Muss der Kanon auf den Müll?

von Sophie Diesselhorst, Ute Frings-Merck, Lilly Merck und Elena Philipp

20. Mai 2019. Das Thema Geschlechterungerechtigkeit am Theater ist eines der meistdiskutierten der vergangenen Saison. Auch das Berliner Theatertreffen stand an seinem abschließenden Wochenende im Zeichen der dreitägigen Konferenz "Burning Issues", die von Nicola Bramkamp (ehemals Schauspieldirektorin in Bonn) und Lisa Jopt (Ensemble-Netzwerk) initiiert wurde und noch einmal die Situation von Frauen im Theaterbetrieb in den Fokus hob.

Burning Issues V 560 Sophie WanningerGruppenfoto am Eröffnungsabend von "Burning Issues", an dem nach ein paar gut gelaunt schwesterlichen Eröffnungsworten vor allem Plausch und Party angesagt waren. © Sophie Wanninger

Theatertreffen-Chefin Yvonne Büdenhölzer hatte das Thema allerdings schon kurz vor Beginn des Theatertreffens auf die Agenda gesetzt, indem sie eine 50-Prozent-Frauenquote für Regiepositionen für die nächsten zwei Festivalausgaben verkündete, was zu heftigen Diskussionen u.a. unter den nachtkritik-Kommentator*innen führte. Zum Abschluss der "Burning Issues" sprach Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU), deren Haus die Konferenz mitfinanziert und 2016 die maßgebliche Studie zu "Frauen in Kultur und Medien" initiiert hat, sich gegen diese Quote aus: "Einer zusätzlichen Quote hätte es beim Theatertreffen nicht bedurft. Die Vermischung struktureller und qualitativer Kriterien halte ich für schwierig", sagte Grütters. Sie setze auf paritätische Besetzungen von Jurys und das 2018 gestartetes Mentoringprogramm für Frauen, die Leitungspositionen anstreben.

Was in Schweden besser läuft – Veränderung durch Top-down-Politik

87 Prozent der Regisseur*innen, die seit 1964 zum Theatertreffen eingeladen waren, sind männlich. In diesem Jahr liegt man mit drei Einladungen von Frauen bzw. weiblich dominierten Kollektiven gleichauf mit der Gesamtstatistik, nach der lediglich 30 Prozent der Regiepositionen an deutschen Theatern mit Frauen besetzt sind. Ohne Quote werde sich an diesen Zahlen nichts ändern, sagt Theatertreffen-Chefin Yvonne Büdenhölzer, sagen die Aktivist*innen der Organisation Pro Quote Bühne.

Allerdings rückten beim abschließenden Panel mit den Intendant*innen der Theater, die dieses Jahr mit den "zehn bemerkenswertesten Inszenierungen" zum Theatertreffen eingeladen waren, andere Maßnahmen in den Vordergrund. Als Vertreterin der deutsch-schwedischen Koproduktion Persona (Regie: Anna Bergmann) erklärte Kitte Wagner, Chefin des Malmö Stadsteater, welche Maßnahmen zu mehr Geschlechtergerechtigkeit und einem familienfreundlicheren Arbeitsklima in schwedischen Kulturinstitutionen geführt hätten: Transparenz – Leiter*innen müssen ihre Statistiken in regelmäßigen Abständen vor dem Aufsichtsrat präsentieren und sich "für Ungleichheit rechtfertigen". Eine Elternzeitregelung (Männer müssen vier Monate Elternzeit nehmen) und das Einfrieren von Verträgen während der Schwangerschaft. Ein verbindlicher Verhaltenskodex, der mit jedem*r neu ans Haus kommenden*r Regisseur*in vor Arbeitsbeginn durchgesprochen wird, sowie vom Kulturministerium durchgeführte anonyme Umfragen in allen Theatern zum Thema sexuelle Belästigung und Machtmissbrauch. Und ein Mentoringprogramm, das 2004 der damalige Kulturminister Leif Pagrotsky begründete. Damals wurden nur zwei von 37 Theatern des Landes von Frauen geleitet – nur sieben Jahre später waren es 20.

