Regeln neu verhandeln

von Nikolaus Merck

Dresden, 23. Mai 2019. Das 4. Europäische Bürgerbühnen Festival ist in der zweiten Halbzeit. Noch bis zum kommenden Samstag geht es an der Elbe um die Öffnung des Theaters für nichtprofessionelle Spieler*innen. Nikolaus Merck hat seine Zelte in Dresden aufgeschlagen. Nach seinem Auftaktbericht sendet er Splitter von unterwegs, Ansichten des Festivals, die basale Elemente dieses Bürgertheaters befragen.

Orte und Erscheinungen

Das site specific, also ortsgebundene Theater, in dem der Raum oft stärker in die Gefühlsgedanken greift als das Spiel, gehört längst zum gängige Repertoire auch der Bürgerbühnen oder dem, was Miriam Tscholl als Kuratorin von "Our Stage" darunter fassen will: Alle Varietäten von professionell gefertigtem Theater, in dem nicht-professionelle Schauspieler als Experten ihres Alltags eine wesentliche Rolle spielen. Simon Sharkey, Mitgründer des National Theatre of Scotland (NTS), gibt in einer Lecture bildstarke Einsichten.

Das schottische Nationaltheater besitzt kein eigenes Haus, stattdessen tourt es durch aufgelassene Fabriken, Parkdecks, Telefonzellen, spielt mal mit Profis, mal mit Laien auf Fähren, in Telefonzellen und inmitten der Highlands. Dort erscheint einer alten Sage gemäß dem Wanderer gelegentlich die mystische, in eine Art weißer Mönchskutte gekleidete Gestalt White Wife. Alle Schotten kennen diese Mär. Das NTS nahm die Geschichte auf und ließ Autofahrern, die nächtens beduldet über Land fuhren, die White Wife erscheinen, die dann zu den Überraschten ins Auto stieg und sie über ihr Leben befragte.

Die Idee der Partizipation im Theater und draußen

Partizipation ist Teilnahme und Teilhabe des einzelnen an etwas Größerem, definiert Ulrich Khuon, in seinem Eröffnungsvortrag zum 4. Europäischen Bürger Bühnen Festival. Birgit Eriksson, Professorin in Aarhus, unterscheidet zwischen horizontaler und vertikaler Partizipation. Wenn die Kinder beim Mannschaftenwählen den Dicken schließlich auch noch aufrufen und mitmachen lassen, handelt es sich um horizontale Partizipation. Wenn der Dicke, nachdem er gewählt wurde, über neue Regeln der Mannschaftswahl verhandeln kann, ist das vertikale Partizipation.

Stadium OurStage 560 Klaus Gigga uOffenes Staatsschauspiel: "Stadium" von Mohamed El Khatib & Collectif Zirlib lief zum Festivalauftakt © Klaus Gigga

Ortswechsel: Montagabend auf dem Dresdner Altmarkt. Pegida ruft "Widerstand! Widerstand!", sobald der Name von Angela Merkel fällt, und meint: Noch sind wir wenige, bald sind wir viele, dann stürzt das System und wir übernehmen. Nicht um Revolution geht es hier, sondern um vertikale Partizipation, nicht der Staats- und Machtapparat selber, sondern die ihn derzeit Beherrschenden sollen beseitigt werden, um dann den Apparat von innen heraus in ein deutsches Orbanistan zu verwandeln. Man erkennt: Trotz des demokratischen Dur-Akkords, der das Wort von der Partizipation so lockend umschmeichelt, kann von demokratischem Fortschritt nicht in jedem Fall die Rede sein.

Die Grenzen der Partizipation: Wer wird eingebunden?

Bei Partizipation im Theater geht es nicht um politische Macht. Theater, sagt Bühnenvereins-Präsident Ulrich Khuon, ist "ein Frageraum, kein Antwortraum". Soll heißen: Die Theatermacher*innen nehmen für sich in Anspruch, Fragen an die Einzelnen und die Gesellschaft zu stellen. Das ist hierzulande seit Schiller ein Allgemeinplatz. Anders herum stellt sich die Sache schwieriger dar, wenn etwa die Gesellschaft die Theater fragt, warum es auf Bühnen und in Zuschauerräumen so wenige Migrant*innen, People of Color, Menschen mit Behinderung oder Arbeitslose gibt. "Das Theater muss sich öffnen zur Welt, die es umgibt", sagt Khuon, "und sich nicht mit der Welt verwechseln".

