszuheilen, die er nie hatte. Und man weiß, dass am Ende der Erste Weltkrieg ausbrechen wird, den Castorp wohl nicht überlebt.

In Zürcher Schiffbau steht zudem die Katastrophe von Anfang an wie ein Menetekel an der Wand. Zuerst dräuen dunkle Wolken auf der Leinwand, dann stürzen alle Gewissheiten, kippt die Leinwand einfach weg, und die Zuschauer werden – auf einer fahrenden Tribüne sitzend – sozusagen in toto ins Sanatorium eingeliefert. Das ziert an der Hinterwand ein riesiger Totenkopf, der seine leeren Augenhöhlen zuweilen noch weiter aufreißt.

Düsteres Sanatorium

Auf dem Boden prangt das Röntgenbild seiner Lungenflügel, an der Wand das Herz, an den Seiten die Armknochen. Dazu Kachelwände voller Blutflecken, auch die berühmten Liegen sind Särge. Zuweilen wird laut keuchend und röchelnd gestorben und hinterher ordentlich desinfiziert.

Gereiztheit 560 MatthiasHorn uIm Schatten des Totenschädels: Lena Schwarz als Hans Castorp und Michael Neuenschwander als Arzt in "Die grosse Gereiztheit" © Matthias Horn

Mehrfach fährt die Tribüne vor und zurück, wird das Publikum eingeliefert ins Sanatorium und wieder entlassen. So wie Castorps Cousin Joachim Ziemßen, der sich selbst entlässt, um seine Karriere in der Armee fortzusetzen und nur noch zum Sterben zurückkehrt. Christian Baumbach spielt ihn geerdet und noch im Tod verzweifelt ordentlich. Wir kommen dem Sanatorium gefährlich nahe – bis am Ende das Ensemble im Chor Passagen aus dem Schlusskapitel "Der Donnerschlag" rezitiert und der Krieg uns auf unserer Tribüne zurückweichen lässt. Aber da wurden Tod und Krieg schon viel zu viel oft beschworen und bejubelt, da ist es für Reue zu spät.

Alle sind hektisch und konfus

Ein Sanatorium zum Krankwerden haben Thilo Reuter mit seiner Bühne und Adriana Braga Peretzki mit ihren Kostümen erschaffen. Alle sehen aus wie einem Monsterspektakel entsprungen. Wer hier krank ist, wer gesund, ist nicht mehr zu unterscheiden. Auch nicht bei den Ärzten von Michael Neuenschwander oder Ludwig Boettger oder der roboterhaften Krankenschwester von Isabelle Menke.

Richtig haben Regisseurin Karin Henkel und ihre Dramaturgin Viola Hasselberg ihre "Zauberberg"-Fassung "Die grosse Gereiztheit" nach dem vorletzten Kapitel des Romans benannt; gereizt sind alle, hektisch und konfus – auch ohne Einwirkung jeder Social-Media-Erregung. Friederike Wagners Karoline Stöhr plappert dumm und ohne Unterlass, Katrija Lehmanns Olga lässt derb und drastisch alle am Phänomen ihrer pfeifenden Lunge teilhaben.

Gereiztheit 560b MatthiasHorn uMonster-Gesellschaft, die Themen wie Glück und Wohlstand, Gesundheit und Krankheit, Traum und Wachsein umkreist © Matthias Horn

Schon nach wenigen Szenen durchzieht dieses Sanatorium die Atmosphäre eines Spinnennetzes, an dem jeder hängenbleibt, der es berührt. Carolin Conrad setzt dem als Castorp einen Rest von vorlauter Naivität und kindlicher Verwunderung entgegen, retten wird es ihn nicht. Lena Schwarz gibt einen zweiten Castorp, mal synchron, mal als Gegenüber im Traum, mal als flirrendes, übernervöses Alter Ego. Wenn sie auch die Rolle der Madame Chauchat übernimmt, in die sich Castorp verliebt, verwirrt die Doppelbesetzung jedoch mehr als dass sie erhellt.

Wohlstand um die Ohren gehauen

Doch trotz des bombastischen Bühnenbilds, trotz aller Livemusik (Leitung Alain Croubalian), Videoeinspielungen (Kevin Graber, Ruth Stofer) und unzähliger Regieeinfälle kreist die Inszenierung deutlich um ihre Motive in der Mitte, um Themen wie Zeit und Raum, Gesundheit und Krankheit, Körper und Seele, Traum und Wachsein. Gottfried Breitfuss spricht als Mynheer Peeperkorn Teile aus Dostojewskis "Der Idiot" und haut dem Publikum, etwas zu viel schreiend, den Wohlstand als Lebensglück um die Ohren. Und wenn Fritz Fenne als Settembrini und Milian Zerzawy als Naphta über die Zukunft Europas streiten, der eine die Allianz der bürgerlichen Demokratien in der Weltrepublik propagiert, der andere die klassenlose Gesellschaft und den notwendigen Terror herbeisehnt und überall Nationalismus und Individualismus sieht, dann ist jedem klar, dass dieser grotesk-beklemmende Abend kurz vor der Europawahl auch einen pessimistischen Kommentar zum Zustand Europas und der Welt liefert.

Zuweilen hängt er dennoch ein wenig durch, doch mag das die Tatsache entschuldigen, dass in den letzten beiden Probewochen Regieassistent Maximilian Enderle und Dramaturgin Viola Hasselberg zusammen mit dem Ensemble die Arbeit der erkrankten Regisseurin übernehmen mussten. Schade, hat doch Karin Henkel, von Viel Lärm um nichts über Elektra, Amphitryon und sein Doppelgänger bis zu Beute Frauen Krieg einige der besten Inszenierungen der Intendanz von Barbara Frey am Zürcher Schauspielhaus geliefert. Diese Premiere reiht sich ein in ihre bildmächtigen, aber nicht überladenen Arbeiten voller zwingender Ideen, die einen ganzen Abend tragen.