Burning Issues III 560 Piero ChiussiKulturstaatsministerin Monika Grütters spricht am Abschlusstag der Konferenz – und kritisiert die Frauenquote, die für die nächsten beiden Theatertreffen-Ausgaben gelten wird © Piero Chiussi

"Der entscheidende Schritt ist die Eroberung der letzten Leitungsebene", sagte Kitte Wagner mit Blick auf die deutschsprachige Stadttheaterlandschaft, in der die meisten Dramaturg*innen Frauen und die meisten leitenden Dramaturg*innen und Intendant*innen Männer sind. Und sie betonte: "You wash the staircase from above." Veränderung funktioniere nur als "Top-down-Prozess" von oben nach unten. Vielleicht sollten die Theaterverbände also ihren zum Auftakt der "Burning Issues" lancierten Forderungskatalog an Monika Grütters noch einmal konkretisieren.

Von wegen "Ladies only" – nicht nur ein Frauenthema

Dass das Thema Geschlechtergerechtigkeit für viele Chef*innen der deutschsprachigen Theaterlandschaft noch nicht Chefsache zu sein scheint, legte die Besetzung des Panels nahe, wo mit dem Intendanten des Staatsschauspiels Dresden Joachim Klement nur ein Mann vertreten war, Andreas Beck aus Basel und Ulrich Khuon vom DT Berlin hatten ihre Chefdramaturginnen entsandt, Matthias Lilienthal (Münchner Kammerspiele), Kay Voges (Schauspiel Dortmund) und Roger Merguin (Theaterhaus Gessnerallee Zürich) ganz abgesagt. "Die Kollegen haben sich gedrückt", sagte Annemie Vanackere vom HAU Berlin. Und Franziska Werner von den Sophiensaelen betonte: "Es ist nicht nur ein Frauenthema."

"Let the Fame Grow" – die selbsternannten "Scheißspielerinnen" Melanie Schmidli und Anne Haug vom Projekt Schooriil © Youtube / Berliner Festspiele

Die "Burning Issues" hatten am Freitag allerdings selbst mit einer "Ladies only"-Veranstaltung eröffnet, die an die Gründungsveranstaltung vom letzten Jahr im Theater Bonn anknüpfte, zu der nur Frauen zugelassen waren. Am Samstag gab es vormittags eine Performance von Projekt Schooriil und eine Podiumsdiskussion über die "gläserne Decke", nachmittags eine "Academy" mit zahlreichen Workshops. Die Ethnologin Ute Frings-Merck, ihre Tochter, die Schülerin Lilly Merck (16) und nachtkritik-Redakteurin Sophie Diesselhorst haben den Samstag zusammen verbracht und tauschen sich über ihre Eindrücke aus (Protokoll: Elena Philipp):

 

Sophie Diesselhorst (SD): Ute, Lilly – ihr seid nicht andauernd mit Theaterthemen beschäftigt; was war Euer Eindruck von diesem Branchentreffen, wie schaut ihr von außen drauf?

Lilly Merck (LM): Ich verbinde Frauen- und Feminismusdebatten ja eher mit amerikanischen Serien als mit Theater. Und ich hatte den Eindruck: Man muss noch viel ändern. Frauen und PoC sind nicht angemessen repräsentiert im Theater. Ich hatte zum Beispiel noch nie vorher von "Yellowfacing" gehört und habe heute gelernt, dass es das im Theater gibt: dass weiße Leute versuchen, asiatische Menschen zu repräsentieren, in dem sie Stereotype abrufen. Das kann ich mir in einer Serie nicht vorstellen.

Ute Frings-Merck (UFM): Das Problemfeld der Unterrepräsentation von Frauen auf allen Ebenen des Theaters ist deutlich geworden: Regisseurinnen, Dramatikerinnen, Schauspielerinnen. Die Studie von Monika Grütters wurde oft zitiert, sie ist deshalb so wichtig, weil sie die Diskussion mit Statistik unterstützt.