Adressless 560 Mate Barthaneu uMehr Stadtrealität abbilden: Das interaktive Gesellschaftsspiel "Addressless" von Lifeboat Unit – STEREO AKT aus Ungarn thematisiert die Situation von Obdachlosen © Mate Barthaneu

Für Miriam Tscholl, Chefin der Dresdener Bürgerbühne, ist die schiere Existenz ihres Instituts als Sparte des Staatsschauspiels, ein Beweis dieser Öffnung. Immerhin 3.000 Dresdener spielten in den letzter zehn Jahren in den Spielclubs oder den Hauptproduktionen, 18.000 Zuschauer*innen wurden erreicht. Ein Erfolg, zweifellos. Aber welche bislang dem Theater fremd bis desinteressiert gegenüberstehenden Gruppen, konnten die Spielhäuser dauerhaft an sich binden? Einfach gefragt: Wie viele Migrantinnen etwa spielen in Bürgerbühnen, verbinden sich dauerhaft mit dem Theater und verändern es?

Ist Partizipation, im Sinne einer aktiv die Institution transformierenden Teilhabe, nicht überhaupt nur möglich, wenn ein gerüttelt Maß an Freizeit, ein auskömmliches Einkommen und entsprechendes kulturelles Kapital, also Bildungsvoraussetzungen, es erlauben? Ist also Partizipation im Theater am Ende ein genuin bürgerliches Unterfangen, das die Schwelle zu den bislang ausgeschlossenen und sich ausschließenden Gruppen selten bis nie dauerhaft überschreitet?

Lehrstück vom forcierten Einverständnis

Will man das wirklich? Und: Was hatte man sich bloß dabei gedacht? Zu fünfunddreißigst drängeln sich die Leute im Wohnzimmer einer Villa in Dresden-Blasewitz, um dem heimischen Paar dabei zuzuschauen, wie es sein wechselseitiges Vertrauen spielerisch auf die Probe stellt. Das wenigstens scheint die Absicht der drei Performer*innen der dänischen Theatergruppe Fix & Foxy. Ziemlich getreulich dem Plot folgend, leiten sie das Ehepaar S. und U., mit Fragen und Textvorsagen durch Henrik Ibsens "Nora".

dollshouse 560 fixfoxy uNora & Helmer aus Henrik Ibsens Ehedrama "Ein Puppenhaus" wohnen jetzt in Dresden-Blasewitz © FixFoxy

Das halb ahnungslose Paar, das Stück und Ablauf der Unternehmung vorher nicht kannte, folgt willig. Die Lehrerin und der Firmenberater beantworten klaglos die halb inquisitorisch, halb therapiehaften Fragen der Performerinnen, die Publikum und Spielende wie sinistre Zeremonienmeister an der Nase durch das von ihnen inszenierte Geschehen führen. Die Zuschauer tanzen wie ihnen geheißen, trinken wie ihnen geheißen, ziehen durchs Erdgeschoss der Villa den wechselnden Schauplätzen folgend, wie ihnen geheißen.

Am Ende verlässt Nora / S. ihr Puppenhaus, in dem sie sich den gierig voyeuristischen Blicken der Zuschauer ausgesetzt hatte. Nicht erst als die beiden Hausbewohner zur finalen, versöhnlichen Umarmung ansetzen, wäre der Zuseher am liebsten durchs offenstehende Fenster in den Garten entwichen. Falls das Ziel dieses Blasewitzschen Lehrstücks vom Einverständnis die Erzeugung selbstreflexiver Fremd- und Eigenscham gewesen sein sollte, hat es sein Ziel erreicht.

 

Lecture: OUR WAY – Scotland
mit Simon Sharkey (National Theatre of Scotland)

A Doll's House (Nora oder Ein Puppenheim)

nach Henrik Ibsen
Konzept & Original-Regie: Tue Biering & Jeppe Kristensen, Regie Dresden: Pelle Nordhøj Kann, Produktionsleitung: Annette Max Hansen.
Mit: Paul Sebastian Mauch, Cassie Raine, Benjamin Samuels u. a.

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Lesen Sie hier den Auftaktbericht zur Eröffnung des 4. Europäischen Bürgerbühnen Festivals "Our Stage" in Dresden.

Mehr zu den Bürgerbühnenfestivals: Das 3. Bürgerbühnenfestival fand 2017 in Freiburg statt und widmete sich der Zusammenarbeit von Profis und Laien. Zum 2. Festival 2015 in Mannheim dachte Jens Roselt für uns über die Bürgerbühnen nach.

 

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