Die grosse Gereiztheit
nach "Der Zauberberg" von Thomas Mann
Regie: Karin Henkel, und Ensemble, unter der finalen Leitung von Maximilian Enderle (Regie) und Viola Hasselberg (Dramaturgie), Bühne: Thilo Reuther, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Musik: Alain Croubalian, Chorleitung: Christine Gross, Support Sounddesign: Arvild Bauld, Video: Kevin Graber, Ruth Stofer, Regieassistenz Maximilian Enderle.
Mit: Christian Baumbach, Ludwig Boettger, Gottfried Breitfuss, Carolin Conrad, Fritz Fenne, Katrija Lehmann, Isabelle Menke, Michael Neuenschwander, Lena Schwarz, Friederike Wagner, Milian Zerzawy, Alain Croubalian, Kay Buchheim, Matthias Lincke
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.schauspielhaus.ch


Mehr zu "Zauberberg"-Inszenierungen der jüngeren Zeit: Alexander Eisenach inszenierte Thomas Mann im Januar 2018 in Graz, Thom Luz 2015 in Basel.

 

Kritikenrundschau

"Der Zau­ber­berg ist hier mehr Ver­hör­kel­ler als Lu­xuss­a­na­to­ri­um", schreibt Hubert Spiegel in der FAZ (18.5.2019). Doch die Er­war­tun­gen, die der Ti­tel des Abends wecke, blei­ben un­er­füllt. "Die gro­ße Ge­reizt­heit" komme uns Heu­ti­gen als Phä­no­men und Stim­mungs­la­ge recht be­kannt vor, "aber der his­to­ri­sche Brü­cken­schlag bleibt all­zu va­ge. Mag Eu­ro­pa auch wie­der vor ei­nem Ab­grund ste­hen, so ist es doch ein an­de­res Eu­ro­pa und auch ein an­de­rer Ab­grund." Dem Abend fehle es an Rhyth­mus, Si­cher­heit der Mit­tel, Stim­mig­keit der Kon­zep­ti­on, "er hängt im Un­ge­fäh­ren zwi­schen Hoch­land und Flach­land, Ver­gan­gen­heit und Ge­gen­wart. Das ist kein Wun­der, denn knapp zwei Wo­chen vor der Pre­mie­re ist die Re­gis­seu­rin Ka­rin Hen­kel er­krankt und konn­te an den Pro­ben fort­an nicht mehr teil­neh­men."

"Buchstäblich umwerfend" findet Alexandra Kedves die Inszenierung im Tagesanzeiger (16.5.2019), sie schwitze "aktuelle Gereiztheit" aus. "Was ist Sein? Wiederholung!, wiederholt das Stück den Text. So pendeln wir in der Schiffbau-Halle auf der Tribüne immerzu vor und zurück, während drei Stunden verfliessen und Castorp sich, in Gestalt des grandiosen Frauenduos Carolin Conrad und Lena Schwarz, beim Dekadenzeln zusieht; sich selbst imitiert", so Kedves. "Für die letzte Schiffbau-Produktion unter Barbara Freys Intendanz wurde gross angerichtet, der Raum maximal bespielt, Technik aufgefahren, Regietheater zelebriert – und doch dem Roman wunderbar die Treue gehalten. Dass bisweilen, Thomas-Mann-fremd, undiszipliniert die Verzweiflung waberte und der Bombast: Das darf so sein an der mitreissenden Abschiedsparty."

Dass das Ensemble die Arbeit ohne Karin Henkel zur Premiere gebracht habe, "ist einerseits ermutigend, denn es zeigt Ethos und Zusammenhalt dieser Truppe. Es ist andererseits völlig desillusionierend, denn ohne wirkliche Regie will sich der zeitlupenhafte Lebensrhythmus der luxurierenden Dekadenzler droben auf dem Sanatoriumsberg nicht einstellen", sagt Christian Gampert im Deutschlandfunk (16.5.2019). Welchen Mehrwert zum Beispiel Hans Castorp in doppelter Hosenrolle ergeben solle, "wird nie ganz klar", so Gampert. "Man macht das halt so, Projekttheater, wir fahren auf den Zauberberg, holladihaho." Es werde auch nicht klar, was die 'große Gereiztheit' der Davoser Kur-Chargen mit dem krisengeschüttelten Europa von heute zu tun habe. "Von Thomas Manns 'Zauberberg' (...) ist (…) in Zürich nur ein Skelett übrig. Ein müder Debattierclub und eine mäßige Geisterbahn."

"Das Ensemble vollendete die Arbeit (…) unter Anleitung des Regieassistenten Maximilian Enderle und der Dramaturgin Viola Hasselberg", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (31.5.2019). "Es mag sein, dass deshalb nun manches unrund wirkt, manches zu flüchtig, manches zu ausführlich, aber es ist dennoch ein glitzernder Abend voll purer Theaterlust."

Kommentare  
Große Gereiztheit: jüngere Zauberberge
Nicht zu vergessen bei den ZAUBERBERG-Inszenierungen der jüngeren Zeit: die Tanztheaterversion, die Ballettdirektor Olaf Schmidt gemeinsam mit dem Regisseur Boris von Poser im Januar in Lüneburg herausgebracht hat: https://www.der-theaterverlag.de/tanz/aktuelles-heft/artikel/lueneburg-olaf-schmidt-der-zauberberg/
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