SD: Was mir aufgefallen ist: Es möchten anscheinend vor allem Frauen, dass sich etwas ändert. Es waren recht wenige Männer da.

UFM: In meinem ersten Workshop bei She She Pop war kein einziger Mann. In der Vorstellungsrunde stellte sich heraus, dass vor allem Studentinnen oder arbeitslose Schauspielerinnen anwesend waren – wo waren die Stars? Nina Hoss etc. Es waren die da, die ohnehin um Aufmerksamkeit kämpfen.

SD: Die Weichen waren auf Empowerment gestellt. Das sagte ja auch heute Vormittag im Delphi Kino beim Panel zur "gläsernen Decke" die irische Festivalleiterin Maria Fleming: Früher haben wir gegen etwas protestiert, heute funktionieren Kampagnen positiv, man setzt sich FÜR etwas ein. Es besteht dabei manchmal ein bisschen die Gefahr, dass vor allem Befindlichkeiten ausgetauscht werden und komplexe Zusammenhänge vereinfacht werden. Für mein Gefühl wurde eher nach Fragen als nach Antworten gesucht, und es wurden sehr viele Repräsentationsfragen aufgeworfen: Wie können Intendantinnen und Regisseurinnen die "gläserne Decke" durchstoßen? Wie werden Rollen verteilt, welche Rollen gibt es überhaupt für Frauen?

Das "Burning Issues"-Panel "Somewhere over the Glass Ceiling" mit (von links) Franziska Werner (Künstlerische Leitung Sophiensæle, Berlin), Nele Hertling (Direktion Sektion Darstellende Künste, AdK, Berlin), Maria Fleming (General Manager Dublin Theatre Festival), Nina Röhlcke (Kulturattachée der Schwedische Botschaft), Barbara Mundel (des. Intendantin Münchner Kammerspiele) und Moderatorin Margarita Tsomou (Kuratorin HAU, Berlin) © Youtube / Berliner Festspiele

UFM: Wir haben eine Performance von fünf Schauspiel-Studentinnen der "Ernst Busch" gesehen, die übrigens auch auf Empowerment statt Widerstand setzten und sagten: "Warum sollten wir uns mit denen auseinandersetzen, die eh nichts ändern wollen?" Sie haben in einer kollektiven Arbeit zu fünft aus klassischen Texten wie "Faust", "Emilia Galotti", "Kabale und Liebe", "Maria Stuart" die Frauenrollen genommen und Sätze kompiliert zu einer Parodie der Klischee-Frauenrolle, die entweder eine verschämte Jungfrau ist oder eine Schlampe und auf jeden Fall irgendwann stirbt oder wenigstens wahnsinnig wird. Das war spannend. Aber was macht man jetzt aus dieser Erkenntnis? Muss man den Kanon in den Müll schmeißen? Muss man ihn neu interpretieren und die ganz doofen Sätze einfach streichen?

SD: In der Freien Szene, die sich nicht am Kanon abarbeitet, steht es ja tatsächlich generell sehr viel besser um die Geschlechtergerechtigkeit. Gleichzeitig wird hier mit kleineren Budgets operiert – und dementsprechend kleinerer öffentlicher Aufmerksamkeit.

LM: In meinem Workshop mit der Theatermacherin Olivia Hyunsin Kim, die in der Freien Szene arbeitet, und der Filmemacherin Sun-ju Choi wurde gesagt, dass in den letzten zehn Jahren schon viel passiert ist in Richtung Gender-Sensibilität! – auch wenn immer noch viel zu tun ist.

SD: Wie nehmt Ihr eigentlich die theaterinterne Debatte wahr im Vergleich mit gesellschaftsweiten Debatten um Feminismus und Gleichstellung?

UFM: Ich glaube, dass es im Theater nicht sehr anders ist als in anderen Bereichen.

1a FrauenImTheater Kuenstlerische Berufe 560SD: Vielleicht bildet das Theater die Gesellschaft ab, wie es das möchte, und übertreibt dabei, wie es das ja auch möchte. Ich habe schon manchmal das Gefühl, Ausnahmen bestätigen die Regel, dass Theaterleute gerne ausgiebig davon reden, wie sehr sie leiden. Seelenstriptease als professionelle Deformation. Die Busch-Studentinnen haben das in ihrer Frauenrollen-Performance auf die Schippe genommen, als sie einen Dozenten zitierten: "Kunst ist Opferbereitschaft!" Aber ich glaube, dass diese Haltung eigentlich immer noch sehr verbreitet ist, bei Männern und Frauen. Und wenn man das Leiden so sehr braucht, ist man dann wirklich bereit, seine Ursachen zu bekämpfen? Was meine Skepsis milderte, war im Nachgespräch zu der Frauenrollen-Performance der Busch-Studentinnen die DT-Schauspielerin Katrin Wichmann, die sagte, dass die jungen Kolleg*innen, die von der Uni kommen, sehr viel selbstbewusster seien als sie früher. Auch im Workshop, in dem es um die Geschlechtergerechtigkeitsdebatte an Schauspielschulen ging, hatte ich den Eindruck, dass die Studierenden sich zunehmend gegen klischierte Rollenbilder wehren – ein Busch-Dozent erzählte von einer Studentin, die sich gegen die Anweisung ihrer Dozentin weigerte, für ein Szenenstudium hochhackige Schuhe zu tragen, und sagte: Vor ein paar Jahren wäre es noch nicht denkbar gewesen, dass eine Studentin mit sowas durchkommt. Aber jetzt schon. Ich hoffe, dass es stimmt, dass der Nachwuchs selbstbewusster ist – und das hat bestimmt viel mehr mit einer gesamtgesellschaftlichen Debatte über das Thema zu tun, die ja übrigens auch die Erwartungen des Publikums verändern dürfte!

LM: Es ist gut, wenn Schauspielerinnen selbstbewusster werden! Es ist wichtig, dass Feminismus und Diversität im Theater verhandelt werden, unsere Generation braucht mehr davon.

SD: Glaubst Du, dass das Thema im Theater eine andere Wirkung auf Dich hat als wenn Du eine Serie guckst?

LM: Ja, ich glaube schon, es ist realer, man sieht es vor sich passieren. Die Bedeutung, die dahinter ist, lässt sich leichter hinterfragen. Im Hollywood-Film erwartet man, dass sich jemand verliebt, im Theater denkt man mehr darüber nach.

SD: Renate Klett erzählte am Freitag in ihrer Eröffnungsrede von der Bewegung "Frauen im Theater", die vor 30 Jahren ähnliche Ziele und eine ähnliche Gestalt hatte wie heute die "Burning Issues", aber es erinnert sich niemand mehr dran. Sie bezeichnete diese mangelnde Kontinuität als ein "Phänomen der Frauenbewegung insgesamt".

UFM: Natürlich ist das eigentlich nichts Neues, was jetzt hier passiert. Es scheint, dass jede Generation aufs Neue Widerstand gegen das Alte formulieren muss. Das, was frühere Generationen erkämpft haben, ist längst in den Mainstream integriert. Jetzt geht es darum, den Handlungsspielraum zu vergrößern: mehr Gleichberechtigung, weniger Diskriminierung. Darüberhinaus geht es schon lange nicht mehr "nur" um Sexismus, den Gender Pay Gap und Kinderbetreuung, sondern eben auch um Rassismus, um Diversität, um die Frage: Wie wollen wir leben?

SD: Ein Unterschied von heute zu früher ist ja auch, dass so eine Bewegung über Social Media eine größere Aufmerksamkeit generieren kann – wie in Irland "Waking the feminists". Maria Fleming erzählte, wie diese Hashtag-Kampagne für mehr Geschlechtergerechtigkeit in Kulturinstitutionen funktioniert hat: Erst gab es die Debatte über ein sehr männerlastiges Programm, dann hat Meryl Streep sich mit dem Hashtag fotografiert, und plötzlich war die Aufmerksamkeit riesig – im Endeffekt habe das mittlerweile dazu geführt, dass sich zehn führende Institutionen eine "gender policy" gegeben haben und "jede*r Intendant*in vor Veröffentlichung des Programms einmal durchzählt, wie viele Frauen- und Männerpositionen es enthält". Davon könnte man lernen, oder?

LM: Naja. Die Influencer*innen und Promis haben eine große Macht. Aber wir normalen Menschen können nicht soviel tun.

SD: Siehst Du eine "gläserne Decke" auf Dich zukommen oder ist das in Eurer Generation anders?

LM: Man weiß schon, dass Männer immer eher den Job kriegen würden. Der Wechsel geht nicht so schnell, glaube ich.

UFM: Warum eigentlich? Warum kann es nicht schnell gehen? Man muss es nur politisch wollen.

SD: Wie? Mit Quoten? Bräuchte es vielleicht sogar eine 100 Prozent Quote fürs Theatertreffen, wie Franziska Werner von den Sophiensaelen auf dem Panel heute Vormittag vorschlug?

UFM: Quoten funktionieren für einen begrenzten Zeitraum, um auf einen Missstand aufmerksam zu machen. Ziel ist doch, dass die Kategorie Gender keine Rolle mehr spielt, zumindest nicht bei der Vergabe von Posten, den Löhnen, der künstlerischen Anerkennung.

SD: Im Theater sind es ja immer noch meistens Männer, die einstellen – und von ihnen sind wenige hier.

LM: Ich glaube, die "unconscious bias" betrifft nicht nur Männer, auch Frauen haben Vorurteile und tragen sie weiter. Beim ersten Workshop haben wir einen kurzen Ausschnitt aus einem Dokumentarfilm gesehen über ein Vorsprechen an der Schauspielschule in Hannover. Dort ist eine asiatischen Frau deswegen nicht weitergekommen, weil sie "keine Emotionen" hätte und sowieso keine Chance hätte an den Theatern und im Filmbusiness. Es war eine Frau, die ihr sagte, dass sie keine Chancen hätte – ich hätte eigentlich gedacht, dass sie der Schauspielschülerin hilft weiterzukommen, aus Solidarität.

SD: Es geht für Dich nicht nur um den Kampf von Frauen, sondern um einen breiteren Kampf, oder?

LM: Ja, der Kampf von Frauen und z.B. von People of Colour hängt für mich zusammen.

SD: Was ist euer Resümee?

UFM: Ich denke, bei allen kritischen Momenten ist die Veranstaltung grundsätzlich positiv und es sollte sie im nächsten Jahr wieder geben. Man kann Dinge aufnehmen und verändern, etwa die Frage, ob nicht der Dialog mit den Männern auch wichtig ist. Insgesamt herrschte eine gute Stimmung, und ja, es hat Spaß gemacht.

LM: Ich fand's auch gut. Ich habe viel übers Theater gelernt. Bisher hatte ich nur Aufführungen gesehen und nicht so viel darüber nachgedacht, was hinter den Kulissen passiert.

Abschlusstag von "Burning Issues" u.a. mit Monika Grütters und den Intendant*innen der Theater in der Zehner-Auswahl © Youtube / Berliner Festspiele

SD: Und was bleibt davon hängen?

UFM: Die Kinder-Frage wurde für mein Gefühl völlig falsch diskutiert, wie man das Theater familiengerechter gestalten könnte – da müssen die Männer mitreden, das können die Frauen doch nicht unter sich ausmachen. Schlimm fand ich außerdem die Diskussion über "weiblichen Führungsstil" auf dem Panel heute Vormittag, diesen Begriff halte ich für biologistischen Quatsch. Es wurde ja auch überhaupt nicht klar, was das sein soll. Als Denkanregung bleibt bei mir vor allem die Kanon-Frage hängen, die vormittags auch schon Projekt Schooriil in ihrer Performance auf den Punkt brachten: Bei Hamlet geht es um die Welt, bei Ophelia um Hamlet.

SD: Über die Vereinbarkeit von Familie und Theater wurde ja auch in einer Diskussionsrunde gesprochen, u.a. mit Hasko Weber, dem Vorsitzenden der Intendantengruppe im Bühnenverein, der als Intendant in Stuttgart z.B. seinerzeit einen Betriebskindergarten eingerichtet hat. In dieser Runde wurde vor allem klar, dass es für familienfreundlichere Strukturen eigentlich dringend mehr Geld bräuchte. Was den Kanon angeht, müsste man da auch nochmal ein bisschen genauer hingucken. Diese Klassiker werden ja nirgends vom Blatt gespielt, sondern gründlich dekonstruiert. Man müsste also statt ins Reclamheft auf die Bühnen gucken und analysieren, inwiefern diese Dekonstruktionen Geschlechterklischees aufheben können – oder eben auch reproduzieren. Für mich blieb außerdem hängen, dass immer wieder die Rede von den "mächtigen Männern" war, sie aber nie beim Namen genannt wurden, höchstens von Projekt Schooriil beim Vornamen. Man schwört sich ein gegen einen Feind, aber so richtig angegriffen wird er dann doch nicht. Schön fand ich die Offenheit, mit der ein junger Regisseur in einer Videobotschaft sagte: Ich würde auch gern Intendant werden, aber jetzt sind halt die Frauen dran – damit muss ich klarkommen, dass ich mich vielleicht irgendwann ungerecht behandelt fühlen werde.

UFM: Ja. Es ist der individuelle Regisseur, der den Job nicht kriegt – er hat jetzt einfach Pech gehabt. Der Mann muss dafür büßen, dass seine Geschlechtsgenossen jahrtausendelang die Vorzüge des Patriarchats ausgekostet haben.

 

 

Im Themen-Dossier gibt's alles zum Thema Frauen im Theater.

Im Theaterpodcast #3 sprachen Elena Philipp (nachtkritik.de) und Susanne Burkhardt (Deutschlandfunk Kultur) u.a. über Burning Issues, die erste Konferenz der Theatermacher*innen im März 2018 in Bonn

Im Mai 2018 hat Anne Peter in einem Überblickstext über Geschlechterungerechtigkeit im Theaterbetrieb, über Gründe für die strukturelle Benachteiligung von Frauen und mögliche Lösungsansätze geschrieben.


Presseschau

In ihrem großen Festivalabschlussbericht schreibt Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (22.5.2019) lang über die Konferenz "Burning Issues", wo "in vielen Köpfen Funken gesprüht" haben. Es habe "keine Lösungen, aber viele gute Anregungen" gegeben. "Zum Beispiel: Selbstverpflichtungen der Theater, Offenlegung der Gagen, Schutz der Ensemblevertretungen, Einführung von Feedback-Runden." Zweifel meldet die Kritikerin der SZ an der künftigen Frauenquote des Theatertreffens an, die Monika Grütters mit "guten Gründen" kritisiert habe.

Der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (22.5.2019) ist die "Burning Issues"-Konferenz nur eine Randnotiz wert. Durch Theaterkritiker Simon Strauß wird die Rüge von Monika Grütters an der künftigen Quotenregelung vermeldet. "Das diesjährige Theatertreffen, das seine künstlerischen Defizite mit gleichstellungspolitischen Debatten zu kompensieren hoffte, erleidet somit auch hier eine Schlappe", heißt es im Text. Mit der Meldung verbunden ist die Korrektur einer Annahme in einem FAZ-Artikel von Simon Strauß vom 2. Mai 2019, die Quoten-Entscheidung könne im Auftrag von Monika Grütters eingeführt worden sein.

Fair wirkt die Quote für Jan Küveler von der Welt (22.5.2019) nur auf den ersten Blick, denn da nur ein Drittel der Inszenierungen im deutschsprachigen Raum von Frauen stammten, würden "künftig Frauen effektiv bevorzugt". Pädagogisch wirken wolle die Quoten-initiierende Theatertreffen-Leiterin Yvonne Büdenhölzer, fasst Küveler die "Burning Issues"-Konferenz zusammen, und "die Intendanten quasi so lange mit den Frauen-Wildcards ködern, bis sie, gierig auf werbewirksame Theatertreffen-Einladungen, endlich mehr Regisseurinnen engagierten". Die Hochstimmung über "den fatamorganahaft vor Augen stehenden Sieg", schreibt Küveler, "ging so sehr mit einigen Talking Heads der Begleitpanels durch, dass nicht nur Kulturstaatsministerin Monika Grütters sich genötigt sah, beschwichtigend einzugreifen". Auch Franziska Werner von den Berliner Sophiensälen warne "vor 'biologistischen'' also letztlich sexistischen Annahmen, Frauen wären per se die besseren Führungspersonen". Angesichts der Diskussionen ums Erben und Wohneigentum in She She Pops "Oratorium" bemerkt Küveler weiterhin: "Womöglich gibt es noch andere Privilegien, die passgenauere Schlüssel zu Macht und Mitbestimmung sind, als das Geschlecht. Kann man ja beim nächsten Theatertreffen drüber nachdenken."

"Wie hast du es mit der Frauenquote", benennt Christine Wahl im Tagesspiegel (20.5.2019) die Gretchen-Frage des diesjährigen Theatertreffens. Interessanter als eine Quote findet Christine Wahl allerdings den Vorschlag eines Intendanten: "eine gendertechnische Blindfold-Sichtung der Inszenierungen durch die Jury". So richte sich der Blick "von der Betriebsstruktur weiter auf das (von der Jury) ja letztlich zu beurteilende ästhetische Phänomen". Wie hätte etwa die "unter dem Feminismus-Aspekt allenthalben gefeiertste Inszenierung", Anna Bergmanns "Persona", im Blindfold-Test abgeschnitten? Mit Franziska Werner, Leiterin der Berliner Sophiensaele, ist auch Christine Wahl sicher, dass Regie führende Frauen nicht automatisch auch die progressiveren Geschlechterbilder produzieren. Die Inszenierungen der diesjährigen Auswahl fallen ihrer Ansicht nach hinter das Theater von Rene Pollesch zurück, einem der "feministischsten Regisseure überhaupt", bei dem es keinen Unterschied mache, "ob seine Theorie-Pop-Diskurse von Martin Wuttke oder Kathrin Angerer, von Fabian Hinrichs oder Astrid Meyerfeldt gesprochen" würden.

"Der Theaterbetrieb, der sich selbst als gesellschaftskritische Avantgarde feiert, ist in Wirklichkeit ein alter, weißer und sexistischer Mann", formuliert Anna Fastabend in der SPEX (22.5.2019) den Ist-Zustand in Sachen Geschlechtergerechtigkeit am Theater. Die Autorin beleuchtet verschiedene Themenschwerpunkte der Konferenz und setzt ihren Akzent auf die Geschlechterbilder im Stückekanon und die Forderung, "hier und da mal auf den Geniekult rund um Shakespeare, Strindberg und Co. zu verzichten und damit weiblichen, queeren und anderweitig diversen Perspektiven mehr Raum zu geben." Die auffällige Abwesenheit von Männern auf der Konferenz kommentiert sie mit entsprechendem Bezug: "Männer, die struktureller Sexismus nicht im selben Maße wie Frauen betrifft, nutzen ihre kostbare Zeit vermutlich lieber zur Entwicklung ihres nächsten hypergenialen Stücks."

 

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